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„Ich möchte wetten, daß in einer Stunde alles vorüber ist. Man sieht das nicht alle Tage, Bester. Der letzte namhafte Eisstoß ging vor achtzehn Jahren, anno fünfunddreißig. Ich warte!" „Dann nur die Geduld nicht verlieren, lieber Schweizer. Heute abend also — du, dort kommt der Hartfeld!" unterbrach sich der Sprechende im Flüster töne. „Aber den hat es ordentlich mitgenommen." Schweizer wandte sich unauffällig um, und sein Blick begegnete dem eines stattlichen Mannes, der raschen Schrittes auf dem Fahrwege der Brücke dahin eilte. Unter der plaudernden, erwartungsvollen Menge war eine allgemeine Bewegung entstanden. Aller Augen hatten sich von der Eisdecke des Stromes ab gewendet, um dem Manne nachzusehen; man flüsterte sich zu, und die Gesichter drückten Ueberraschung und Neugierde aus. „Er hat mich gesehen", sagte Schweizer etwas verlegen; „muß ihn doch begrüßen; könnte sonst meinen .... Vergnügte Feiertage, Freund!" Bald hatte er den Eilenden eingeholt. „Grüß Gott, Hartfeld!" sagte er halblaut. „Ich darf dich also beglückwünschen?" „Die Sache ist beim alten", entgegnete dieser gepreßt. „Aber du wurdest doch —" „Ich wurde freigesprochen, ja!" „Dann begreife ich deine finstere Stimmung nicht. Allerdings kann ich mir denken —" „Mich drängt's zu meiner Familie, Schweizer. . . Entschuldige!" sagte Hartfeld, und in Ton und Ge- berde lag eine so bestimmte Abfertigung, daß sich der gutmütig aussehende Herr nach einem stummen, ver legenen Gruße zur Brücke zurückwandte. Georg Hartfeld war Prokurist der Firma Karl Lorenz, eines angesehenen Handelshauses in Ingolstadt. Sohn eines Offiziers, sollte er nach dem Willen des Vaters die militärische Laufbahn einschlagen und war bereits Junker, als ihm einiger unüberlegter jugend licher Streiche wegen die Aussicht auf Beförderung abgeschnitten wurde. Sein Vater, der pensionierte Oberst Hartfeld, starb bald darauf, und au dessen Sterbebette vollzog sich im Innern des jungen Mannes eine Wandlung zum Besseren, die eine dauernde sein sollte. Er entschloß sich zum kaufmännischen Berufe und kam durch Vermittlung eines Freundes seines Vaters, des Oberleutnants von Seeberg, als Lehrling in das Handelshaus Lorenz. Durch Fleiß und große Verlässigkeit erwarb er sich das Vertrauen und die Zuneigung seines Prinzipals in so hohem Grade, daß dieser ihm bereits nach drei Jahren die freigewordene erste Buchhalterstelle übertrug und nach Verlauf von weiteren zwei Jahren die Prokura erteilte. Hartfeld galt bei der Damenwelt als ein schöner Mann. Und neben diesem günstigen Empfehlungsbrief standen ihm gewandte Umgangsformen und ein liebens würdiges heiteres Wesen zur Seite. Nachdem er nun eine Stellung errungen hatte, öffneten sich dem ehe maligen Junker — dem Sohne des Obersten Hartfeld, die ersten Kreise der Stadt. Gelegentlich eines Kränz chens im Offizierkasino lernte er die Tochter des inzwischen zum Obersten vorgerückten Herrn von Seeberg kennen und kam dann wiederholt in dessen Familie, v. Seeberg war seit dessen Witwer. Wer ihn nicht näher kannte, hielt ihn für einen verschlossenen Charakter. Ein Mitkämpfer in Deutschlands schweren Tagen, war er auch die langen Friedensjahre hindurch, die den Befreiungskriegen folgten, Soldat mit Leib und Seele geblieben und widmete sein ganzes Denken militärischen Angelegenheiten. Von Natur aus mißtrauisch, wurde er infolge einer Unterschlagung, die sich ein Kassenverwalter zu Schulden kommen ließ und für die er als früherer Bataillons kommandeur aufzukommen hatte, zum ausgesprochenen Pessimisten. Sein einziges Kind Marie liebte er zärtlich. Noch nicht vier Jahre alt, verlor das Mädchen die Mutter und kam dann zu einer nahen Verwandten, die das Kind äußerst streng und einseitig erzog. Marie war eine schöne, stolze Erscheinung, aber ihr tadelloses Gesicht verunschönte ein hochmütig-eisiger Zug. Sie ließ sich bei allen öffentlichen Gelegenheiten ein unnah bares Benehmen angelegen sein und hielt jede junge Dame, die ihrer Natur weniger Zwang auferlegte, für albern oder kokett. Trotz der Verschiedenheit ihrer natürlichen Anlagen entwickelte sich zwischen Hartfeld und Fräulein von Seeberg eine Neigung, über deren Grad sich allerdings keines der Beiden im Klaren war. Der junge Mann, der noch niemals geliebt hatte, betrachtete Marie als ein kaum zu erringendes Ideal. Ihr stark ausgeprägtes Standesgefühl imponierte ihm. Oberst von Seeberg machte anfangs seiner Tochter gegenüber Einwendungen, schließlich aber flößte ihm der solid gewordene Sohn des Jugendfreundes selbst Interesse ein, und so wurde Marie binnen Jahresfrist Hartfeld's Frau. Das junge Paar gründete sein Heim in der geräumigen Wohnung des Obersten und es gestaltete sich ein freundliches Familienleben, das ein glückliches genannt werden konnte, als ein Söhnchen ins Haus kam, dem ein Mädchen folgte. Da hielt plötzlich das Unglück in der furchtbarsten Gestalt seinen Einzug. Hartfeld kam eines Tages ins Geschäft und machte die Entdeckung, daß in der vorübergehend unter seiner Verwaltung befindlichen Kasse zehntausend Gulden fehlten. Das Kaffenlokal und die Kasse selbst fand er regelrecht verschlossen. Der Geschäftsherr war auf einige Tage verreist, und da in nächster Zeit ein größerer Geldverkehr zu erwarten stand, so übergab er die Schlüssel an Hartfeld, der sein unbegrenztes Vertrauen besaß. Letzterer hatte nach einer größeren Einzahlung am Abend zuvor den Kassenbestand gestürzt und in Ordnung gefunden, und nun fehlten zwei Pakete bayerischer Zehn-Guldennoten zu je fünftausend Gulden, während die Wertpapiere und das Silber vollzählig vorhanden waren. Hartfeld, der wöchentlich einmal in Gesellschaft zu gehen pflegte, war in fraglicher Nacht zuhause gewesen und trug die zum Kassenlokal und zur Kasse gehörigen Schlüssel, in einer Ledertasche verwahrt, bei sich. Die Möglichkeit einer Entwendung und unbemerkten Wiederzustellung der Schlüssel schien hier nach ausgeschlossen. Die Ausführung des Diebstahls war nur einem im Geschäft bediensteten, mit der Oertlichkeit vollkommen vertrauten Individuum möglich gewesen. Hartfeld kannte jedoch niemanden, dem er diese Tat zutraute. Das Personal bestand durchweg aus Leuten, welche seit vielen Jahren treu im Geschäfte gedient, und ihr gutes Auskommen hatten und die ihren Prinzipal liebten und verehrten. Und doch war das Geld entwendet! Hartfeld stand vor einem un lösbaren Rätsel. Er erstattete sofort bei der städtischen Polizei und beim Untersuchungsrichter Anzeige, und als zwei Tage später der Geschäftsherr von seiner Reife zurückkehrte, war die Untersuchung bereits im vollsten Gange. Kaufmann Lorenz vernahm die unangenehme Nach richt mit großen Schrecken. Die Untersuchung hatte bis dahin zu keinem Ergebnis geführt und schien aus sichtslos zu bleiben. Auf dem gesamten Geschäfts personal lastete eine beengende Schwüle. Lorenz würde zu dem empfindlichen Verlust noch ein großes Opfer gebracht haben, wenn der Diebstahl dadurch aufgeklärt worden wäre. Er mußte unter den gegebenen Um ständen gleich Hartfeld annehmen, daß der Dieb unter seinem Personal stecke, verwarf jedoch, als er jede einzelne Person desselben sich vergegenwärtigte, diesen Gedanken ebenfalls wieder. Da tauchte plötzlich ein Gerücht auf, das unter dem Siegel der Verschwiegenheit der Stadt durchflog: Hartfeld sei ein Spieler, der in der jüngsten Zeit wieder ziemlich hohe Summen verloren habe. Wer die unselige Erfindung zuerst in die Welt gesetzt hatte, wußte niemand. Unter dem unangreifbaren „man sagt" ging sie von Mund zu Mund, und in allen Köpfen begann es zu tagen. Es war ja sonnenklar: der ehemalige leichtsinnige Junker — seine tollen Streiche — Natur bleibt Natur und kommt immer wieder zum Vorschein. Wie konnte man nur einen Augenblick über den Täter in Zweifel sein! Lorenz erfuhr das Geheimnis durch einen be freundeten Geschäftsmann. Er war wie vom Donner gerührt und mit Schmerz und Entrüstung lehnte er sich dagegen auf; allein — das Gift saß im Blute. Von dem entsetzlichen Verdachte hatten, wie es in der Regel zu gehen pflegt, die zunächst Beteiligten keine Ahnung. Hartfeld grübelte Tag und Nacht über den Vorfall, und da die Untersuchung auch nach einer weiteren Woche nicht den geringsten Anhaltspunkt zu Tage gefördert hatte, befiel ihn nach und nach eine nervöse Unruhe, die ihn fast arbeitsunfähig machte. Eines Abends erschien ein Polizeibeamter in seiner Wohnung und kündigte ihm in höflicher Form seine Verhaftung an. Der unglückliche Mann, der mit seiner Familie gerade beim Abendessen saß, war momentan wie gelähmt. Seine Frau stieß einen Schrei aus und drohte vom Stuhle zu sinken, und der Beamte eilte ihr, gleichzeitig mit Hartfeld, zur Hilfe. „Das ist ja ein nichtswürdiger Verdacht!" rief Hartfeld, seine Fassung wieder gewinnend, mit flam mender Stirne. „Herr Lorenz kann unmöglich —" „Ich erfülle lediglich meinen Auftrag", unterbrach ihn der Beamte ruhig; „wünsche aber aufrichtig, daß ein Mißgriff vorliegen möchte." Oberst von Seeberg trat in diesem Augenblicke ein. Auf den ersten Blick hatte er die Situation erkannt. Er war ein paar Augenblicke sprachlos vor Entsetzen, und sein Gesicht schien um Jahre gealtert. „Fasse dich, Marie", sagte er zu seiner Tochter, die völlig gebrochen in einem Lehnstuhle lag. Seine Stimme zitterte. „Wie ist dieser Vorgang möglich?" wandte er sich streng an seinen Schwiegersohn. Durchbohrend ruhte sein Blick auf dem jungen Manne. „Ich weiß es nicht, Vater!" „Warum wird mein Schwiegersohn verhaftet, Herr Offiziant?" „Diese Frage, Herr Oberst, bitte ich an den Herrn Untersuchungsrichter zu richten. Ich bin beauftragt, den Prokuristen Georg Hartfeld nach eingebrochener Dunkelheit zu verhaften." „Kommt in meine Wohnung, Kinder!" rief der Oberst, indem er das zweijährige Mädchen, ein herziges Blondköpfchen, auf den Arm nahm. Er würdigte seinen Schwiegersohn keines Blickes mehr und verließ nach einer leichten Verbeugung gegen den Offizianten rasch das Zimmer. In Hartfeld's Gesicht schoß eine Blutwelle; seine Lippen bebten. Marie hatte sich langsam erhoben und schwankte gleichfalls der Türe zu. Der dreijährige Knabe blieb am Tische sitzen und blickte mit den großen dunkeln Augen unverwandt auf den fremden Mann. „Beruhige dich, Marie", wandte sich Hartseld, seine eigene Aufregung bemeisternd an seine Frau; „es liegt ein Irrtum vor. Hoffentlich komme ich heute Abend noch zurück." „Oh — es ist alles aus!" entgegnete sie mit matter Stimme und den Blick zu Boden gesenkt. „Marie du glaubst doch nicht . . ." „Mir ist der Kopf ganz wirr, ich kann nicht mehr denken . . . nein, nein — ich will nicht sehen, wie du abgeführt wirst! . . . Komm, Kind, du auch nicht! Komm, fort, fort!" In die gebrochene Gestalt war mit einem Mal Leben gekommen. Als ob sie ihn vom Flammentode erretten wollte, stürzte sie auf deu Kleinen zu, schloß ihn in die Arme und eilte hastig mit ihm hinaus. Der unglückliche Mann stand wie vernichtet! Sein Gesicht war leichenblaß. Mechanisch griff er endlich nach Hut und Mantel und verbeugte sich, die Türe öffnend, gegen den Offizianten. „Ich bin bereit", sagte er tonlos. Am 23. Dezeniber 1853 fand am Bezirksgericht Aichach, zu dem das Landgericht Ingolstadt damals gehörte, die Verhandlung Hartfeld's statt. Es war der letzte Termin vor den Weihnachtsferien. Der stattliche Mann erregte im Gerichtssaal all gemeine Teilnahme. Seine ausdrucksvollen Augen waren leicht umschleiert, und um die Mundwinkel lag ein herber, schmerzlicher Zug. Ein brauner Vollbart umrahmte sein edles, männlichschönes Gesicht, das wie nach langer Krankheit eingefallen war. Der in Schnitt und Stoff den Mann der guten Gesellschaft kennzeichnende Anzug war infolge einer dreimonatlichen Untersuchungshaft stark heruntergekommen und bildete einen peinlich wirkenden Gegensatz zu seinem Träger. Das Gerücht, das Hartfeld zum Hazardspieler stempelte, und den Hauptbeweggrund zu seiner Ver haftung bildete, hatte sich bei der weiteren Untersuchung als unbegründet erwiesen. Kaufmann Lorenz sprach mit großer Wärme zu gunsten des Angeklagten, und die freimütigen ruhigen Darlegungen Hartfeld's wirkten überzeugend auf die Richter. Die Verhandlung nahm nur kurze Zeit in Anspruch und endete wegen Mangels an Beweisen für die Schuld des Angeklagten mit dessen Freisprechung. Der Diebstahl blieb jedoch unaufgeklärt, und Hartfeld verhehlte sich nicht, daß der einmal gefaßte Verdacht trotz des richterlichen Spruches nicht aus der Welt zu bannen sein und ein Fluch auf ihm lasten werde, so lange der Täter unentdeckt blieb. Und doch beschlich ihn ein wonniges Gefühl, als er das Gerichts gebäude verließ und die mit Glatteis bedeckte Straße betrat. Fortsetzung folgt. Nachrichten des K.Standesamtes zu Reichenbrand vom 13. bis IS. Januar 1906. Geburten: Dem Schlosser Georg Max Gruner in Siegmar 1 Mädchen; dem Former Robert Emil Thost in Siegmar 1 Knabe; dem Eisendreher Paul Otto Melzer in Reichen brand 1 Mädchen; dem Revolverdreher Max Otto Seifert in Reichcnbrand 1 Mädchen; dem Werkführer Ernst Emil Jahn in Siegmar 1 Mädchen. 'Aufgebote: Vakat. Chefchließungen: Vakat. Sterbefälle: Der Handarbeiter Karl August Friedrich Aurich in Reichenbrand, 70 Jahre alt; dem Tischler Arthur Böhm in Reichenbrand 1 Tochter, 5 Monate alt; der ledigen Strickerin Anna Lina Reißig in Siegmar 1 Tochter, 2 Mo nate alt. Grpeditionszeit des Standesamtes. Wochentags: 8—12 Uhr Vorm, und 2—6 Uhr nachm. Nachrichten des Kgl. Standesamtes Rabenstein vom 12. bis 18. Januar 1906. Geburten: 1 Sohn dem Handarbeiter Oswald Max Acker mann, 1 Tochter dem Zimmermann Ernst Emil Gersten berger, dem Feuermann Georg Albert Schlegel, sämtlich in Rabenstein; 1 Sohn dem Fabrikarbeiter Karl Ernst Meier, 1 Tochter dem Modellverwalter Gustav Emil Meisgeier, sämtlich in Rottluff. Eheaufgcbote: Der Eisenfraiser Albin Bruno Schulze in Reichenbrand mit Anna Valeska Koch in Rabenstein. Eheschließungen: Der Eisenhobler Robert Richard Hösel in Schönau ch. Chemnitz mit Johanna Paula Eichler in Chemnitz, vorher in Rabenstein. Sterbefälle: 1 Sohn dem Handarbeiter Emil Eduard Gundermann, 10 Tage alt; 1 Sohn der ledigen Handschuh strickerin Emma Elsa Teichmann, 2 Monate alt, in Rabenstein. Geschäftszeit. Wochentags: 8—12 Uhr vorm. und 2—6 Uhr nachm. Kirchliche Nachrichten. Parochie Reichenbrand. Am 3. Sonntag nach Epiphanias den 21. Januar vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst mit Feier des hl. Abendmahls. Beichte ^9 Uhr. Parochie Rabenstein. Am 3. Sonntag nach Epiphanias den 21. Januar vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst.