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ermattet znsammengesunken war und stoßweise atmete. Wie gut, daß vorläufig alles so glimpflich abgclaufen war! Es waren wilde Gesellen unter den Streiken den gewesen, soviel sie gesehen, denen sie rücksichts loseres Vorgehen zugemutet hatte. In diesem Augenblick erschollen wilde Rufe, Lärmen und Geschimpf von der Straße her und gaben Vater und Tochter Anlaß zu neuer Besorgnis. Vom Fenster aus sah Thilda einen dichten, tobenden Menschen knäuel, aus dem die Helme mehrerer Schutzleute auf blitzten. „O Gott, Vater," rief sie, „die Polizei ist da." Der Knäuel löste sich. „Zwei Zimmerleute sind ver haftet. Sie tragen sogar Handschellen." „Das kommt unerwünscht," stöhnte Nenmann. „Jetzt ist viel verloren, die Leute sind erbittert. Man hätte sie ruhig ihres Weges ziehen lassen sollen. Einstweilen müssen wir zuwarten, bis sie Abgeordnete schicken. — Nun, Hasselbeck," rief er dem Eintretenden zu, „wer hätte das gedacht! Hatten Sie keinerlei Ahnung vom Streik?" „Keinen Schein," beteuerte der Prokurist. „Jetzt haben wir die Leute im Winter, wo es eigentlich keine Arbeit gibt, im Lohn gehalten, und jetzt, da die Bau saison beginnt, streiken sie. Undank ist der Welt Lohn." „Nun, nun, nicht so alle in Bausch und Bogen aburteilen, lieber Hasselbeck. Vielleicht geht die ganze Bewegung nur von ein paar Schreiern aus, die die andern verführt haben. Ich habe ihnen gesagt, daß sie Deputierte schicken sollen. Wenn die Polizei nicht eingeschritten wäre, stünde die Sache für uns besser." „Das sehe ich jetzt auch ein," meinte Hasselbeck kleinlaut. „Sie haben also die Schutzleute holen lassen?" „Ach Gott ja, Herr Neumann. Ich war so in Sorge um Sie und das Fräulein, ich —." Johann Wilhelm lächelte und reichte dem treuen Beamten die abgezehrte Hand über die Pelzdecke. „Es war ein Fehler, der nicht mehr zu ändern ist, Hasselbeck," sagte er nachdenklich. „Aber dennoch danke ich Ihnen, denn Sie handelten so zu meiner und meiner Tochter Sicherheit. Nun gehen Sie — etwas Besonderes liegt nicht vor im Geschäft? Nein? Gut denn — wenn Streikende kommen, ganz ruhig und freundlich. Verstehen Sie? Schärfen Sie das auch Schefer ein, ich bitte Sie darum." „Thilda, ich muß Ruhe haben," bat er darauf, als sich die Tür hinter dem Prokuristen geschlossen hatte. „Ich werde versuchen ein wenig zu schlafen. Du bleibst, aber bei mir, Kindchen, gelt?" „Gewiß doch, Väterchen," versuchte sie liebevoll. „Ja, ich danke Dir. Aber wenn die Arbeiter jemanden schicken, der mit mir sprechen will, mußt Du mich unweigerlich wecken. Das versprichst Du mir?" „Ja, ja," antwortete Thilda „Sei gänzlich un besorgt. Denk' an nichts mehr nnd ruhe." Sie selbst setzte sich mit einem Buche dem Genesenden gegenüber, der sofort in Schlummer fiel. Aber es fehlte ihr die innere Ruhe; bald ließ sie das Buch nachdenklich in den Schoß sinken und gab sich ihren Gedanken hin. Es war totenstill im Hause; nur in der Küche klirrten Geschirre, und in der Mahagonitäfelung knackte es leise. Draußen lärmten die Vögel noch wie zu vor, lachte der Garten im Frühlingssonnenschein, ein vorzeitiger Citronenfalter gaukelte so leichtfertig um die blühenden Mandelbäume, als ob Sommer wäre. 'Thilda seufzte tief auf und fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Ach Gott, der Gegensatz zwischen dem Frühlingsjubel, der frisch blühenden Pracht draußen und den traurigen Gedanken, die ihr Herz bis zum Ueberlausen anfüllten, war zu schmerzlich. Wenn sie heute in der Frühe in der Freude über die fortschreitende Genesung ihres Vaters fast vergessen hatte, was sie quälte, so hatte sie der häßliche Auf tritt, der sich soeben ereignet hatte, dem beseligenden Vergessen entrückt und wieder mit wachen Sinnen in die grausame Wirklichkeit versetzt. Sie mußte an die Mutter denken, an Hans. Ihr weiches Herz trng die Abwesenheit der Angehörigen schwerer als der gestählte Sinn des Vaters. Ihn hatte der Schlag zu Boden geschmettert, er aber hatte sich wieder emporgerungen, hatte überwunden und sich mit der Neugestaltung seines zukünftigen Lebens abgefunden. Sie war vom Kummer zwar nicht niedergedrückt worden, aber er nagte dennoch an ihr mit nie rastendem Zahn und würde sicherlich auf die Dauer erreichen, was ihm beim Vater nicht gelungen war: er würde sie ins Grab bringen, so fürchtete sie. Keine Mitteilung, kein Brief sagte ihr, wie Jene lebten; bei Papa durfte sie die Nameu von Mutter und Bruder nicht über die Lippen bringen. Durch den alten Schefer hatte sie sich beim Bankier erkundigen lassen, wo die Mutter zuletzt Geld erhöbe» hatte. Hiernach weilten sie in Südfrankreich. Der alte Schefer war ihr überhaupt sehr gefällig gewesen in all der Zeit, die der Vater mit dem Tode gerungen hatte, war gern und willig zu kleinen Ein käufen und Bestellungen ansgegangen, wenn sonst gerade Niemand zur Hand war, und hatte jeden Dienst mit lächelndem Gesicht verrichtet, als ob es eine Be lohnung für ihn gewesen sei. Dabei hatte er nicht selten bis Mitternacht im Kontor gearbeitet, wo man die riesige Arbeitskraft Johann Wilhelms überall und in jedem Augenblick entbehrte, da das Geschäft in den letzten Jahren außerordentlich an Ausdehnung gewonnen hatte. Einmal hatte ihr der Buchhalter erzählt, wie er mit ihrem Vater bekannt geworden war. Tränen waren ihm dabei die runzligen Wangen hinabgelaufen, und auch sie war gerührt gewesen über die Dankbarkeit des alten Mannes. Seitdem ließ sie sich auch stets bei Gelegenheit die kleinen Ereignisse, die Freuden und Leiden erzählen, die in seiner Familie vorfielen, hörte mit Bedauern, daß die Kräfte seiner Frau stetig abnahmen, mit unverhohlener Freude, wie gut sich die Kinder machten — besonders Heinrich, über den sein Vater sich stets in Lobreden erging. So ein gutes Kind sei er gar nicht wert; seinen Eltern sehe er jedweden Wunsch an den Augen ab, die Ge schwister seien vernarrt in ihn, im Geschäft sei er der Tüchtigsten einer, ja, Herr Paulsheim wolle ihn sogar im nächsten Herbst auf seine Kosten zur technischen Hochschule schicken. Der Junge werde noch einmal sein Glück machen, so viel sei gewiß. Sie hatte den Vielgelobten letzthin öfter gesehen und gesprochen, da er häufig ins Kontor gekommen war, um seinem Vater einen Teil der Arbeitslast ab zunehmen. Sie hatten zwar nur flüchtige Worte gewechselt, und immer hatte sie die Sorge um den Vater von dessen Befinden sprechen lassen; dennoch war das kurze Beisammensein für sie stets ein Licht strahl in ihrem ernsten, düsteren Leben, war es ihr doch, als ginge ein besonderer Einfluß von der festen, starken Persönlichkeit des Jugendfreundes aus. Seines Wertes bewußt und trotzdem bescheiden und zurück haltend, sah sie ihn ohne Zaudern und Wanken freudig seinen Pflichtweg schreiten und fühlte sich ermutigt, ihm nachzuahmen. Wenn Stunden kamen, in denen sie die Sorge um den Kranken, und die Trauer um den lieblosen Schritt von Mutter und Bruder zu über wältigen drohten, genügte die bloße Erinnerung an den Jugendfreund, sie aufzurichten. Sie war zu harmlos, um sich durch diese Erscheinung beunruhigen zu lassen, sie nahm dieselbe hin, wie sie sich darbot und dachte nicht im geringsten daran, nach den Gründen derselben zu forschen. „Thilda!" Der Vater hatte ihren Namen genannt. Ein Blick belehrte sie, daß er noch ruhig schlummerte; er hatte also von ihr geträumt! Es erfüllte sie zu gleich mit Freude und Wehmut. Sie war ihm in seiner Vereinsamung noch näher getreten wie früher M k!^ 'M' We Kameraden standen sie im Leben. Wenn nun einmal dies Band sich löste, wenn — ja, wenn sie hinauszöge in die Welt? Aber nein, sie würde immer beim Vater bleiben, der ihrer so sehr bedurfte, sollte sie auch als alte Jungfer sterben müssen. Wie vortrefflich der Vater schlief! Schon ging es auf Mittag, und er erwachte noch nicht. Ordentlich rote Backen hatte er sich geschlafen. Langsam und sorgfältig zog sie den grauen, rotgemusterten Leinen vorhang zusammen, da vom südlich gelegenen Garten greller Mittagssonnenschein hineinflutete und fast das abgemagerte Gesicht des Genesenden streifte. Wenn nur der Streik ohne weitere Erregung für ihn ab laufen würde! Nun ihr die Besorgnisse des Augenblickes wieder in den Sinn gekommen waren, lebte die innere Un ruhe neu auf und ward um so lebendiger, als sie vorher durch andere Gedanken in den Hintergrund gedrängt gewesen war. Da klopfte es schon an der Tür, und Hasselbeck trat hastig ins Zimmer. „Er schläft noch!" flüsterte sie und ging, auf den Fußspitzen dem Prokuristen entgegen. Sie wagte nicht zu fragen, welcher Grund ihn herbeigeführt hatte; sein bleiches Gesicht, der unruhige Blick sprachen beredt genug. „O Fräulein, Fräulein, was soll das geben!" Sie rückte einen Stuhl in seine Nähe und fragte erbleichend, wie es mit dem Streike stünde. „Gott sei's geklagt, schlecht genug," jammerte Hasselbeck. „Auf dem Stätteplatz am Hafen, wo das Bauholz uud die anderen Materialien lagern, wo die Zimmerer ihre Arbeitsstelle haben, rottet sich alles zusammen. Auch von den Bauten in den Außenorten kommen die Maurer herein. Arbeitsscheues Gesindel hat sich ihnen beigesellt, Drohungen verlauten — Schefer war draußen. Wenn ich Unglücksmensch doch nur nicht heute Morgen die Polizei herbeigerufen hätte! Ein Teil der Streikenden sei schon betrunken, sagte Schefer, und das wird nun von Stunde zu Stunde schlimmer. Die Leute sind in der Trunkenheit fähig, Feuer an die Holzstapel zu legen." Thilda sah dem Unglücksboten ratlos in's Gesicht. „Was ist da zu machen, Herr Hasselbeck?" „Wir haben die Polizei gebeten, vorläufig sich auf die Beobachtung der Streikenden zu beschranken. Im übrigen sind wir ratlos. Wir müssen Herrn Neumann wecken. Er hat es mir selbst anfgetragen," setzte er schnell hinzu, als er die abwehrende Haltung Thildas bemerkte. „Es tut mir ja selbst leid, gnädiges Fräulein, aber es muß etwas geschehen, und "die Zeit drängt. — Aber er ist ja überhaupt schon wach, sehen Sie nur!" Johann Wilhelm öffnete in der Tat eben die Augen. „Ah, Hasselbeck," rief er gähnend uud noch schlaftrunken, als er seinen Prokuristen im Zimmer sah. „Sie kommen mit Nachrichten, und daß sie nicht günstig lauten, sehe ich Ihnen an. Frischweg erzählt, was Sie wissen!" Und Hasselbeck erledigte ausführlich seinen Bericht, während Neumanns Züge tiefen Ernst und Besorgnis ausdrückten. Sie überlegten hin und her. Hasselbeck hielt strenge Maßregeln für die geeignetsten, inan solle durch die Polizei die Streikenden auseinandertreiben lassen. Wenn dann auch der Betrieb einige Zeit still liegen müsse, könne man sich dennoch schnellen und vollwertigen Ersatz für die mangelnden Arbeitskräfte aus Belgien oder dem nahen Holland schaffen. „Es widerstrebt mir," meinte Johann Wilhelm, „die Beziehungen zu den Arbeitern abzubrechen. Es sind nur ein paar Schreier, die die Anderen betört haben. Wenn ich die Leute fallen lasse, geraten viele Familien in Not und Elend. Oder noch schlimmer, sie lassen sich in diesem Falle aus Zorn über die Vernichtung ihrer Hoffnungen zu Gesetzwidrigkeiten Hinreißen und machen sich vielleicht für ihr Leben lang unglücklich. Zudem habe ich ihnen mein Wort gegeben, ihre Beschwerden anzuhören. „Aber sie senden ja keine Deputierten!" warf Hasselbeck mißmutig ein. „Und wer weiß, was in zwischen auf dem Stätteplatze geschieht!" „Wissen Sie was, Hasselbeck?" fragte Neumann plötzlich lebhafter werdend. „Sie lassen jetzt Er kundigungen einziehen, wie es dort steht — uud je nachdem die Sachen liegen, fahre ich selbst hinaus und spreche mit den Leuten ein vernünftiges Wort." „Nein, o nein, Vater," rief Thilda erschreckt. „Das geht nicht. Du bist noch ein Kranker. Der Arzt hat Dir ja noch nicht einmal erlaubt, im Freien zu sitzen. Und dann allein unter die aufgeregten Arbeiter — es ist einfach undenkbar." Auch Hasselbeck schüttelte den übergroßen Kopf. „Und doch geschieht es," sagte Johann Wilhelm entschieden. „Das ist mein fester Entschluß. Lassen Sie sofort am Stätteplatz nachfragen, Hasselbeck. Und Du, Thilda, laß das Mittagessen anrichten." — Das war eine schweigende Mahlzeit! Wie Gewitter schwüle lastete es auf dem erschreckten Gemüte des Mädchens. Der Vater sprach kein Wort und war ganz ruhig, schien sogar froh. U^d es war auch eine wärmte, die Freude darüber, Verirrte wieder auf den rechten Weg leiten, von Einzelnen und von ganzen Familien nahes Unglück abweuden zu können. Ob er vor der Krankheit in gleicher Weise gehandelt haben würde? Es war möglich, vielleicht gewiß. Aber er handelte jetzt so aus höheren Beweggründen: er wollte nicht nur mehr wie früher Gutes tun, wo es ihm beliebte, sondern wo er' es vermochte. Es sollte der Beginn der Sühne für seine Schuld sein. Und wenn wirklich seiner schwachen Gesundheit oder gar seinem Leben in den nächsten Stunden Gefahr drohte — was galt es ihm jetzt? Wenn himmelische Fügung sein Leben als Opfer anuehmen wollte, nachdem sie es ihm kaum neu geschenkt, so wollte er gewiß nicht klagen und es geduldig hinnehmen, denn seine Schuld war groß. Nach Tisch kam Hasselbeck mit dem Bericht, die Leute tobten und rasten. Es sei kein Wort mit ihnen zu reden. Neue Verhaftungen seien vorgenommen worden, nachdem man den Platzausseher halbtot geschlagen habe. Eben werde Militär von der Garnison aus requiriert. „Es wird Zeit," sagte Johann Wilhelm entschlossen. Hasselbeck riet nochmals ab — selbstverständlich ver gebens, und zog sich fast weinend zurück. Thilda schlang die Arme um den Vater und brach in Tränen aus. „Geh' nicht, geh' nicht!" flehte sie unaufhörlich. „Aber es ist meine Pflicht, Kind!" — „Dann nimm mich wenigstens mit Dir!" ^Johann Wilhelm umfaßte seine Tochter mit liebe vollem Blick. „Mein mutiges Mädchen!" flüsterte er, von Rührung überwältigt, „Dein Wunsch sei gewährt!" August kam und meldete, es sei angespannt. Er half Thilda, seinen Herrn vollständig anzukleiden uud trug ihn zum Wagen, vor dem die mutigen Vollblut pferde ungeduldig scharrten uud den Boden stampften. Klatschend fiel der Wagenschlag in's Schloß, die Pferde zogen an, und der Wagen rollte stadtwärts. Hasselbeck stand am Kontorfenster, die Feder hinter dem Ohr. Heute konnte er nicht arbeiten, sogar der nimmermüde Schefer nicht, der rastlos im Zimmer auf und ab wanderte, von der Flurtür bis zur Glas tür des Neumann'schen Privatkontors. Im Vorbei gehen fuhr er mit dem spitzen Finger Uber den Tür griff und zog ihn schwarz von Staub zurück. Würde jemals die Messingklinke vom Gebrauch wieder blank werden, oder —. Ein Schauer durchlief seinen hageren Leib, und plötzlich wuchs die Furcht in ihm riesen groß, daß er zu zittern begann. „Sagten Sie etwas?"