Volltext Seite (XML)
durchnäßt und hungrig. Er hatte erst den dritten Teil des Weges zu seinem Ziele zurückgelegt, und da ihn eine große Sehnsucht nach seiner Familie trieb, entschloß er sich schweren Herzens zum Uebernachten. Aus einem an der Landstraße gelegenen Wirts hause klangen die Töne einer Flöte. Von dem Weichen, melodischen Spiele angezogen und in der festen Hoffnung, hier keinem Bekannten zu begegnen, betrat er die große, niedere Wirtsstube. Diese war für ländliche Verhält nisse gut besetzt. Die Leute saßen rauchend und den Brand ihrer Tabakspfeifen mit Zunder oder Kienspan unterhaltend, um die großen, eichenen Tische, auf welchen Talglichter und kleine Oellämpchen brannten. Ein starker Tabaksqualm war gleichmäßig in dem matt erleuchtenden Raume verteilt. Die anwesenden Gäste unterhielten sich lebhaft und blickten dabei immer wieder auf eine seltsame Menschengruppe, die auf einer mäßigen Erhöhung im vorderen Teile der Stube ihren Sitz hatte. Es waren zwei Greise mit schneeweißen wallenden Bärten und mit ernsten sympathischen Zügen, die unter der Be zeichnung „Die weißen Sänger" im Lande umherzogen. Das meiste Interesse erweckte jedoch ein weißge kleidetes Mädchen, das mit künstlerischer Vollendung die Flöte blies. Ueppiges, tiefschwarzes Haar, das aufgelöst über die Schultern fiel, ließ die Farbe ihres leidend blassen Gesichtes weiß wie Marmor erscheinen, und der Glanz ihrer großen, träumerischen Augen schien in eine andere Welt hinüberzustrahlen. Hartfeld erhielt in der Wirtschaft Nachtquartier und nahm an einem freien Tische, der Sängergruppe gegenüber Platz. Die einfachen, gemütvollen Volkslieder der beiden Greise und die Flötenvorträge des schönen Mädchens fanden ein dankbares Publikum. In Hartfeld erweckte das einschmeichelnde Spiel eine Flut von Erinnerungen. Mit halbgeschlossenen Augen saß er in die Bank zu rückgelehnt, die Gegenwart vergessend, und träumte. Der trauliche Raum, in dem er seine Kindheit ver lebt hatte, tauchte vor seinem Geiste auf. Die Mutter saß neben ihm. Er glaubte ihre Hand zu spüren, wie sie leise über seine Haare strich, und den kosenden Hauch ihres Mundes auf der Stirne zu fühle». Der Klang ihrer Stimme hallte in seinem Innern nach. Der Mutter gegenüber saß der Vater und blies die Flöte. Deutlich sah er ihn vor sich in der blauen Uniform mit den funkelnden Epaulettes, seiner hohen Stirn und dem mächtigen, weitabstehenden Schnurrbart. Auf dem Tische flackerte das Kerzenlicht und der Docht trieb glühende Rosen. Eines Tages aber hörte das Flötenspiel auf — für immer. Jahrelang lag das Instrument auf dem hohen Schrank in der dunkeln Kammer. Die Mutter war schon lange krank gewesen, als er in einer Nacht, vom Vater aus dem Bettchen gehoben und zu ihr hingetragen wurde. Sie war sehr blaß und eingefallen, als sie die mageren, zitternden Hände auf seinen Kopf legte. Und dann trug sich etwas Ungewöhnliches zu — der Vater weinte! Heftig weinte er, sein ganzer Körper bebte und zitterte . . . „Lang, lang ist's her . . hauchte es in sanftem Flötentone. Erregt fuhr Hartfeld empor. Seit seiner Kind heit hatte er die schwermütigen Töne nicht mehr ge hört. Er griff sich an die Stirne und sah hinüber zu der Flötenspielerin, und der rätselhafte Blick des blaffen Mädchens begegnete ernst und voll dem seinen. Und dann beschlich ihn die Sorge. Seine Stelle als Prokurist erachtete er unter allen Umständen als verloren; ebenso war er sich klar darüber, daß er von Ingolstadt fort mußte. Aber wohin? Die Zukunft erschien ihm so schwarz, wie die Nacht im Gefängnisse. Und der Fluch, der auf ihn lastete, er lag ja auch auf seiner Frau und seinen ahnungslosen Kindern. Wie mochte es den Armen ergehen? Er hatte während seiner ganzen Haft nichts über sie erfahren. Seine Briefe blieben alle unbeantwortet. Was mochte der Grund sein? Der sorgengequälte Mann war so sehr in düsteres Grübeln versunken, daß er nicht bemerkte, wie allmählich sämtliche Gäste aufgebrochen waren und außer den Sängern nur er allein noch in der Stube sich befand. „Sie werden von einem bösen Verhängnis ver folgt — armer Mann!" hörte er plötzlich eine leise, melodische Stimme neben sich. Ueberrascht erhob sich Hartfeld. Die bleiche Flötenspielerin stand neben ihm. „Sie wissen . . . waren Sie heute... Sie kennen mich?" fragte er verwirrt. „Ich sehe Sie heute zum erstenmal", entgegnete das Mädchen ruhig, indem es sich Hartfeld gegenüber niederließ. Dieser hatte sich ebenfalls wieder gesetzt und starrte nun, keines Wortes fähig, einige Sekunden auf das schöne, bleiche Mädchen. „Wissen Sie, welches Unglück mich verfolgt?" fragte er endlich aufgeregt. „Nein, das weiß ich nicht", antwortete das Mädchen. Nach einer Weile fuhr es hastig und abgebrochen weiter: „Sie sind unschuldig . . . alles ist gegen Sie . . . überall Nacht! Ach Gott, mir träumt ja. Ich hab' Schlaf. Verzagen Sie nur nicht ... oh, verzagen Sie nicht!" Hartfeld glaubte zu träumen. War dies ein mensch liches Wesen neben ihm? Er fuhr sich durch die Haare und grub seine Fingernägel krampfhaft in die Ballen, und als ob er sich noch mehr vergewissern wollte, daß alles Wirklichkeit sei, erfaßte er die Hand des Mädchens. „Und kommt meine Unschuld an den Tag, wunder bares Kind ... und werde ich diese Stunde erleben?" fragte er fieberhaft gespannt. Der Schweiß stand ihm aus seiner Stirne. Die Flötenspielerin entzog ihm langsam ihre Hand und sah längere Zeit in die dunkle Stubenecke vor sich. Ihre Züge wurden mit einem Male belebt, und verworren begann sie: „Ich weiß es nicht. Sie sind unschuldig. Ich glaub', mir träumt; ich bin so schläfrig . . . Auf einer Wiese, bei einem Gebüsch, seh'ich Sie liegen . . . Schlafende Soldaten . . . nein Tote sind's! Auch Sie . . . Auf Ihrer Brust liegt ein kleines Kreuz — ein Orden. Finstere Nacht ... Ein schönes Mäd chen kniet bei Ihnen —" „Kind, du regst dich auf; geh' in's Bett!" sprach in diesem Augenblick eine Männerstimme hinter den Beiden, es war einer der Sänger. „Meine Tochter ist etwas leidend — entschuldigen Sie, Herr!" wandte sich der Alte an Hartfeld. „Sie scheinen ihr Interesse erregt zu haben und sind von ihr vor etwas gewarnt worden — nicht? Nehmen Sie ihr Geplauder nicht ernst, Herr!" Das Mädchen saß gesenkten Hauptes regungslos da; ein Zittern lief durch seinen Körper. Hartfeld hatte sich erhoben, und den greisen Sänger etwas bei Seite führend, fragte er: „Ist Ihre Tochter eine Seherin?" „Sie hat das, was man „Zweites Gesicht" nennt, und — Sie scheinen mir stark aufgeregt, Herr! Mesfen Sie doch den Phantasien des Mädchens keine Be deutung bei! Es sind nichts als krankhafte —" „Bleiben Sie hier, Herr! Nur bis übermorgen bleiben Sie. . . Gehen sie nicht fort!" rief die Flöten spielerin dazwischen. Sie hatte sich rasch erhoben und stand nun, die beiden Hände des jungen Mannes erfassend und mit Todesangst in den Zügen vor den beiden Männern. „Nun ist's aber höchste Zeit, Rosa! Komm — sogleich!" gebot ihr der Vater energisch. „Gute Nacht, Herr!" „Vater", drang das Mädchen im Hinausgehen leise und mit verzweifelter Geberde in den Alten, „laß ihn nicht fort! Morgen geht er zu Grunde! Mein Gesicht von vorhin war falsch; morgen, um diese Zeit geht er zu Grunde . . . hör' doch Vater! Er darf nicht fort, ... laß ihn nicht!" „Armes, krankes Kind, morgen bist du wieder gesund und spielst die Flöte; schlaf aus!" sagte der Alte traurig. Hartfeld hatte von dem Gespräch nichts verstanden. Er begab sich gleich darauf zur Ruhe, konnte aber nicht schlafen. Wenn auch die Worte des Greises, seine fieberhafte Aufregung etwas beschwichtigt hatten, und er die verworrenen Phantasien des Mädchens teils auf zufälliges Erraten, teils auf Krankheit zu rückführte, fo gaben ihm doch dessen letzte Worte zu denken. Er sollte morgen hier bleiben! Morgen war allerdings ein entscheidender Tag! Hatten die Worte, die Ahnungen des Mädchens nicht doch eine Bedeutung für fein künftiges Schicksal? Er gab sich alle Mühe, über das Gehörte nicht weiter nachzugrübeln, allein die Schöne im weißen Kleide trat immer wieder vor ihn. Ob er nun gegen die Wand oder in die vom Monde matterleuchtete Kammer blickte — überall be gegnete er dem von rabenschwarzen Haaren umrahmten Antlitz mit den steinernen Zügen und den rätselhaften träumerischen Augen. Sobald es sich im Hause zu regen begann, stand er auf. Der Morgen dämmerte erst schwach, als er sich auf deu Weg machte. Nach einer Wanderung, auf der ihn die Erlebnisse des vorhergegangenen Abends beschäftigten, gelangte er an eine Stelle, die einen größeren Rundblick gewährte. Er hielt auf dem ebenen, mit Waldungen ver mischten Gelände kurze Umschau und gewahrte in weiter Ferne einen Mann, der ein Tanneubäumchen trug. Da fiel ihm ein, daß heute Christabend war. Un willkürlich beschleunigte er den Schritt. Wie sehnte er sich nach den glücklich leuchtenden Augen und dem seligen Jubel der Kleinen, die er seit drei Monaten nicht mehr gesehen! Gleich darauf aber befiel ihn wieder eine große Beklemmung, ein Angstgefühl. Wie wird er wohl von Marie und seinem Schwiegervater empfangen werden? Er war ja kein Weihuachtsgast, den man mit Freude erwartet, der das Glück der schönsten Stunde des Jahres erst voll macht. Er kam aus dem Gefäng nisse — freigesprochen, aber doch geächtet. Gänzlich erschöpft, erreichte er bei eingebrochener Abenddämmerung sein Ziel. Finstern Blickes durchschritt er die auf den Eisstoß harrende Menschenmenge auf der Donaubrücke, um nach dem kurzen Gespräche mit Schweitzer seiner am Schliffelmarkt gelegenen Wohnung zuzueilen. II. Oberst von Seeberg ging gedankenvoll in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Er war ein Mann von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau, der trotz seiner überschrittenen Sechzig noch über eine fast jugendliche Geschmeidigkeit in Haltung und Bewegung verfügte. Buschige, dunkle Brauen beschatteten kleine, klug blitzende Augen und die Linien des festgeschlossenen Mundes ließen auf einen energischen Charakter schließen. Er hatte soeben ein großes Schreiben zusammenge faltet und mit seinem Privatsiegel versehen, die Ab sendung desselben schien ihm indessen schwer zu fallen, denn so oft er an den Tisch gelangte, betrachtete er es längere Zeit, und zuweilen zuckte es in seinen Zügen. Wiederholt blickte er empor zu den beiden Gemälden über dem Tische: Aus einfachen schwarzen Holzrahmen sahen Ludwig der Erste im Krönungs ornate und Maximilian der Zweite mit seinen milden, väterlichen Augen auf ihn nieder, und er schien diese Augen zu fragen, ob es auch recht sei, was er soeben getan. Entschlossen ergriff er plötzlich eine kleine Glocke und läutete. Gleich darauf stand ein alter Soldat mit rotglänzendem gutmütigem Gesicht vor ihm. „Trag diesen Brief zur Brigade, Joseph!" „Sehr wohl, Herr Oberst!" „Im Falle die Kanzlei bereits geschlossen sein sollte — 's ist ja heute Weihnachtsabend — dann gib den Brief direkt beim Herrn General ab." „Sehr wohl, Herr Oberst!" „Joseph!" rief der Oberst den Diener, welcher bereits unter der geöffneten Türe stand, zurück, „sage — na, was wollte ich fragen — wie lange sind wir beide nun beieinander, Joseph?" „Im Frühjahr werden's dreißig Jahr', Herr Oberst; 1824 war's; der Herr Oberst waren damals noch Oberleutnant und ledig. Gerade vorhin hab' ich d'ran- gedacht, Hekr Oberst! Heute sind's achtundzwanzig Jahr, daß ich einen Blumenstrauß und ein Paket zur gnädigen Frau getragen habe, die damals noch ein Fräulein war. Hatte die eine Freude! Und nun sind schon wieder zwanzig Jahre vorüber, seit die gnädige Frau tot ist. Nun, das wissen der Herr Oberst alles noch besser . . . Gott hab' sie selig!" Der Herr Oberst war, die Arme auf der Brust verschränkt, vor seinem Diener stehen geblieben. Bei den ersten Worten desselben drückten seine Züge ein freundliches Wohlwollen aus, dann aber wurden sie eigentümlich weich. „Ja, das ist lange her", sagte er nach einer längeren Pause, „und eine schöne glückliche Zeit war es. Nun werden wir alt, Joseph, und im.Alter ent schließt man sich schwer zu etwas Neuem. Ich meine, es würde uns beiden schwer fallen, wenn wir uns trennen müßten?" Das Gesicht des Dieners war um eineu Ton röter geworden. Seit Jahren hatte der Oberst nicht mehr in dieser Weise zu ihm gesprochen. Er fühlte, daß etwas Außergewöhnliches in der Luft liegen müsse und antwortete verlegen: „Ich bin bereits fünf Mal eingestanden und denke . . . und meine halt, daß ich überhaupt nicht vom Herrn Obersten fort komme." „Wenn ich aber pensioniert werde, Joseph, was dann?" Fortsetzung folgt. Nachrichten des K.Standesamtes zu Reichenbrand vom 20. bis 26. Januar 1906. Geburten: Dem Maler Paul Hermann Neubert in Reichen brand 1 Knabe; dem Färber Karl Hermann Arnold in Sieg mar 1 Knabe. Aufgebote: Vakat. Eheschließungen: Vakat. Sterbefälle: Dem Fabrikarbeiter Gustav Adolf Uhle in Reichenbraud 1 Sohn, 1 Monat alt; dem Maler Paul Her mann Neubert in Reichenbrand 1 Sohn, Vs Stunde alt. Nachrichten des Kgl. Standesamtes Rabenstein vom 18. bis 26. Januar 1906. Geburten: 1 Sohn dem Maler und Lackierer Julius Adelbert Pläschke, dem Zimmermann Reinhold Oswald Geiler, dem Handschuhstricker Marcus Anders, 1 Tochter dem Handschuh stricker Hermann Richard Meier, sämtlich in Rabenstein; 1 Tochter dem Materialisten Paul Gustav Richter in Rottluff. Eheaufgebote: Der Musterzeichner Richard Johannes Köhler in Chemnitz mit Elisabeth Ella Fiedler in Rottluff. Eheschließungen: Der Eisenbahnarbeiter Carl Richard Meiner in Chemnitz mit Johanne Frieda Irmscher in Rabenstein. Sterbefälle: 1 Tochter dem Handarbeiter Heinrich Richard Hentschel, 20 Tage alt, in Rabenstein; der Privatmann Traugott Friedrich Schindler, 92 Jahre alt, in Rottluff. Kirchliche Nachrichten. Parochie Reichenbrand. Am 4. Sonntag nach Epiphanias den 28. Januar a. c. vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst. — Freitag den 2. Februar vorm. 10 Uhr Wochenkommunion. Parochie Rabenstein. Am 4. Sonntag nach Epiphanias den 28. Januar a. c. vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst. — Freitag den 2. Februar vorm. 10 Uhr Wochenkommunion. L Stück 20 Pfg. empfiehlt in größter Auswahl Knsulk, Rabenstein. M. Ferner habe ein Hochf. pisnino zum Verkauf.