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durch's ganze Haus, durch alle Gemächer. Sie war solange abwesend gewesen, daß daheim manche Aender- ungen vorgenommen worden waren, von denen sie noch nichts wußte. Und sie interessierte sich für alles: für die neuen Tapeten in den Fremdenzimmern, für die veränderte Anordnung der Möbel, für die neuer dings angeschafften Gemälde im Musiksaal. Dann giug's hinunter ins Gesindezimmer, wo Nina schon auf der Lauer stand. Ein seliges Lächeln glitt über das gutmütige, runzlige Gesicht, als die festen, trippelnden Schrittchen die Treppe hinab kamen. Thilda uniarmte ohne Scheu die treue Dienerin mit großer Herzlichkeit und Neumann ließ sie gern gewähren. Besser ein liebenswürdiger Verstoß gegen die Form, als ein völliges Aufgehen in derselben. Darin sollte Thilda ihrer Mutter nicht ähnlich werden. Nina führte ihre junge Herrin vor den Christbaum, den Thilda sehr schön fand. „Wir haben natürlich keinen Baum, böses Väterchen." Neumann senkte das Haupt und gab keine Antwort. Es schellte am Haustor. Thilda huschte wie ein Wirbelwind hinaus, um gleich, ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren an der Hand führend, wieder einzu treten. Johann Wilhelm kannte das Kind. Es war die jüngste Tochter seines Buchhalters. Er täschelte die rotgefrorenen Bäckchen der Kleinen. „Was bringst Du denn Gutes, Klärchen?" „Der Vater läßt recht schön bitten," sagte das Mädchen eifrig, „und Sie möchten doch so gut sein und heute Abend herüberkommen. Und Vater läßt Ihnen Allen recht gesegnete Feiertage wünschen. Und der Arzt hat es gar nicht haben wollen, sonst hätte er selbst die Feiertage gewünscht." „Sag' nur, ich würde kommen," trug Johann Wilhelm der Kleinen auf. „Es ist doch nicht sehr schlimm mit dem Vater?" „Er ist stark erkältet, hat der Doktor gesagt." „So so. Nun, das wird sich bald geben." „Sag' dem Herrn Papa, ich käme mich heute Abend herüber," rief Thilda dem Mädchen nach. Neumann lächelte. „Ob Dich der Schefer noch wiederkennen wird?" fragte er zweifelnd. „Er hat Dich lange Zeit nicht mehr gesehen, und Du bist eine stattliche, junge Dame geworden." Thilda zeigte lachend ihre Perlenzähnchen. „Ich bin ja auch bald achtzehn Jahre alt; da wird es die höchste Zeit, daß die Leute Respekt vor mir bekommen." Kurz darauf traten sie durch die Doppeltür aus dem Dunkel des unteren Flurs in den dicht verschneiten GmU?». William-blieb auf der Kckiwelle stehen und ließ sich von Thilda als Ziel für Schnee ballen benutzen. Der Schnee ballte sich, denn es war über Mittag merklich wärmer geworden. Der Himmel hatte sich wieder dicht umzogen und sandte schon ver einzelte Flöckchen zur Erde, Vorboten bald eintretenden Schneegestöbers. Es dämmerte schon geraume Zeit. Thilda staud wieder neben ihrem Vater und lehnte sich an seine Schulter. Ihre Blicke schweiften hinüber in die benachbarten Gärten bis zu den jenseitigen Häusern, in denen vereinzelte Lichtchen aufflimmetten. Ueberall tiefes Schweigen; nirgendwo ein lebendes Wesen mit Ausnahme der beiden hungrigen Krähen auf dem braunrötlichen Kirschbaumzweig, die ihre Krallen abwechselnd in das aufgesträubte Federkleid zurückzogen. Sogar der leise Fall der Flocken war vernehmlich, so tief war die Stille. Und weithin das Leichentuch der dichten, schimmern den Schneedecke, von Mauern und Hecken wie von schwarzen Strichen durchmustert, und Spinnweben gleich, zog sich das dunkle Astgewirr der Bäume und Strauchgruppen über den weißen Untergrund. Das lebensfrohe Gemüt des jungen Mädchens erschauerte vor der öden Melancholie der gegenwärtigen Stunde. Sie ergriff den Arm Johann Wilhelms und führte ihn mit sich wieder zurück ins Haus. Aber auch hier war alles still und tot. Graue Dämmer schatten schwebte» in den Gemächern, auf den Korri doren war es fast dunkel. Frau Marie und Hans waren noch nicht unten; kein Laut war im ganzen Hause vernehmlich. Vater und Tochter sahen sich beide die Unbehaglich keit an, welche in ihnen aufstieg. „Sollen wir Licht machen?" fragte er. „Weißt Du was," entgegnete Thilda, „wir machen unseren Besuch bei Schesers." Johann Wilhelm pfiff vor sich hin und richtete sich stramm empor. „Ganz recht," pflichtete er bei. „Mach' Dich reisefertig, Töchterchen." — Kaum eine halbe Stunde hernach standen beide vor dem Hause, in welchem Schefers die zweite Etage bewohnten. Es war, wie auch die Nachbarhäuser, ein Neumann zugehöriges Mietshaus, in welches er Schefer hatte einziehen lassen, damit er seinen Prinzipal bei den Mielsparteien vertreten konnte und ab und zu ein Auge auf die Besitzungen desselben warf. Die Freude der Familie Schefer war allgemein, als sie die Besucher empfange» u»d voll Stolz i» das hübsche, geräumige Wohnzimmer geleiten konnten. Johann Wilhelm machte es sich ohne weitere Um stände im Sofa unter dem Ovalspiegel bequem. Er fühlte sich bei seinem Buchhalter wie zu Hause und versäumte selten, einmal hereinzuspringen, wenn ihn der Zufall iu diese Stadtgegend brachte. Er nötigte Schefer, der den hageren Hals in wollene Tücher eingehüllt trug, vom Stuhl weg an seine Seite, während Frau Schefer und die mächtig herangewachsenen Kinder Thilda in ihren munteren Kreis zogen, und sich wunderten, wie groß und schön sie geworden war und sie immer wieder ihrer freudigen Genugtuung ver sicherten, daß sie den Vater begleitet hatte. Als es völlig dunkel geworden war, ward der Weihnachtsbaum augezündet, der in der Ecke neben dem Klavier stand. Man sang gemeinschaftlich ein paar Lieder. „Schade, daß Heinrich noch nicht hier ist," meinten die Kinder, „dann könnte er uns begleiten." „Er spielt nämlich großartig Klavier," flüsterte Neumann seiner Tochter zu. „Ich habe den Heinrich vier Jahre nicht mehr gesehen," sagte Thilda. Schefer hatte ihre Worte verstanden. „Das mag stimmen," nickte er. „Später war der Junge ja meist fort, auf der Bauschule." „Ist aber ein recht großer Junge," lachte Johann Wilhelm breit. „Sehen wir ihn heute Abend noch?" „Ganz bestimmt," versicherte Frau Schefer, während sie ein blütenweißes Leintuch über den Tisch breitete. „Er ist nur bei eiuem Freunde in der Nachbarschaft. — Wenn die Herrschaften jetzt Platz nehmen wollte», der Thee ist gleich fertig." Während Neumann es sich wieder am Tisch bequem machte und der Buchhalter sich au seiner Seite nieder ließ, rückte Thilda ihren Binsenstuhl, daß sie die Lichter des Weihnachtsbaumes vor Augen hatte. Einige waren schon ausgebrannt, andere lohten in den letzten Zuckungen knisternd und züngelnd empor. Den Schein der Kerzchen überwog schon das stille Leuchten der Kuppellampe, die in der Mitte des Tisches, auf einem aus bunter, grober Wolle gehäkelten Schutzteller stand. Es war auf einmal ganz ruhig im Zimmer geworden. Johann Wilhelm blickte nachdenklich vor sich hin. Wie einfach war die Einrichtung, und dennoch, wie gemütlich! Er beneidete oft genug seinen Buchhalter um sein Heim. Zwar in seiner Villa wars auch recht behaglich, aber so viel fehlte dort, was in der Wohnung der Buchhalterfamilie in jedem Eckchen daheim war: Frohsinn, Zufriedenheit, Liebe — all die Eigenschaften, die den Menschen glücklich machen, auch wenn er in einer armen Hütte wohnt. Es war wirklicher Neid, der sich in ihm regte, als er sah, wie sanft die kleine, runzelig und gelb gewordene Frau mit ihrem Manne war; 'wie saust und liebevoll die Kinder, welche ab und zu mit leise», raschen Schritten Schüsseln und Platten zum festlichen Abendbrot hereintrugen, auf den Vater Rücksicht nahmen. Ein Stich ging ihm durchs Herz, wenn er an Frau Marie und an Hans dachte, die seinetwegen keinen Finger rührten. Jetzt war alles bereit, Frau Schefer kam auch aus der Küche und setzte sich zu den andern. „Bleiben wir allein?" fragte Johann Wilhelm. „Wo sind die Kinder geblieben?" „O, die haben ihr Essen in der Küche," entgegnete Frau Schefer, während sie den Thee in die großen, goldgeränderten Tassen füllte. „Da sind sie am besten aufgehoben." In diesem Augenblicke tönten rasche Schritte von der Treppe her, und gleich darauf trat Heinrich ins Zimmer. Schnell nahm er den weichen, braunen Filz hut vom Kopf, legte ihn auf deu Stuhl neben dem eisernen Ofen, der allmählich zu glühen begann, und warf das Cigarrenendchen in das gußeiserne Kohlen becken. Dann eilte er, freundlich den Eltern zunickend, auf die Gäste zu und machte seine Verbeugung. Johann Wilhelm drückte dem jungen Menschen, der ihm im Lause der Jahre sehr lieb und wert geworden war, kräftig die Hand; Thilda sah in ihm immer noch den Jugendfreund und trat mit ihm ohne Zögern wieder in den harmlosen, fröhlichen Verkehr, welchen sie vor Jahren gepflegt hatte». Da gabs gleich so mancherlei zu erzählen: Erinnerungen an gemeinschaftlich verübte Jugendstreiche wurden geweckt, Erlebnisse aus der Pension gegen lustige Streiche und Schwänke aus der Bauschule ausgetauscht. Die Alten hörten gern zu und fühlten sich mit den Kindern wieder jung. Dann schob Heinrich seinen Stuhl zurück, warf die Serviette über die Lehne und setzte sich ans Klavier. Alle lieben Weihnachtsmelodien reihte er in geschickten Uebergängen aneinander; hernach ließ er seiner Phantasie freien Lauf. Aber nichts Unklares, nichts Schwärmerisches und Unreines lag in seinem Spiel; alles war edel und ungesucht. Das fühlte Neumann bei seinem geringen Musikverständnis her aus. Es war eben eine Kernnatur, der Heinrich, ein Prachtmensch in jeder Beziehung. Wenn doch Hans ihm in etwas gleiche! Er klatschte kräftig in die breiten Hände, als der Spieler, ein wenig erhitzt und mit glänzenden Auge», vom Instrument zurück kehrte. Auch Thilda war des Lobes voll über Heinrichs Spiel. „Fast müßte ich mich schämen," lachte sie, „zu zeigen, daß ich auch ein wenig klimpern gelernt habe." Sie eilte ans Klavier und spielte ein Bravour stück mit vollendeter Technik. „Jetzt aber an den Tisch zurück, Kinder," befahl Johann Wilhelm ans eine Bitte Fran Schefers. „Oder verfchmäht Ihr den Anauaspunsch?" Sie kommen gern, und wieder ging's an ein Lachen und Plaudern^ dessen Fröhlichkeit ansteckend wirkte. Endlich mahnte Neumann zum Aufbruch. „So früh schon?" klagte Thilda. „Wie schade!" Allein kein weiterer Aufschub war möglich, wenn man noch zu guter Zeit wieder daheim sein wollte. Johann Wilhelm reichte zum Abschied allen die Hand. Der Buchhalter hielt sie fest und preßte in plötzlicher Aufwallung die Lippen darauf. „Na, was machen Sie, Schefer?" Neumann war unwillig und zog die Hand hastig zurück. „Ach, Herr Prinzipal — entschuldigen Sie gütigst — ich mußte an all das Gute denken, was sie uns getan haben — als Sie damals nach der Schmiedegasse kamen und uns aus der Not rissen. Daran mußte ich jetzt denken. Und da — und da —." „Schon gut," lächelte Johann Wilhelm versöhnt, „Sie sind mir ein treuer Arbeiter geworden, wir sind längst quilt." Die Szene hatte bei de» Anderen einen Anflug von Verlegenheit hervorgerufen. Johann Wilhelm bemerkte das und beschleunigte den Abschied. In der Tür drehte er sich um; er glaubte zu schroff gewesen zu sein, und da er bei den gute» Leute» auch keine Spur von Mißstimmung hinterlassen wollte, suchte er durch Freundlichkeit gutzumachen, was er vielleicht gefehlt hatte. Er dankte also nochmals mit herzlichen Worten für die freundliche Aufnahme und machte eine Gegeneinladung. „O je," sagte Frau Schefer, stolz und verlegen zugleich, „ich kann nicht abkommen wegen der Haus arbeit, und mein Mann darf noch nichl an die Luft. Der Heinrich aber, der kann kommen." „Gut," sagte Neumann, zu Heinrich gewandt, „wir erwarten Sie schon zum Mittagessen." Dann stieg er mit Thilda die Treppen hinab. Heinrich leuchtete mit der Tischlampe. Vom untersten Flur sah Thilda nochmals empor und sah oben das von der Lampe hell bestrahlte Gesicht des Jugendfreundes über die Treppenbrüstung gebeugt. „Aber nicht ausbleiben!" rief sie herauf und eilte dem Vater nach, in die Nacht hinaus. — Zu Hause fanden sie Fran Marie in Tränen. „Hans ist abgereist," schluchzte sie. Johann Wilhelin schickte seine Tochter zu irgend einer Besorgung aus langsam die gewohnte Cigarre an, deren Genus; er sich bei Schefers wegen der Krankheit des Buchhalters versagt hatte. Während er die ersten Rauchwölkchen mit gespitzten Lippen von sich stieß, sah er nach seiner Frau hinüber, die noch immer weinend den Kopf gegen die seidenbezogene Plüschwand des Divans gepreßt hielt. Die kunstvolle Frisur, an deren Aufbau Frau Streppke heute Vormittag vielleicht eine Stunde lang im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatte, war zerdrückt uud zerzaust, die untergelegte Haarwolle drang in grauen Flocken durch die künstlich gewellten Strähnen des blonden Haares; von den im Laufe der Jahre ein wenig voller gewordenen Wangen war stellenweise der Puder fortgewischt. Kurzum, Frau Marie schien aufrichtig betrübt zu sein. „So," antwortete Johann Wilhelm ruhig. „Also der Sohu ist wieder abgereist. Und darum zerfließt die Mutter in Tränen. Alle Achtung vor Deinen Gefühlen, Marie, aber, wenn der Junge es über sich bringen konnte, ohne Abschied von Schwester und Vater zu nehmen, auf und davon zu gehen, so ver dient er nicht, daß man darum bekümmert ist." Frau Marie warf das spitzenbesetzte Taschentuch zerknüllt zu Boden. „Das ist doch nicht so traurig," meinte sie, immer noch schluchzend, „daß er wieder zu seiuen Freunden gefahren ist, wo er Vergnügen hat und wo er kein sauertöpfisches Gesicht sieht —" ein zorniger Blick traf Johann Wilhelm, „aber —." „Nun, aber?" Frau Marie kämpfte sichtlich einen inneren Kampf; sie fahr init ihren saffianledernen Hausschuhen an der Seitenfüllung einer wunderschönen, hochpolierten Akazienkonsole auf und nieder, daß matte Streifen auf dem goldbraunen Grunde entstanden, und verstärkte das kreischende Geräusch, indem sie mit den lang gezogenen, wohlgepflegten Fingernägeln auf dem Seiden- bezuge des Divans schabte. „Aber — nun, Du mußt es ja doch noch einmal erfahren — gerade ist er fort, da schickt der Bürger meister herüber — Gräfin Polanco kommt dennoch, trotz ihrer Absage." Johann Wilhelm stand auf und trat dicht vor den Sitz Frau Maries. „Ein Zufall setzt mich in die Lage," sagte er scharf, „den Zusammenhang der ganzen Geschichte zu erraten. Ich will ganz kurz sein und lange Worte sparen. Hans ist noch ein dummer Junge — „Er ist Dein Sohn," wars Frau Marie spitzig ein. „Wohl. Und eben darum würde ich uie in seine