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führung, Stenographie, Maschinenschreiben nach drei Systemen — „Gut, gut. Wieviel verdienten Sie in Ihrer letzten Stellung?" „Hundertdreißig Mark monatlich." „Wenn Sie wollen, Herr Schefer, können Sie auf meinem Bureau sofort einen Buchhalterposten antreten. Hundertachtzig Mark pro Monat. Es gibt aber viel Arbeit bei mir." Die kleine Frau begann hellauf zu weinen und während noch der Diurnist eine Art von Erstickungs anfall einstweilen erfolglos bekämpfte, zugleich ab wechselnd eine der beiden pergamentfarbenen Hände in der Gegend des Herzens auf den abgeschabten Haus rock pressend, schlüpfte Johann Wilhelm aus dem Zimmer. Da, wie er sah, mit den Eltern schlechter dings noch nichts anzufangen war, nahm er das älteste Mädchen mit sich auf den Vorflur, wo er ihr seine Adresse und ein Goldstück als Aufgeld für deu Vater einhändigte. Er war schon auf dem schmalen, dumpfen Flur der ersten Etage, als es oben lebendig wurde. „Herr Neumann, o Herr Neumann," rief die kleine Frau immer wieder in den herzergreifenden Tönen, die das höchste Glück verleiht; dazwischen lärmten und jauchzten die Kinder. Der Diurnist aber fühlte sich schon in seiner Würde als Buchhalter und rief mit einer Stimme, wie man sie ihm so kräftig gar nicht zugetraut haben würde, die Treppen hinunter: „Verlassen Sie sich auf mich, Herr Prinzipal. Ich werde mich im Handum drehen bei Ihnen einfinden. Im Handumdrehen!" Dazwischen jubelten und jauchzten die Kinder. Johann Wilhelm aber schritt lächelnd in den sonnenhellen Vor mittag. IH. Nachdem es seit zwei Tagen unaufhörlich in kleinen, glitzernden Flocken geschneit hatte, erhöhte jetzt, am Abende des zweiten Tages, der stark anschwellende Wind die Temperatur, und sogleich trat heftiges Schneetreiben an die Stelle des leisen Flockenfalls. Johann Wilhelm saß am Erkerfenster im Unter stock seiner Villa und sah, wie der Schnee Linie um Linie emporwuchs und die menschenleere Straße und die weiten Felder jenseits zn einer gleichförmigen, weißen Oede machte. Wie Silberschleier wogte es vom grauen Winterhimmel zur Erde; Farbe« ver schwanden, Formen und Linien verschwamme»; ein verwaschener Fleck, schimmerte der Stadtwald durch Dumpf und feierlich drang Glockengeläute von der Stadtseite her durch die dicke, schneegefüllte Luft, bald wie Orgelbrausen anschwellend, bald verstummend vor dem Rauschen des Windes. Auf den grauen Schwingen der frühen Dämmerung senkte sich der heilige Abend auf die schweigende Welt. Weihnachtsglockenklänge! Wo ist ein Herz, das sich ihrem himmlischen Zauber verschließt? Er macht die Verbitterung des Armen, die Verzweiflung des Sünders schwinden, schreckt den Verbrecher von der Tat. Weihnachtsglockenklänge! Sie dringen mit siegender Allgewalt auch durch Kerkermauern, die Trost losen zu trösten, lösen heiße Tränen aus den trockenen Augen des Unglücklichsten und verheißen Erlösung vom Erdenelend durch das arme Kind im Stalle zu Bethlehem, in dem Gottes Sohn Mensch ward, um die Menschheit zu retten. Und wieder klangen die ehernen Zungen so stark, daß sie das wilde Lied des Schneesturmes übertönten und die Spiegelscheiben im Erkerfenster klirren machten. Und das Herz des Millionärs ließ ab von seinem gleichmäßigen Gang und pochte laut in bebenden Schlägen; der einsame Mann preßte die Hände vor die Brust, so heftig, daß das Blut unter den Finger nägeln zurücktrat, und weinte laut. Nach einer Weile bezwang er sich, schob den Stuhl zurück und begann unhörbaren Schritts auf dem dichten Teppichbelag des Zimmers hin und her zu gehen. Der Glasofen summte und warf den roten Schein seiner Flämmchen auf die glatten Tische und Schränke, auf die Gold rahmen der Gemälde, in die geschliffenen Spiegel und über die eingepreßten Goldmuster der vornehmen Ledertapete, während die Schneeflocken leise rieselnd und knisternd an den Fenstern niedersanken. Den Ein gang zum Wintergarten verdeckte fast gänzlich der schwere, olivgrüne Plüschvorhang; nur durch einen Spalt drang die feuchte, warme Luft des Gewächs hauses mit ihrem eigenartigen Aroma, welches Johann Wilhelm stets an die Riviera erinnerte, wo er in den letzten Jahren öfters seinen Winteraufenthalt genommen hatte. Der Helle Streifen des kalten, harten Schneelichts, welches neben dem Plüschvorhang her in den Salon quoll, verdämmerte mehr und mehr und wich von Minute zu Minute vor dem roten Licht zurück, das die Kupfereinlage des Ofens ausstrahlte; die Dunkel heit brach mit aller Macht herein. Johann Wilhelm stand vor dem kleinen Bilde des dornengekrönten Heilandes, welches über dem halb hohe» Büchergestell de» Fenstern gegenüber seine» Platz hatte. Er hatte es letzthin für ein kleines Ver- nögen in Florenz erworben; es war ein echter Sal- elli. Es schien als ob die tiefen Farben ein magisches Licht in die Dämmerung ausstrahlten. Mit empor gehobenen Händen starrte er in die milden, leidvertieften Züge Christi. „Erbarmen, o Gott, Erbarmen," stöhnte er. „Gieb mir den Frieden!" „Den Frieden, den Frieden," murmelte er und ließ sich wieder auf seinen alten Platz nieder. „Kein Glück, Herr, nur Frieden, Frieden!" Neun Jahre hatten genügt, um Johann Wilhelm zu zeigen, daß die Welt kein Glück geben kann. Kost- pielige Reisen, vornehme Gesellschaften, das Schlar affenleben in Kurorten, die Strapazen der „Saisons" in Paris und Berlin, alle der Tand, in dem die Lebe welt lebt und stirbt, hatte ihn nicht dauernd zu be- riedigen vermocht. Frau Marie hatte ihm uachgegeben md in die Uebersiedlung nach der Villa eingewilligt; ie hatte sich überhaupt rasch und nur allzu viel an >as neue Leben gewöhnt. Aus der schlichten, fast hausbackenen Frau war eine Dame geworden, die in Gesellschaften und Moden den Ton angab, eine eitle, eere, prahlerische Weltdame, die ihm das Leben ver bitterte. Aber es war ja seine Schuld! Die armen Kinder litten unter der Aenderung der Verhältnisse, und als der Vater ernstlich mit sich zu Rate ging, wie er das Verderben, das ihnen unzweifelhaft drohte, abwenden könnte, war es für den Sohn schon zu spät gewesen. „Was, ich soll in ein Kloster?" hatte der Junge höhnisch gefragt. „Das kann doch Dein Ernst ncht sein, Vater! Kein Theater mehr, kein Konzert — lnd die Mutter hatte auf Seiten des Sohnes gestanden! Freilich hatten sie ihn nicht h.inderii können, die noch Endliche Thilda in ein holländisches Ursulinerinnen- koster zu bringen. Nachdem er seine Tochter in Sicher heit wußte, bekümmerte er sich kaum noch um Frau Marie und seinen Sohn, was diesem nur recht war. Nunmehr begann ein buntes Treiben in der Neu- mannschen Villa, bunter noch und toller, als er es am Abende jenes Tages, der ihn zum Millionär gemacht ;atte, Frau Marie, ausgemalt hatte. Damals war ie schon beim bloßen Gedanken, sich von der ihr lieb ;ewordenen Einfachheit trennen zu müssen, in Tränen ausgebrochen. Und nun —. Aber es war ja seine Schuld! Tausendmal hatte er sich diesen Vorwurf gemacht, der ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Dann kam die qual volle Zeit, in der er mit seiner ganzen Energie gegen die Bestrebungen seiner Frau und seines Sohnes an- llmpfte, gegen den Luxus, gegen die unsinnige Genuß- Dingen ihren Lauf ließ und sich wieder wie früher mit Leib und Seele dem Geschäft hingab. Die zweite Million, die dritte ward errungen; mit dem außerordentlichen Erfolg stieg die Begierde noch mehr. Längst schon prüfte Johann Wilhelm nicht mehr die Mittel, die ihn vorwärts brachten; mit dem Bürgermeister, der sein Mitschuldiger geworden war, machte er eine Reihe bedenklicher Geschäfte. Nach außen freilich blieb er stets der rechtschaffene Bieder mann, dessen unbeschreibliches Glück alle beneideten. Wer die Qualen seines Gewissens gekannt hätte! Den ewigen Kampf zwischen Schein und Sein, der sein Herz durchwühlte, die endlos langen Nächte, die ihm höchstens einen kurzen, traumbeschwerten Schlaf brachten! Kein Bettler würde mit ihm getauscht haben. — Und immer noch klangen die Weihnachtsglocken voll und klar ins dunkle Zimmer, als wenn sie dem armen Millionär zurufen wollten: Geh zum Kinde in der Krippe, es wird Dich heilen, folge ihm, und Du wirst den Frieden gewinnen. Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind. Johann Wilhelm seufzte und erhob sich. Die guten Willens sind! Er war es nicht, konnte es nicht sein, ohne sein Vermögen, seine gesellschaftliche Stellung zu opfern — und hierzu fehlte ihm jetzt die Kraft. Vor Jahren freilich, da wäre es noch angegangen. Damals noch, als er den Hasselbeck und besonders den Diurnisten Schefer glücklich machte. War er da mals nicht voller Glück und Frieden gewesen, als er das ärmliche Mietshaus an der Schmiedegasse, gefolgt von innigen Segenswünschen einer beglückten Familie, verließ? Da hatte das reine, heilige Glück neben ihm gestanden und seinen beseligenden Hauch iu seine Seele gesenkt. Er aber hatte es nicht beachtet; und dann kam das öde Leben des Genusses und dann — das Leben in Schuld und Sünde! Die Weihnachtsglocken verstummten. Vom Flur her ward die Tür geöffnet, goldene Lichtwellen drangen herein, und ein starker, aufdring licher Veilchenduft verkündete den: Spekulanten, der gar nicht aufblickte, daß Frau Marie eingetreten war. „Bist Du fertig, Jean?" Sie sagte nie mehr Johann. Er hob müde den Kopf. „Wozu denu?" „Alberne Frage. Sollen wir bei Bürgermeisters zu spät kommen?" Er hatte die Einladung fast vergesse». „Ich kann noch nicht. Ich bin müde, habe Kopfschmerz." „Faule Ausreden. Du kommst jetzt!" Sein Selbstgefühl bäumte sich auf. „Ich komme nicht. Vielleicht später —." Frau Marie verlegte sich auf's Bitte». Johan» Wilhelm sah erstauiit auf. Sie pflegte sonst nie mehr zu bitten, nachdem sie sich daran gewöhnt hatte zu herrschen. .„Giebt es denn einen besonderen Grund?" fragte er. „Nein — ja — ich weiß nicht. Also Du kommst, nicht wahr?" „Jetzt nicht. Ich kann nicht." „Aber später? Bitte, bitte!" Sie war zn ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. Der Veilchenduft war fast betäubend und machte ihn nervös. „Geh' nur. So gegen halb neun bin ich dort." „Gewiß?" „Wenn ich etwas sage —." „Gut, gut, ich weiß schon. Besten Dank. Adieu!" Im nächsten Augenblick erklangen schon die Geschirr glöckchen des abfahrenden Wagens. Ein Peitschen knall, und es war wieder so ruhig wie früher. Johann Wilhelm stand auf und schaltete das Licht ein. Ein rascher Blick auf die Pendule, die zwischen den bizarr geformten, Venetianischen Gläsern auf dem Kaminsims stand, zeigte ihm, daß er noch zwei volle Stunden Zeit hatte. Erleichtert atmete er auf. Noch zwei Stunden! Er wollte sie auf seine Art benutzen und begab sich nach seinem Zimmer, um Toilette zu machen. Dan» schlüpfte er in seinen Pelzrock und verließ das Haus. Es schneite noch immer, aber der Wind hatte etwas nachgelassen. Kein Mensch belebte die einsame Straße. Unten hielt ein Straßenbahnwagen; aus Johann Wilhelms Rufen wartete der Schaffner, bis Jener zu ihm auf die Plattform stieg. Höflich grüßte er den ihm wohlbekannten Millionär und öffnete ihm die Tür zum Wageninnern. Johann Wilhelm winkte ab. „Lassen Sie es nur, ich bleibe hier draußen." „Es ist aber kalt, und der Schnee schlägt einem n's Gesicht." Johann Wilhelm sah lächelnd auf deu rostzitternden Schaffner, dem der Bart zu einem Eisklumpen gefroren war, und sagte: „Ich friere nicht." Der Schaffner entgegnete nichts und wandte sich einer Kurbel zu. „Er friert also nicht, der Neumann," mchte er. „Glaub's schou, in dem Pelzmantel. Und die paar Minuten Fahrzeit —." „Woran denkt Ihr, guter Freund?" fragte un vermittelt der Millionär. Der Schaffner neigte das vor Kälte blutrote Ohr dem Frager zu und ließ sich dessen Worte wiederholen, da er sie beim Rollen und Stampfen des Wagens habe? Ja nun — was man so denkt —." „Heraus mit der Sprache. Ihr habt au mich gedacht, nicht?" Der Schaffner wurde verlegen. „Wenn man so von fünfe morgens auf dem Karren steht," antwortete er, „daß einem der Schnee nur so um die Nase pfeift und der Bart zn Eis friert, kommen oft kuriose Gedanken." „Das will ich gern glaube», Freund," gab Johann Wilhelm zurück. „Wann habt Ihr heute Abend Schluß?" „Um elf." „Uud dann?" „Dann geht's heim." „Ins Bett, was?" „Kein Gedanke, Herr. Muß noch meinem Kleinen den Baum schmücken. Ein Junge, Herr, sag' ich Ihnen, wie Milch und Blut. Und so brav und lieb —." Johann Wilhelm dachte an seine» Sohn, von dem er noch nicht einmal wußte, ob er zu Weihnachten heimkehren würde. Er studierte in Leipzig die Rechte und jubelte jetzt wohl im Kreise seiner Kommilitione», ohne an den vereinsamten Vater zu oenkeu. Marktstraße, Herr. Hier wollten Sie doch aus steigen ?" „Jawohl. Aber ich wollte Ihnen noch etwas für Ihren Sohn geben. So." „So viel, Herr?" sagte der Schaffner mit bebender Stimme. „Sie haben sikh geirrt." Ein Goldstück funkelte in der blaugefrorenen Hand. „Ist schon recht so," entgegnete Johann Wilhelm und verschwand im Gewühl des Weihnachtsmarktes. Langsam trottete er mit den anderen Leuten durch die hellerleuchteten Budenzeilen und beschaute fast an dächtig den bunten Kram. Der Geruch der Farben an den schwarzgefleckten Holzpferdchen, der Duft der Aepfel und mandelgespickten Lebkuchen, das herbe Aroma der schneebedeckten Tannen erinnerte ihn mit Macht an seine eigene Jugendzeit. Ein kleines, armes Bäumchen nur war es gewesen, das am Morgen in seiner Kammer stand, mit wenigen kleinen Unschlitt- kerzchen, ohne Glaskugeln, ohne Flitter. Aber große Lebkuchen wie diese da hatten an den unteren stärkeren Zweigen gehangen und er hatte abwechselnd von jedem gegessen, bis der Vater in seiner rauhen Art dazwischen gefahren war: „Ich laß' aber den Doktor nicht rufen, wenn Du Dir an den: Zeug den Magen verdirbst, Du Leckermaul!" Er hatte gelacht und die Liebe empfunden, die auch in diesen groben Worten lag. Ein anderer Weihnachtsbanm flammte vor seinem