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EINFÜHRUNG Das musikalische Gegenstück zur Weimarer Klassik der deutschen Dichtung ist die Wiener Klassik, deren bedeutendste Groß- und Kleinmeister zehn Zyklus-Kon- zerte der Dresdner Philharmoniker in der vor uns liegenden Saison gewidmet werden sollen. Ein Vorhaben, das nicht zuletzt die eminente Bedeutung dieses einzigartigen Gipfelpunktes der europäischen und deutschen Musikgeschichte unterstreicht. Es kann in diesem Rahmen aus Platzgründen kaum erschöpfend von den gesellschaft lichen, philosophischen, ästhetischen Grundlagen und Anschauungen der Wiener Klassiker die Rede sein. Für Interessenten gibt es ausreichend einschlägige Literatur, die diesen Fragenkomplex erörtert und untersucht. Auch auf die epochalen musik geschichtlichen Neuerungen, die gewaltigen geistig-weltanschaulichen, technisch formalen Errungenschaften, die wir unseren Klassikern zu danken haben, kann natür lich am Einzelbeispiel jeweils nur andeutungsweise hingewiesen werden. Ein wich tiges Anliegen unserer Zyklus-Konzerte ist es vor allem, unseren Hörern behilflich zu sein, die landläufige Ansicht über die Wiener Klassik zu korrigieren. Denn es ist keineswegs so, daß nur das populäre Komponisten-Dreigestirn Joseph Haydn, Wolf gang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven ausschließlich jenen Begriff erfüllen. Eine Vielzahl von Namen, oft von sehr ausgeprägten Persönlichkeiten, um spannt vielmehr der Kreis der Wiener Klassik. Schon, daß ein Großmeister wie Christoph Willibald Gluck von uns zu diesem Kreis gerechnet wird, ist leider keineswegs selbstverständlich, ganz abgesehen von Komponisten wie Michael Haydn, Leopold Mozart, Carl Ditters von Dittersdorf, die im Schatten der großen Meister lebten und wirkten. Man kann also von der Wiener Klassik im engeren und weiteren Sinne sprechen. Dabei stammten die betreffenden Tonsetzer meist nicht aus Wien, sondern wurden oft von der ganz eigenen musikalischen Atmosphäre dieser Stadt magisch angezogen und erwählten sie dann zu ihrer Wirkungsstätte. An eines sei hier erinnert. Klassik bedeutet auf dem musikalischen Felde nicht wie großenteils bei den Weimarer Dichtern die Verbindung und Auseinandersetzung mit den alten Griechen, mit der Antike, obwohl dies zumindest stofflich nicht bei Gluck, Mozart, Beethoven oder auch Schubert fehlt. Wiener Klassik bedeutet vielmehr „das qualitativ Beispielhafte schlechthin; ferner zeigt sich im Gegensatz zu extremer Romantik ein wesenhaft Klassisches im idealen Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form, also weder das formalistische Überwuchern der Gestalt-Regelmäßigkeit über den vitalen Inhalt noch die Formzersprengung durch die explosive Dynamik des Stofflichen“ (H. J. Moser). Der Gleichlauf der musikalischen mit der dichterisch philosophischen Klassik hinsichtlich der humanistischen Zielsetzung und -richtung ist erstaunlich. Gluck komponierte seine Oper „Iphigenie“ zu einer Zeit, da sich auch Goethe mit diesem Stoff beschäftigte. Letzterer hatte übrigens den Plan, eine Opern dichtung für Mozart zu schaffen; zu schade, daß er nicht zur Ausführung gelangte. Und wenn Beethoven Schillers „Lied an die Freude“ in seiner Neunten Sinfonie vertonte, so geschah dies alles nicht zufällig, sondern war Ausdruck des gleich gerichteten Denkens und Strebens dieser Persönlichkeiten. Die Saat der Aufklärung war auf gegangen und begann Früchte zu tragen. 1784 hatte Kant den Satz nieder geschrieben, daß das Wesen der Aufklärung in dem „mutigen Entschluß der Men* sehen“ bestehe, „sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen“. Wir verdanken diesem Entschluß die erhabenen kulturellen Leistungen unserer Klassiker. Christoph Willibald Glucks musikdramatische Gestaltung des Iphigenie-Stoffes in seinen Opern „Iphigenie in Aulis“ (1774) und „Iphigenie auf Tauris“ (1779) erfüllt in der Verbindung von klassischem Geist der Antike mit den humanistischen Ideen der Aufklärung vollendet die Grundforderung dieses Komponisten nach „Einfach heit, Wahrheit und Natürlichkeit“. In der Ouvertüre zu „Iphigenie in Aulis'" besitzen wir auf dem Gebiete der Instrumentalmusik eines der schönsten Beispiele der edlen Tonsprache des großen Opernreformators, ein Werk von klassischer Klarheit, formaler Geschlossenhtei (Sonatenform) und vorbildlicher Instrumentation. Seine Ansicht von der Bedeutung der Opernouvertüre legte Gluck in dem berühmten, das Bekenntnis seiner reformatorischen Ideen enthaltenden Vorwort zu „Alceste“ (1769) dar: die Ouvertüre solle „den Zuhörer auf den Inhalt der darzustellenden Handlung vorbereiten“. In diesem Sinne hat auch die Iphigenien-Ouvertüre einen ausgespro chen programmatischen Charakter, bereits hier wird das Drama in seinen großen Gegensätzen und erregenden menschlichen Konflikten entwickelt. Der Seelenkampf und die Zerrissenheit Agamemnons, der auf Artemis’ Geheiß seine Tochter Iphigenie opfern soll, die Forderung des Volkes nach dem im Interesse der Allgemeinheit not wendigen Menschenopfer und die liebliche, jungfräuliche Zartheit Iphigenies erscheinen als die thematischen Kraftzentren der Komposition. Unmittelbar in den Anfang der Handlung übergehend und durch die Verwendung musikalischer Motive in engem Zusammenhang mit der Oper stehend, trägt die Ouvertüre schon gewisse Züge, die wir viel später im „Vorspiel“ Richard Wagners wiederfinden, der das Werk denn auch besonders hoch schätzte, ihm einen heute allgemein benutzten Konzertschluß anfügte und es eingehenden Betrachtungen unterzog. Wagner kenn zeichnete bei seiner Analyse vier Hauptmotive: „1. ein Motiv des Anrufes aus schmerzlichem, nagendem Herzeleid“ (langsame Einleitung, Moll-Fugato), „2. ein Motiv der Gewalt, der gebietrischen, übermächtigen Forderung“ (Unisono-Thema des Hauptsatzes), „3. ein Motiv der Anmut, der jungfräulichen Zartheit, in Violine und Flöte“ (kontrastierendes Gegenthema in der Dominante), „4. ein Motiv des schmerzlichen, qualvollen Mitleids“ (Fortführungsgedanke in Moll) und führte weiter aus: „Die ganze Ausdehnung der Ouvertüre füllt nun nichts anderes als der fortgesetzte, durch wenige abgeleitete Nebenmotive verbundene Wechsel dieser (drei letzten) Hauptmotive; an ihnen selbst ändert sich nichts außer der Tonart; nur werden sie in ihrer Bedeutung und gegenseitigen Beziehung eben durch den ver schiedenartigen, charakteristischen Wechsel immer eindringlicher gemacht, so daß . . . wir in das Mitgefühl an einen erhabenen tragischen Konflikt versetzt sind, dessen Entwicklung aus bestimmten dramatischen Motiven wir zu erwarten haben.“ Kaum bekannt ist in unseren Konzertsälen Johann Baptist Krumpholtz (i745~ I 79°), ein seinerzeit berühmter Harfenvirtuose, der aus Böhmen stammte und in Paris, seiner letzten Wirkungsstätte, wo er auch aufgewachsen war, starb. 1772 wird er in Wien als Harfenspieler und -lehrer erwähnt. 1773 wurde er Mitglied der Kapelle des