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ZUR EINFÜHRUNG „Beethoven schreibt, ein Fall, der in der Musik geschichte einzig dasteht, vier Ouvertüren über ein Thema“, sagt Romain Rolland in seinem Buch „Beethovens Meisterjahre“ über die Tatsache, daß Beethoven vier Vorspiele zu seiner einzigen Oper „Fidelio“ komponiert hat. Die Leonorenouvertüre Nr. 3, op. 72, hat er im Jahre 1806 verfaßt, sie war für die zweite Bearbeitung der Oper Fidelio (die bekanntlich bei ihrer Uraufführung durchfiel!) ge dacht. Sie unterscheidet sich wenig von der so oft gespielten Nr. 2, sie benutzt dasselbe thematische Material, sie spricht denselben Ideengehalt aus wie ihre große Schwester Nr. 2 und ist ebenso wie diese ein Musikdrama im kleinen. Sie steht etwas im Schatten ihrer berühmteren Schwester — aber es gibt keinen Grund, sie geringer zu achten als die andere Ouvertüre. Romain Rolland weist in einer Analyse nach, worin die Unterschiede zwischen den beiden Leonorenouvertüren Nr. 2 und Nr. 3 be stehen. Es sind nur Unterschiede formaler Art, die er nennt. Lassen wir ihn selbst sprechen: ,,In der Ouvertüre Nr. 3 ist der Grundriß reinlicher gezogen, das Gleichgewicht der Massen streng ge wahrt, die Reprise wieder aufgenommen und das Ganze von der Vorherrschaft des poetischen Ge dankens befreit, der in der zweiten die Zügel der Musik geführt hatte. Damit war die klassische Sona tenform wiederhergestellt, aber in einer Straffheit und königlichen Fülle, wie nur Beethoven sie wieder herstellen konnte. Wer dächte nicht an das große Crescendo zum Schluß, das wie ein Bergstrom, vom Gewitterregen geschwellt, zu Tal stürzt und das ganze Gefilde überschwemmt! Und nun mag unter den beiden Meisterwerken auswählen wer will!“ Johannes Paul Thilman Das Fünfte Klavierkonzert in Es-Dur, op. 73, aus dem Jahre 1809, kann mit Fug und Recht eine Sinfonie mit Soloklavier genannt werden. Das Orche ster begleitet nicht mehr nur das Soloinstrument, wie es bisher Brauch war, sondern beteiligt sich am Auf bau des gesamten Werkes und an der Verarbeitung des thematischen Materials. In diesem Konzert ist das besonders deutlich. Nach der gleichsam improvi sierenden und präludierenden Einleitung setzt ein sinfonischer Satz ein, der scheinbar zunächst ohne solistische Mitwirkung auszukommen versucht und auch auskommt. Hundert Takte lang hört man abso lutes sinfonisches Geschehen, erlebt man reine sinfo nische Formgesetzlichkeit mit den beiden Themen in ihrer Durchführung. Das ganze Werk hindurch spürt man Beethovens großen Atem, das titanische Ele ment seines Wesens, das schwer um die Ausgewogen heit von Geist und Gefühl ringt, um das Gleich gewicht von Form und Inhalt, die ihm seiner Ver anlagung nach gar nicht liegt. Nach dem Einsetzen des Soloklaviers beginnt in dem wahrhaft großen ersten Satz eine schwerwiegende, tiefschürfende Auseinandersetzung, die einer Diskussion um welt anschauliche Fragen unter bedeutenden Geistern ähnelt. Es ist kein Wunder, daß man dieses Konzert als den Gipfel der gesamten Konzertliteratur ansieht, weil sich jedem, der es hört, die geistige Größe auf zwingt. Der 2. Satz ist in seiner zarten Tönung und Färbung ein starker Gegensatz zu dem vorhergehenden Auf einanderprall von Thesen und Antithesen, aber auch er hält die geistige Höhe. Nicht einmal im Schluß rondo läßt Beethovens Spannkraft nach. Er hat den Kehrauscharakter früherer Rondos überwunden und stellt —'Sein Streben nach klassischem Gleichgewicht führt ihn dahin — dem gedanklich schwer ringenden ersten Satz einen geistvollen, sprühenden, in gelöstere Regionen vorstoßenden Schlußsatz gegenüber, der aber durch die Beethovenschen Errungenschaften in der Kunst der motivischen Behandlung sein Gewicht hat. Beethoven hat dieses Werk selbst nicht mehr gespielt. Es ist eines jener Werke von ihm, die ein damaliger französischer Redakteur (Paris 1810) fol gendermaßen beschreibt: „Der erstaunliche Erfolg der Kompositionen Beethovens ist ein gefährliches Beispiel für die Kunst der Musik. Er glaubt eine Wir kung zu erzeugen, wenn er mit den barbarischen Dissonanzen nicht spart und alle Instrumente großen Lärm vollführen läßt.“ Prof. Laux Seine 7. Sinfonie A-Dur, op. 92, entstand im Jahre 1812. Es ist das Jahr, in welchem Napoleon seine ent scheidende Niederlage in Rußland erlebt, von der er sich nicht mehr erholt; es ist das Jahr, in dem sich in Spanien aus der Unterdrückung durch die fremden, französischen Eroberer eine revolutionäre Bewe gung entwickelt, die sich in der spanischen Verfas sung aus diesem Jahre in folgenden Worten aus drückt: „Das spanische Volk ist frei. Die souveräne Gewalt gehört ihrem Wesen nach dem Volke.“ Es ist das Jahr, in dem in England Arbeiteraufstände gegen die Ausbeutung durch die Fabrikanten ausbrachen (die Unruhen in Nottingham), in dem in Deutschland die Industrialisierung wesentliche Fortschritte macht (Krupp in Essen) — es ist ein Jahr des Tumultes, der Tragödien, des Leides, des Kampfes vieler Menschen um ihre eigene Freiheit. Von diesen Nöten und poli tischen Ereignissen ist in der Siebenten Sinfonie wenig zu spüren. Beethoven hatte gerade in diesen Jahren eine innere Entwicklung durchgemacht, die ihn von der Außen welt zur Welt der Phantasie, der inneren Gesichte, hinführte. Leopold Schmidt sagt: „Er hatte in sich eine höhere Macht der Musik entdeckt, ihr eigenstes Reich war ihm aufgegangen, in dem sie souverän ist, wo alle 'Dinge ihr eigenes Leben haben und einer Deutung nicht mehr bedürfen.“ Richard Wagner sah in der Siebenten Sinfonie die „Apotheose des Tanzes", also eine Verklärung und Idealisierung tänzerischer Zustände. Recht hat er insofern, als der rhythmische Einfall in diesem Werk vorherrscht, daß er eine bedeutende Rolle im schöpfe rischen Vorgang spielt. Beethoven ist in dieser Sin fonie Idealist geworden, er hat sich dem Schiller- schen Idealismus voll und ganz hingegeben. Der erste Satz beginnt mit einer getragenen, feierlichen Ein leitung. Der eigentliche Satz steht im lebhaftesten punktierten Sechsachteltakt, der beide Themen prägt. Dieser Satz endet in einem sieghaften Durch bruch. An Stelle des langsamen Satzes bringt Beethoven, abweichend vom üblichen Gebrauch, ein Allegretto von verschleierter Melancholie und wehmütiger Ver träumtheit. Die weitere Entwicklung dieses Satzes verläuft in der Form der Variation. Das Scherzo steht im schnellsten Tempo, es ist lustig und keck, übermütig und steckt voller Humor. Das eingeschobene Trio hebt sich durch seine zärtliche Melodie scharf vom Scherzo ab. Der lebhafte Schlußsatz hat ein erstes Thema, in welchem die Hauptbetonung entgegen allem üb lichen Gebrauch auf dem unbetonten Taktteil liegt— ebenso ist im vierten Takt des beschwingten zweiten Themas die Betonung auf dem Nebentaktteil. In einer übermütig-burschikosen Stimmung verläuft dieser Satz, von einer Heiterkeit Beethovens kün dend, die in ihm liegen mußte, denn das Entstehungs jahr der Siebenten Sinfonie, 1812, war ein tränen reiches Jahr. Johannes Paul Thilman