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Erwartung, Herrn Harald Ansorge bald als Gast bei sich zu sehen. Seine Frau würde sich gewiß besonders freuen, ihn kennenzulernen, da auch sie ja in de? Musikwelt gut zu Hause sei. Herr Ansorge lachte. „Schnell genug wird der Schlinget sich einfinden, den macht schon seine Schwester Gretel neugierig! Nun, denn auf Wiedersehen, Herr Staatsanwalt! Vielmals Dank für die Autofahrt!" Sic schieden und Wolter ließ seinen Wagen weiter- laufen. Er bog bald in die sich abzweigcndc Landstraße ein, die nach dem Dorfe Kaiserswaldan führte. In diese wieder mündete der Fahrweg, -er zum Nebclberg hinan- ging, an dessen Südabhana sein Haus lag. Der zwischen grünen Feldern und Wiesen hinziehende, weißbestäubte Straßenstreifen rutschte unter ihm hinweg, die Fahr- maschine fauchte und schnarrte ihre eintönige Weise, auf den ncbenherlanfenden Telegraphendrähtcn saßen zwitschernde Schwalben gereiht. Er fuhr durch die summende Stille des se"n"nüberflimmerten Landes und fühlte, wie eine starke Abspannung sich seiner bem'.ch- tigte. Sie war erklärlich an diesem Tage, dem viele andere vorangegangen waren, die seine Arbeitskraft sehr in Anspruch genommen hatten. Es tat ihm augen- blicklich wohl, sich ihr zu überlassen. Stnmps und in einer Art Betäubung steuerte er dem dunklen Waldberge zu. Jäh wurde die Benommenheit zerrissen durch einen Aufschrei, dem angstvolles Kreischen von Kinderstimmen folgte. Ein paar kleine Gestalten sprangen ans den Wiesenrain und dicht vor den Rädern wirbelte etwas Graues... Wolter riß das Steuer herum, der Wagen kam ins Schlendern nnd das rechte Vorderrad stieß an einen Ehausscestciu. Aus dem noch schwankenden Gefährt sprang der heftig Erschrockene und griff uach d m Graikcn. ,'tappelnden am linken Vorderrad. Ein Zeng- stück riß, cs rappelte sich etwas aus, und vor Wolter stand ein etwa elfjähriger, schmächtiger Knabe, über und über bestaubt und schmutzig. „Junge, nm Gottes willen! Bist du gauz geblieben?" rief er ihn an. Er erhielt keine Antwort, sah in ein Paar blauen Augen den Ausdruck fassungslosen Schreckens. Unter dem blonden Haarschopf über der Schläfe sickerte es rot herab, eine kleine braune Hand hob sich danach und zog etile Bahn von Blut und Schmutz über die Wange. Wolter griff nach seinem Taschentuch und wischte das Blut weg. Der Kleine mar anscheinend zum Glück nicht überfahren, sondern nur vom Rad geschleift. Hose und Jacke waren zerrissen, doch er schien außer der Lchläfei:- umnde keine Verletzungen erlitten zu haben. Wolter strich ihm vorsichtig tastend über die Schultern nnd am Körper hinunter. Der Junge zuckte zusammen und stieß einen Schmerzenslaut aus. Da hob ihn Wolter empor und fetzte ihn in den Wagen. Doch ans seine Fragen erhielt er keine Antwort. Es schien, als habe ein Nerven schock dem verletzten Kinde augenblicklich die Sprache ge raubt, nnd der heftig auf ihn einredende Fremde, degen Gesicht von Antomütze und Schutzbrille zum Teil ver deckt war, mochte sein Entsetzen noch vermehren. Die dürftigen, nnn zerfetzten Kleidungsstücke, die nm den schmächtigen Körper des Jungen hingen, die nackten braungebrannten Füße verrieten ihm den Staats anwalt als armer Leute Kind. Wolter sah sich ratlos um und entdeckte die anderen Jungen, die sich scheu, aber doch neugierig, an den Straßenrand duckten. Auf sein Rufen kamen sie zögernd herbei, und mit einiger Mühe bekam er von ihnen heraus, daß sie Kaiserswaldauer waren,- aber nicht der Schreiber-Paul — das war der Kleine, den der Wagen gefaßt hatte. Der Schreiber-Paul wohnte in Seifershan und war heute bei seiner Tante in Kaiserswaldau zu Besuch, weil schulfrei war. Er kam öfters. Sie hatten zusammen im Busch gespielt und dabei eine Eidechse ge fangen. Die war ihnen wieder entschlüpft und sie hatten von neuem Jagd auf sie gemacht. Der Schreiber-Paul hatte sie beinahe erwischt, mitten auf der Straße,- er hatte ! seine Jacke über sie geworfen. Da war das Auto yeran- gejagt und sie waren noch schnell zur Seite gesprungen — nur der Paul nicht, der seine Jacke festhielt . . . Wolter war nun der Vorfall klar genug. Die Kinder hatten in ihrem Spiel- und Jagdeifer das Geräusch des heransausenden Wagens überhört und ihm, dem sonst so vorsichtigen Fahrer, hatte die Wegkrümmnna und viel- j leicht auch jene merkwürdige Benommenheit die Jungen auf der Straße nicht rechtzeitig wahrnehmen lassen. Einen von ihnen, der ihm am aufgewecktesten schien, j forderte er auf, sich zu dem Schreiber-Paul in den Wagen s zu setzen, er sollte ihm das Haus der Tante zeigen. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Maschine nicht ' den Dienst versagte, nahm er wieder seinen Führersitz ein und fuhr langsam den nur noch ein paar hundert Meter entfernten Häusern der Ortschaft zu. Eines der alten schlesischen Bauernhäuser, mit tiefhängendem Dach, verwitterten Holz- und Gebülkwänden auf steiner nem Fundament, wurde ihm als das gesuchte ange wiesen. Ein blühender Kirschbaum beschattete den Ein gang und in dem schmalen Borgärtchen blühte es früh lingsbunt. Wolter trug den verletzten Knaben ins Hans. Eine kropfhalsige Frau kam laut jammernd angelanfen. A's sie jedoch sah, wie er den Jungen ans die Füße stellte und daß es ihm anscheinend nicht ans Leben ging, wendete sich ihr Jammer zum Schelten. Wolter ließ ihr nicht viel Zeit dazu. Er forderte warmes, sauberes Wasser, sauberes Leinenzeug, ein Bett sollte zurecht gemacht und vor allem ein Fenster geöffnet werden — es war eine dumpfe, üble Luft in der Stube. Die Frau folgte seinem Geheiß und brachte das Gewünschte herbei. Flink wie ihre Zunge waren ihre Hände. Sie half dem Jungen die paar Lumpen abstreifcn. „Du dumm's Luder, was hast angestellt? Dei ganzes Zeig zerrissa! O Jesses . . . un a Luch in Kopp, 's Blut, es rinnt a su .. . Sill wart ok . . ." j Sie ging dem Staatsanwalt zur Hand, der die Schläfenwunde verband. Am Oberschenkel entdeckte er noch eine Quetschung und einen starken Bluterguß in die Haut. Er ordnete an, daß Umschläge gemacht werden sollten, und die Frau versprach, cs zu tun. Etwas an deres aber hatte Philipp Wolter an dem Knaben ent deckt, was ihn mehr erschreckte und erschütterte als die ungefährlichen Verletzungen — an dem mageren, fein- gliedrigen Kinderkörper, der nichts Bäuerisches hatte... Da liefen über Schultern und Rücken blaurote, blut unterlaufene Streifen — wie zerpflügt von diesen fürchterlichen Striemen war die ganze Rückseite des be dauernswerten Kindes. Auch die Frau sah sie. „Da hat der Vatter dir wieder a Buckel ausgehauen, Junge! ... Nu sag vk, was hast denn gemacht? . . . Nu, wirst's Maul uffmacha!" „Ich sollt a Ziegen 's Futter tragen, un da is mir'S Fastet g'rntscht un is was ausgesümtt ... 's war a m vull," antwortete leise und klüglich der Junge. Es wa . n die ersten Worte, die er sprach. Die Frau wandte sich ab. „Da wird a wull wieder besuffa gewesen sin, der Lump der," murmelte sie mit bitterbösem Gesicht vor sich hin. Wolter sah sie an und forderte sie durch eine Kopf- beweguug auf, sich mit ihm von dem Bett im Winkel weiter zu entfernen. Auf sein Fragen berichtete sie flüsternd, daß ihr Schwesterkind, der Paul Schreiber, einen Stiefvater habe, von dem er kein gutes Wort zu hören bekomme, aber desto mehr Schläge. Die Schwester hatte den Jungen mit in die Ehe gebracht — aus Breslau, wo sie als Mädel in Stellung gewesen war. Die Kinder aus dieser Ehe waren nicht am Leben ge blieben. Der Paul aber sei seinem Stiefvater ein Dorn im Auge. Da der Trunkenbold oft nickt arbeite, sah sich die Frau genötigt, bei den Bauern, in den Fremden- pensioncn und Banden, oder mit Beerensammeln und allerlei Gelegenheitsarbeiten für ihren und ihres Kin des Unterhalt etwas zu verdienen. Wenn es sich ein- richten lieb, schickte sie Len Paul von Kaiserswaldau, um