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„Dresdner Anzeiger“ No. 282 vom 11. Oktober 1905: dfii It lavienvirmlec. Mignon bei F. Eies. Diesmal ist’s kein bedauernswerter Wunder knabe, der später in der Eegel kein Wundermann wird, sondern eine durchaus zu beglückwünschende, gereifte, widerstandsfähige Erscheinung, die all gemeines Aufsehen in der musikalischen Welt zu erregen berufen ist. Sie heisst M i g n o n, hält sich seit einigen Tagen im Klaviersaale der Firma F. Eies (Kaufhaus) auf und versetzt olles in Er staunen. Hinter einem Vorhänge hören wir sie eine Eeihe klassischer Werke aus der Klavierliteratur spielen und sind verwundert über die Aehnlichkeit ihres Vortrags mit Eoisenauers Art. Vielleicht eine Schülerin von ihm? Nein. Denn im nächsten Stücke wird es uns klar, dass kein anderer als d’Albert hinter dem Vorhänge sitzen kann. Er wird zurückgezogen und — niemand ist zu sehen. Kein Mensch. Ein stilvoller Schrank steht da. Das ist alles. Und in diesem Schranke ist die Mignon versteckt. Was da Mignon genannt wird, ist so eine Art elektrischer Psyche, der Psyche dieses Klavierschrankes, aus dem uns pianistische Kunstleistungen ersten Banges und aller Stilarten entgegentönen. Ein Geist scheint sie hervorzu zaubern. Wie das zugeht, wissen wir nicht. Es ist der Geist und das Geheimnis der Erfinder (Bockiscli und Welte in Freiburg). Wir wissen über das Technische nur, was der Prospekt uns sagt, Mignon gibt das Spiel bedeuten der Künstler wieder, und zwar nicht auf phono- graphischem Wege, sondern auf dem Klavier. Um dies zu ermöglichen, sind äusserst empfindliche Apparate konstruiert worden, die während des Spiels eines Künstlers dieses mit allen seinen Feinheiten und mit allen individuellen Charakter eigenschaften festhalten und später auf dem Keprodulctionsklavier Mignon genau wiedergeben. Als Antriebskraft dient ein kleiner Elektromotor, der im Innern des Apparates angebracht ist und der an jede bestehende Lichtleitung durch ein Kabel angeschlossen werden kann. Ist keine vor handen, so kann der Antrieb auch durch Akku mulatoren geschehen. Die Handhabung ist ganz einfach: eine Papiernotenrolle wird eingelegt, ein Druck auf einen Knopf, und dem Apparat ent strömen die gewünschten Weisen in meisterhafter Wiedergabe. Nach vollendetem Spiel rollt sich der Papierstreifen selbsttätig zurück. Musik wird oft nicht schön gefunden — weil sie meist mit Geräusch verbunden. Ich sage : meist, nicht stets. Wilhelm Busch scheint schon vor Jahr zehnten ein entsetztes Opfer phonographischer Attentate gewesen zu sein, wenn er nicht etwa modernste Sinfonik vorausgehört hat. Aber mit der Unmusik des Phonographen hat das Klavierwuuder Mignon nichts zu tun. Sie ist wirkliche Musik. Man hört nur Musik, ohne jedes Nebengeräusch. Und nicht nur das : man hört künstlerische Musik, weil nicht nur jede dynamische Eegung und besondere Pedalisieruug, sondern auch jede Anschlagsmodi fikation von Mignon genau wiedergegeben wird. Das erst macht sie zur Klavierkünstlerin und erhebt sie weit über Pianola, Simplex und wie sonst noch die mechanischen Klaviere heissen. Sie ist kein Surrogat, sondern eine vollwertige Ver tretung. Und wer bisher gewöhnt war, im Konzert saal die Augen zu schliessen, um allem störenden Beiwerk möglichst zu entgehen, der wird Mignon als Vertreterin sogar den reproduzierten Künstlern vorziehen. Wer aber ohne flatternde Haare, genia lische Gebärden, rollende Augen, blasierte Mienen und dergl. interessante Begleiterscheinungen sich nicht befriedigt fühlt, der hat, da er dergestalt als Kontrolleur berufen ist, die schönste Gelegenheit, an Mignons Seite Auffassungen, Aeusserlichkeiten und Eigenwilligkeiten zu kontrollieren, wobei sogar musikalisch noch etwas zu lernen ist. Für die Klavierkünstler kann Mignon eine heilsame Selbstkontrolle sein. Sie haben in aller Kühe Gelegenheit, sich zu hören und dabei Kritik zu iiben Ist dies schon wichtig und fruchtbar, so muss Mignon eine ganz besondere Bedeutung für die musikalische Pädagogik zuerkannt werden, da sie den jungen Tastenhelden die berühmtesten Beispiele von Auffassungen vor Ohren führt, und zwar so oft sie nur wollen und ohne irgend welche Störung gesprächiger Konzertbesucher. Zurzeit beherbergt Dresden nur ein Exemplar der Mignon, deren Leistungen vormittags von 11 bis 12 Uhr bei F. Eies bewundert werden können. F. B.