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Glockenlieder Max Schillings Vier Gedichte I. Die Frühglocke Kein Ende dämmerte der schwarzen Fiebernacht. — Wahnwitzige Höllen hatt’ ich zwecklos durchgedacht. Ich führe sonst dort innen straffes Regiment, — ’s ist kein Gedanke, der nicht, meine Handschrift kennt. Heut aber ward vom Fieber mir die Macht entrückt; In wüstem Traumgetümmel, fratzenhaft zerstückt, Tappte der wirre Geist; kein Halt, kein Heft zu fassen; Entwaffnet lag ich da, den Furien überlassen. Horch! durch die Finsternis, wo noch kein Schimmer graut, Summt einer fernen Glocke sanfter Trosteslaut. — Erlösung! Tag! — Junggläubig Leben atmet „Ich"! Und Morgenschlummer lispelt: „Menschen grüßen dich!“ II. Die Nachzügler „Sind jetzt die Töne sämtlich wieder da?“ „Bis auf drei einzige Strahlen, ja.“ „Wer kann denn noch draußen sein?“ „Der Kündig, der Findig, der Fein.“ Ueber die Brüstung, von Mittagsglast umgleist, Lehnte der Münstergeist Behaglich und wohlgetan. Da langte der Fein zuerst an. „Warum denn so spät? Wenn’s zehn Minuten auf ein Uhr geht? Und glänzest ja gar! Und hast ein Blättchen im Haar.“ (Der Fein): „Fein, wie ich wuchs, Schlüpft ich durch einen Buchs. — Wie ich den Buchs durchschlüpft, Kam eine Amsel mir auf den Kopf gehüpft. Ein Lichtstrahl ist mir an’s Bein geschossen. Da waren wir drei Genossen. Die Amsel hat g’sungen, Und ich hab’ g’sungen, Und der Lichtstrahl ist immer herumgesprungen.“ (Der Münstergeist): „Hast wohlgetan.“ Da langte der Findig an. „Warum denn so spät? Wenn’s elf Minuten auf ein Uhr geht? Und du glänzest ja gar! Und hast ein Röslein im Haar.“ (Der Findig): „Ich verirrte mich richtig bald ln einem heimlichen Wald. — Drin huschelt’ ein Bach, Dem tuschelt’ ich nach. Im Bach hat eine Jungfrau gebadet, Die war mit Schönheit begnadet. Der Himmel von oben hat zugeschaut; Da hab’ ich mir’s gleichfalls zugetraut.“ (Der Münstergeist): „Hast wohlgetan.“ Da langte der Kündig an. „Warum denn so spät? Wenn’s zwölf Minuten auf ein Uhr geht? Und glänzest ja gar? Und hast ein Kränzlein im Haar.“ — von Spitteier (Der Kündig): „Ich trendelte frei, ohne Schranken. Da ging ein Mann in Gedanken. Ich dachte: was der wohl denken mag? Und begleitet ihn hinterm Hag. Er ist in ein Haus gegangen, Drin ward er mit Jubel empfangen. Vom Jubel mocht’ ich die Mäulchen seh’n, Und blieb halt ein Weilchen am Fenster steh’n.“ (Der Münstergeist): „Hast wohlgetan. Fangt morgen wieder an. Geht nun mit den übrigen Strahlen, Der Glocke das Herz zu malen. Malt ungescheut, Was immer euch freut. Denn freudig und gern Ist der Künste Kern.“ III. Ein Bildchen Den Rain hinauf, mit trotzigem Alarm Fuchtelt ein Kinderschwarm. „Vorwärts! Hurra! Hurra!“ Hut ab. Du schaust kein Spiel. Den Himmel zu stürmen gilt das ernste Ziel. Er ist so nah! Siehst, wie er aus dem Grase guckt dort oben? Zwei Glockentöne, leicht vom Morgenwind gehoben, Kommen vergnügt und ungezwungen Dahergesungen. „Wo geht denn hier der Weg?“ — „Wir wollen durch den Kindersternenhaufen Ueber den Hügelweg die lange Kirschenblütenstraße Gesagt. Ein Sang, ein Flug: [laufen!“ Verschwunden in den Kirschen überm Hügelzug. — Der Kinderschwarm aber dort unten Hat einen Igel gefunden. In Anbetracht dessen Ist der ganze Himmel vergessen. IV. Mittagskönig und Glockenherzog In weitem Bogen öffnet sich des Waldes Tor. Auf mächtigem Roß der Mittagskönig tritt hervor. Ob seinem Anblick stockt der Sonne Siegeslauf, Die Berge recken sich, der Wolkenbaum steht auf, Vom Himmel huldigend mit fliegender Standarte. Doch von des Münsterturmes königlicher Warte Sendet der Glockenherzog, seinen Herrn zu grüßen, Von Sangesfluten einen Teppich ihm zu Füßen, Der Mittag schützt das Auge mit der hohlen Hand, Dann reitet er empor die luftgewobne Wand. Was ist sein Steg? Der Töne wogendes Gewühl. Drob schweigt die atemlose Luft erwartungsschwül. Horch! jauchzend Rossewiehern! Auf ersprung’ner Zinne Geschieht von Herrn zu Herrn in brüderlicher Minne Der Willkommgruß. Dann hält das Fürstenpaar zu Pferde Im Rundgang um das Münster Umschau auf die Erde. Von Glockensturm umbrüllt, von Fahnenwind umweht, Und den geschäft'gen Werktag adelt Majestät.