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TageSgeschichte. x Dl« polttifche Frage der Gegenwart. Eine in Paris erscheinende Zeitschrift „Memorial diplomatique" brachte jüngst eine mit vielem Geiste und politischem Berständniß abgcfaßle Charakteristik der politischen Lage in Europa zu Anfang des Jahres 1873. Da aber der ganze trefflich geschriebene Artikel für unser Blatt zu umfangreich ist, so geben wir in Folgendem das Wichtigste daraus unseren Lesern im Auszug«. „ . . . . Die Beziehungen der Großmächte sind seit dem Frieden an scheinend gut, indessen doch ziemlich gespannt. Die Regierungen beobachten sich aufmerksam, halten sich gegenseitig im Schach und mißtrauen einander. Ueber- dieß fehlt es nicht an schwarzen Punkten am politischen Horizont. Drei Mächte haben vor allen das Ueberge wicht, weil sie alle Theile des ErdballS berühren: England, Rußland und di« Vereinigten Staaten von Nordamerika. England, seit Anfang des 19. Jahrhundert« sehr gealtert, leidet an Vollblütig keit; zwischen seine beiden Rivalen gleichsam eingeengt, ist cS nothgedrungen zur konservativen Macht geworden, die mehr Ländergebiete besitzt, als sie zu ver- theidigen un» fernerhin zu erhalten vermag. Rußland und die Vereinigten Staaten find jugendliche Staaten und, was noch mehr sagen will, zu steter Ver größerung geneigt. Der eine reißt in diesem Augenblick Centralasten an sich, der andere (Nordamerika) legt seinen WolfSzahn an die spanischen Antillen, bereitet die Annerion Kuba'S und Portorikv'o vor, und sich nach den Sandwichinseln im nördlichen Australien lüstern, und steht auf dem Sprunge, sich Kanada'« zu bemächtigen. .... Das gegenwärtige Jahrhundert wird wahrscheinlich nicht zu Ende gehen, ohne daß der Sternenbanner Nordamerika'« auf dem Schauplatz Europa'« erscheint und daselbst eine active Rolle spielt. Da« wird eine furchtbare mora lische Erschütterung für das alte aristokratische Europa geben O st.rreich und Preußen find zwei rein europäische Mächte, deren Einfluß jedoch al« Mächte de- Gleichgewichtes wett über unseren Erdth.il hinaus sich erstreckt. Der Sturz des französischen Kaiserreichs hat neuerdings beide lange Zeit auf einander eifer süchtigen Mächte geeinigt. Preußen hat zuerst da« Bündmß Oesterreichs gesucht, um seine neue Stellung in Deutschland zu sichern und zu befestigen, und Oester reich hat sich in Ermangelung anderer Verbündeter ihm im Interesse seiner Ber- theidiaung gegen Rußland genähert. Die Angelegenheiten des Abendlandes und dcS Morgenlandes halten au« gleichem Grunde diese Verbindung zusammen, welche durch die Macht der Verhältnisse und die Gleichartigkeit der Interessen viel stärker ist, als man in Paris denkt .... .... Rußland fühlt sich augenblicklich isolirt. In Konstantinopel wie in den untern Donauländern wird es von den Cabineten in Wien und Berlin ängstlich überwacht, während seine Haltung in Asien den Argwohn der englischen Regierung aufruft. Rußland« Familienverbtndung mit Preußen gibt noch immer dm Ausschlag; e« »st ind-ffen wahrscheinlich, daß nach dem Tode des Kaiser Wilhelm oder Alexander II. diese Verbindung stch bedeutend lockern wird Preußen ist noch nicht am Ziele seiner Wünsche. Sein Etnheitöwerk steht stch augenblicklich aufgehalten ; dasselbe kann mit Erfolg nur nach einem neuen Kriege wieder ausgenommen werden, für welchen man sich gegenwärtig in Bereitschaft setzt, als sollte er in kürzester Zeit zum Ausbruch kommen. Indessen da« gegen wärtige Regime geht seinem Ende entgegen und di« Thronwechsel find neuen Waffenergretfungen nicht günstig. Dessen ungeachtet wird der Orient jederzeit geeignete Vorwände für einm neuen Conflict darbieten. Italien bat sich einbettlich constituiu mit Hülfe d.S französischen Kaiser reichs; seine innere Befestigung ist jedoch noch nicht vollendet. Seine Eristen z beruht zur Zeit nur auf den NationaliiätSprincip, «S bleibt ihm noch seine sociale Erneuerung zu bewerkstelligen, ohne die es starke und solide Staaten nicht gibt. Bor allen Dingen muß der BolkSunterricht bedeutend gehobm werden Letztere« gilt eben ebenso für Frankreich, noch mehr für Spanien. Spanien wird sich nie wieder erheben, wenn e« nicht in eine Bahn einlenkt, derjenigen ganz entgegen gesetzt, die «S bisher verfolgt und welche zu seinem Verfall geführt hat " Ueber Frankreicht läßt sich der Verfasser, selbst Franzose, zum Schlüsse sehr weitläufig auS und schließt seine Betrachtungen damit, daß für Frankreich zur Zeit einzlg und allein die Republik die zweckmäßigste Regierungsform sei. Deutschland. In dem Ministerrathe, der in Preußen über die von Lasker beantragte parlamentarische UntersuchungScommisfion gehalten wurde, hat man sich allem Anscheine nach dazu entschlossen, diesen Antrag im Abgeorvnetenhause begraben zu lassen. DaS ganze ehrliebende Deutschland würde einen solchen Auöganng rief beklagen. E« handelt sich um eine moralische, nicht eine politische That. Wagener ist kein Mann der conservativen Partei, die ein konservative« Ministe rium in Preußen schützen müßte. Denn eö ist daran zu erinnern, daß Lasker seine Enthüllungen nur auf Grund der Mittheilungen des konservativen Abg. v. Arnim Hetnrtchödorf machen konnte, und dieser ist, wenn wir nicht ganz irren, ein weitläufiger Verwandter Bismarck'«. Berlin. Den Enthüllungen Lasker« dürften bald andere ähnliche aus Gründerkreisen folgen. So erzählt man stch an der. Börse eine Geschichte, welche den pikanten Titel führt „der Galeerensträfling als Bankdirector." Besagter H.rr soll nämlich im Ausland jene fesselnde Stellung begleitet, dann aber flüchtig geworden und endlich in den Hafen einer unserer neuen Banken in erwähnter Art glücklich etngelaufen sein. — Ein anderer neuer Bankdirector ist anläßlich einer Erkennung« scene in Börsenkreis,'» zu der interessanten näheren Bezeichnung „der gewerbsmäßige Deserteur" gekommen. Derselbe betrieb näm lich, wie von jetzt hier lebenden Kameraden desselben versichert wird, während des EecesfionSkrlegcS in Amerika dort das lukrative, wenn auch gefährliche Handwerk cineS sogenannten „Oouat^juwpero", d. h. er trat bei irgend ei nem Regiment- ein, nahm Handgeld und kniff dann regelmäßig aus, um bet einem anderen Truppentheile das nämliche Spiel zu wiederholen. Berlin, 12. Febr. Di- angeblich »fficiöse Nachricht, daß eine DiScpli- nar-Untersuchung gegen Wagener erst nach einer Art Voruntersuchung Statt find«« solle, macht in liberalen Kreisen geringen Eindruck. Die liberale Partei besteht auf der parlamentarischen Untersuchung, für welche trotz interessirter An strengungen die Majorität als gesichert gilt. Oefterreich. . Wien, 10. Febr. Die bisher zur Wiener Welt-Ausstellung eingeladenm Herrscher, die zum großen Theil ihr Kommen bereits rugesagt, find folgende: Ter Ezar von Rußland, Kaiser Wilhelm, Königin Viktoria, Victor Emanuel, Amadeo von Spanten, die Königin von Belgien, Dänemark, Schweden, Grie chenland, Würtembttg. vaiem, Sachsen, der Guttan, der Shah von Persien, der Großherzog von Baden, ferner Präsident Grant. ThierS, der Präsident de- schweizerischen VundeSratheS und der Prinz von Wales. Wim wird seit dm hundert Tagen zum ersten Male eine derartige Anzahl von Fürsten ln setnm Mauern versammeln. UebrtgenS verspricht die Fürstenversammlung gelegentlich der Ausstellung noch glänzender zu werden, als zur Zeit deS EongreffeS, da dazumal weder die Fürsten des Orients noch viele Potentaten der Länder, deren Monarchen jetzt nach Wien gehen werden, dort zugegen waren. Die verstorbene Kaiserin-Mutter von Oesterreich, Karolina Augusta, war bekanntllch vor ihrer Berheirathung mit dem Kaiser Kran, schon mit de« damaligen Kronprinzen Wilhelm von Württemberg vermählt gewesen. Im „N. W. Tgdl." fiuden wir folgende Geschichte dieser Eher Bald nach der Verlobung der Prinzessin Charlotte (so hieß sie vor ihrer Vermählung mit dem Kaiser Fran,) mit dem Kronprinzen Wilhelm von Württemberg war es kein Geheimniß mehr am Hofe, daß die Prinzessin keine Neigung zu ihm gefaßt, und daß der Kronprinz eS nicht gewagt hatte, dem auf diese Heirath dringen den Befehle seines Vater« stch zu widersetzen, da er die fast tyrannische Strenge desselben kurz vorher an stch selbst kennen lernte. Der Kronprinz wurde näm lich zu Ludwigsburg auf offener Parade von dem Könige wegm dienstlicher Angelegenheit in so schonungsloser Weise gerügt, daß er e« nicht vermochte, den Ausbruch seiner Entrüstung zurück,uha!tm. Eine heftige Ohrfe ge deS Königs i« das Gesicht deS Kronprinzen war die Folge; empört über diese Behandlung, zog der Kronprinz den Degen gegen den Vater und König. Nur der soforti gen Jntervenuon der nächstverwandten Höfe gelang e«, den Kronprinzen dem Schicksale zu entreißen, welches da« Kriegsgesetz über ein Vorgehen diese: Art verhängt haben würde. Seit dieser Zeit war eS nur der blinde Gehorsam, welcher den Kronprinzen die Befehle de« Königs befolgen machte. Auf Befehl des König« trat er an den Traualrar, aber verließ die ihm angetraute Gattin, ehe sie sich noch von dem Altäre entfernt hatte. Der Bruder der beleidigten Prinzessin, der Kronprinz von Baiern, forderte ihren Galten, doch brachte auch da die Verwendung der befreundeten Höfe eine Beilegung deS Duells zu Stande. König Mar Josef, der Vater der Prinzessin, ließ aber sofort die ein leitenden Schritte zur Herbeiführung der Scheidung thun; die Trennung der Ehe stieß jedoch auf den Widerspruch des Papstes. Erst nachdem Kronprinz Wilhelm von Württemberg in Gegenwart einer Commission Württembergischer und Bayerischer Würdenträger, welcher sich auch der am Bayerischen Hofe be glaubigte Nuntius anschloß, die protokollarische Erklärung auf Ehre und Ge wissen abgegeben hatte, daß er nur durch den Willen seines Königlichen Vaters und nur den Spruch deS Priester« berechtigt sei, die jungfräuliche Prinzessin Charlotte von Bayern feine Gemahlin zu nennen, und nachdem diese Erklärung eidlich bekräftigt worden, erfolgte durch dcn Papst die Trennung und Nichtig erklärung der Ehe der Prinzessin Charlotte von Bayern mtt dem Kronprinzen von Württemberg. Pest, 10. Febr. Die ärarischen Kohlengruben betPetroSzeny brennen seit Wochen. Ein National-Bermögen von Millionen ist fast unrettbar verloren. Frankreich. In Paris läßt der ärztliche Beistand während der Nacht viel zu wün schen übrig. Die „Asfistanre publique" sucht nun aufzuhelfen. Auf jedem Polizetbureau ist ein« Liste derjenigen Aerzte aufgelegt, weiche sich deS Nachts wecken lassen. Jedem Arzt wird bet einem nächtlichen Besuch et» Polizetmann zu seinem Schutze beigegeben. Da« Honorar für einen Besuch beträgt 10 ArkS. für wohlhabende, 5 Frc«. für weniger bemittelte Patienten. Der Arzt läßt fich durch Abschneiden eine« Coupon den Besuch .bescheinigen und die „Asfistance publique" kasfirt da« Guthaben ein und salarirt den Arzt. Ueberschüffe wer den zu Gunsten der Arme» verwendet. Pari«, 1t. Febr. Die französischen Officiere müssen jetzt auf höhem Befehl den Messen an Sonntagen und Festtagen anwohnen. Selbstverständlich geht dieser Befehl vom General de Ciffey au«, der, obgleich Minister von ThierS, doch der rlerikal-legitimistischen Partei angehört und zu allen Mass regeln, welche bezwecken, die Armee klerikal zu stimmen, bereitwilligst die Hand bietet. Pari«, 12. Febr. Nach der Affembläe Rationale" soll die Prinzessin Clementine von Orleans, Gemahlin de« Prinzen August von Sachsen-Coburg, welche morgen in Pari« erwartet wird, t» Wien von dem Grafen Chambord empfangen worden sem, und verspricht man stch von ihrer hiesigen Anwesenheit einen bestimmenden Einfluß auf die bevorstehenden Entschließungen de: Prinzen de« Hauses Orleans. Wie dasselbe Blatt erfährt, haben sich hervorragende Mitglieder der ehemaligen Pariser Commune von London, Brüssel und Genf entfernt und nach Madrid begeben. Versaile«, 13 Febr. Die Nationalversammlung wünscht die Regie rung zu tnterpclliren über die religiösen Gebäude in Rom, welche französisch find. Der Minister de« Auswärtigen bat, die Jnterpellaiion nicht zuzulaffen, weil die Angelegenheit sehr delikat und öffentliche Besprechung nur Jnconve- nienzen herbeiführen würde. Du Temple verlangt die Interpellation auf die Tagesordnung am Montag, die Versammlung lehnt den Antrag ab und Du Temple zieht seine Interpellation zurück. Schweiz. Bern, 12. Februar. Der Regierungsrath von Thurgau hat den Beschluß der katholischen Synode, nach welchem der Kirchenrath der von der Regierung an ihn ergangenen Weisung, den geistlichen und amtlichen Verkehr mit dem ab gesetzten Bischof Lachat zu untersagen, nicht nachkommen soll und diese Bcschluß- nahme am 16. Februar zur Volksabstimmung zu bringen sei, als verfassungs widrig aufgehoben und die projerlirte Volksabstimmung verboten, sowie dem Kirchenrath angedroht, ihn bet etwaiger Widersetzlichkeit gegen die Regierung, den Strafrichter zu überweisen. Vern, 12. Febr. Der Ausweisungsbeschluß deS VundeSratheS, gegen den zum apostolischen Vikar im Canton Genf ernannten Pfarrer Mermtllod ist — wie berichtigend gemeldet wird — nur ein eventueller, auf den Fall, daß Mermillod den Anordnungen der Behörden Widerstand leiste» sollte, sowie auf die Ausweisung aus dem Canton Genf beschränkter. Italien. Rom, 9. Febr. Nach dem Römischen Ritual wird das Andenken jedes katholischen Fürsten, der eine Krone trug, bald nach dem Hinscheiden durch ein feierliches Seelenamt in der Sirtina geehrt. DteS ist Napoleon M. nicht zu Theil geworden, wie denn überhaupt die frostige Haltung des päpstlichen Hofes gegen die warme nationale Theilnahme im Land« .für drn Berstorvenen grell abfticht. Die liberale Presse hat fich M damit zu schaffen gemacht, die cleneale aber dadurch nur mehr g-reizt. BemerkenSwerth ist die Vertheidigung de»