Volltext Seite (XML)
welcher Vorbildung!) verstanden wird, sondern daß es auch Kunstwerke gibt, die uns Aufgaben stellen, die mit Forderungen an uns herantreten und unsere volle Hörbereitschaft verlangen, Sinn und Wert des Kunstwerkes — wie es Johannes R. Becher einmal formulierte — „zu enträtseln und zu forschen, was sich dahinter verbirgt“. Das gilt nicht nur für die zeitgenössische Musik, sondern genau so für einzelne Schöpfungen der Klassik, denn wer wagte zu behaupten, Bachs „Kunst der Fuge“ oder Beethovens späte Streichquartette ganz zu verstehen? Ungewöhnlich ist die Form der „Sechsten“, die aus nur drei Sätzen besteht, ungewöhnlich ist auch die Monothematik des ersten Satzes: Das Thema des ein leitenden Largos trägt rezitativische Züge und wird im Laufe der musikalischen Ent wicklung variiert. Man hat das Largo einmal treffend mit einem „tiefen und ver dichteten Monolog“ verglichen: Ein Mensch sinniert und grübelt, philosophiert und denkt nach. Düstere Farben herrschen vor, Stimmungen der Schwermut und Resignation bestimmen den Charakter der Musik. Die Spannung verdichtet sich. Klangreibungen unterstreichen diese Bestrebung, doch es kommt zu keinem be freienden Aufschwung. Im Mittelteil wird das Prinzip der musikalischen Dekla mation fast zu einem Sprechen der Instrumente gesteigert. Reizvoll die koloristische Untermalung durch die vielfältigen Triller in fast allen Stimmen. Die Koda faßt noch einmal zusammen: Hoffnungslos, ohne Ausweg verklingt das Largo. Das folgende Allegro kann einem beschwingten, anmutig bewegten Scherzo verglichen werden. Es ist, als ob die Es-Klarinette einen witzigen Walzer anstimmen wollte, und auch das zweite Thema verstärkt mit seinem volkstümlichen Ländlerton den fröhlichen Grundklang der Musik. Witz und Parodie werden in diesem geistreichen Satz nie Selbstzweck: Auch die ungewöhnlichsten Kontraste klanglicher und rhythmischer Art werden der inhaltlichen Idee des Ganzen eingeordnet. Ein drittes Thema (in den Bässen und Celli erldingend) rundet den Satz. „Bekenntnis zum Leben“ könnte über dem Finale als Leitwort stehen. Im Rhythmus eines Galopps beginnt das Presto. Ganz ähnlich im Charakter ist auch das zweite Thema. „Schel misch und anmutig“ nennt es Martynow, der Biograph Schostakowitschs. Die Vor schläge der Holzbläser vergleicht er mit tschilpenden Spatzen! Im Mittelteil des Finale werden von Schostakowitsch neue Gedanken gleich ergänzenden Episoden eingeführt. Im Gegensatz zu den beiden ersten kammermusikalisch durchsichtig instrumen tierten Sätzen verwendet der Komponist in diesem Mittelteil in weit stärkerem Maße den Zusammenklang des gesamten Orchesters und erreicht damit auch dynamisch einen organisch sich entwickelnden Höhepunkt. Komik, Witz und Parodie werden durch das rhythmische Gegeneinander drastisch unterstrichen. Die rhythmische Akzentuierung wird zu einem Stampfen gesteigert, das auch die Koda durchpulst. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß sich musikalische Schönheit nicht nur durch harmonischen Wohlklang, instrumentale Weichheit und gedankliche Leichtig keit auszcichnet, sondern in erster Linie Ausdruck der Wahrhaftigkeit ist. Ohne den Untergrund des Geistigen bleibt Schönheit nur ein ästhetisierendes Spiel im abstrakten Raum des Nichts, ein Spiel um des Spieles willen. Textliche Mitarbeit: Gottfried Schmiedel • Einführungsvortrag: Prof. Dr. Mlynarczik Literaturhinweis: Zagiba: Peter Tschaikowskij; Martynow: Dimitri Schostakowitsch; Musik der Zeit: Heft 5: Serge Prokofieff. Vorankündigung: Dienstag, 2B. Dezember 1956 und Mittwoch, 26. Dezember 1956: Weihnachts-Festkonzert Montag, 31. Dezember 1956: Silvester-Konzert 6768 Ra 111-9-5 1256 1,1 ll G 009/56