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KONGRESS-SAAL DEUTSCHES HYGIENE-MUSEUM Sonnabend, 5. November 1960, 19.30 Uhr Sonntag, 6. November 1960, 19.30 Uhr 3. Philharmonisches Konzert DIRIGENT Siegfried Geißler SOLISTIN Annerose Schmidt, Leipzig (Klavier) Joseph Haydn 1732-1809 Sinfonie Nr. 22 Es-Dur (Der Philosoph) Adagio Presto Menuetto Finale: Presto Frederic Chopin 1810-1849 Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll, op. 11 Allegro maestoso Romanze — Larghetto Rondo — Vivace PAUSE Johannes Brahms 1833-1897 Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90 Allegro con brio Andante Poco allegretto Allegro ZUR EINFÜHRUNG Als Beethoven auf dem Sterbebett ein Bild des Haydn-Hauses in Rohrau gezeigt wurde, rief er voll Rührung aus: „Eine schlichte Bauernhütte, in der ein so großer Mann geboren wurde!“ Tatsächlich erscheint uns das ebenerdige, mit einem Stroh dach versehene Haus, in dem die Mutter Maria Haydn zwölf Kinder (ihren be rühmten Sohn Franz Joseph am 31. März 1732 als zweites Kind) zur Welt brachte, als äußerst bescheiden. Es war ein langer, ebenso schwerer wie erfolgreicher Weg, den Joseph Haydn von dieser Bauernhütte bis zum ehrenvollen, hohen Alter, bis zur Verherrlichung durch Volk und Adel, bis zur ehrerbietigen Begrüßung von französischen Offizieren in Wien in seinem Todesjahr 1809 zurücklegte. Sicher ist neben der fast sprichwörtlichen Bescheidenheit Haydns diese einfache Herkunft wohl die Ursache, daß sich im Testament seiner wahrhaft reichen Hinterlassen schaft eine große Reihe von Legaten an einfache, arme Verwandte, an einen Huf schmied, an einen Schuster, an einen Silberarbeiter, an Schneiderinnen und Spitzenmacherinnen fand. Während seines langen Lebens ist Haydn — vielleicht ohne daß es ihm bewußt wurde — durch die weltanschaulichen Strömungen des bewegten 18. Jahrhunderts gegangen. Als Ideal erscheint im Jahrhundert der „Aufklärung“ der durch das ver nünftige Denken und durch das vernünftige moralische Gefühl bestimmte Mensch. Es ist Rousseau, der 1751 in seinem „Discours sur les Sciences“ (= Gespräche über die Wissenschaften) der Vernunft ihre Vormachtstellung streitig macht und an ihre Stelle die Natur setzt. Noch in die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts fal len die ersten Sturmzeichen einer neuen Änderung: die Romantik! Was Wunder, daß Haydn der philosophischen Nachdenklichkeit sogar in seinen Werken Aus druck gibt? In der Sinfonie Nr. 22 in Es-Dur bestimmt vor allem der erste Satz, ein Adagio, den Beinamen „Der Philosoph“ — der nicht von Haydn, sondern von den Freunden seiner Muse stammt. Mit Hilfe der festgefügten Einheit kontra- punktischer Arbeit (der cantus-firmus-Technik = des immer wiederkehrenden Melodietypus in der Begleitung) kommt Haydn zu innerlicher Konzentration, zum Nachdenken, und die feierlichen Klänge des von Hörnern und Englischhörnern angestimmten, von den Streichern begleiteten Chorals führen uns in des Philoso phen Reich. Der zweite Satz, ein Presto, macht dem lebensbejahenden Philosophen Platz. Das folgende Menuett voller Frische und volkstümlicher Einfachheit, beson ders in der Terzenseligkeit des Trios, hat kaum mehr mit einem Philosophen zu tun. Und gänzlich ausgespielt hat der Philosoph beim kurzen, munteren Finale- Presto. Haydn tritt in dieser „Jugendsinfonie“ (in den 60er Jahren des Jahrhun derts komponiert) formal nicht als Neuerer auf, vieles (beispielsweise die Satz folge) erinnert noch an das Divertimento der Vorjahre. Die handschriftliche Parti tur befindet sich im Esterhazy-Archiv der Nationalbibliothek in Budapest. Schon als Wunderkind spielte Frederic Chopin (1810—1849) häufig in den Palästen der damals maßgebenden polnischen und russischen Leute in Warschau. Es gab keine Impresarios, keine „Konzert- und Gastspieldirektion“, der Künstler mußte seine Bekanntschaften, Beziehungen und Fürsprachen der adeligen und Bürger häuser für sich eintreten lassen, er mußte für seine Kunst „werben“. Gefielen seine Kompositionen, seine sensationelle Technik, waren seine Konzerte bei der „Gesellschaft“ gut subskripiert, so hatte er bald als Lehrer zu tun. Widmete er gar seine Werke den Damen, die er unterrichtete, galt er als „eingeführt“ in die Ge sellschaft ... Chopin komponierte Klavierwerke mit Orchester: Die Variationen über „La ci darem la mano“ (= Reich mir die Hand mein Leben), den Krakowiak, die Fan tasie über polnische Melodien und als Krönung die beiden Klavierkonzerte in e-Moll und f-Moll. Diese Werke spielte er zunächst seinen künstlerischen Freun den allein vor, vor allem seinem Lehrer, dem Direktor des Warschauer Konser vatoriums Joseph Elsner, ehe er sie vor der Öffentlichkeit spielte. Er hielt — bei spielsweise die Klavierkonzerte — nicht für geschmacksüblich. Kühl und kritisch betrachtet, läßt sich an der bescheidenen Instrumentation des Orchesters gewiß