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Johannes Brahms hat für die Vollendung seiner ersten Sinfonie fast zwei Jahre zehnte gebraucht. Er hat —- immer wieder durch Jahre schöpferischen Pausierens unterbrochen — unerbittlich daran gearbeitet, gefeilt und um die letzte Form ge rungen. Hans von Bülow bezeichnete diese Sonfonie als „Zehnte“, — er meinte da mit, daß Brahms die Neunzahl der Beethovenschen Sinfonien um eine zehnte würdig erweitert habe. Der erste Satz wird durch eine langsame Einleitung eröffnet, in der die Stimmung des ganzen Satzes bereits zu spüren ist. Brahms bekennt sich zur strengen Überlieferung der Sinfonieform, die er in persönlicher Weise erweitert. Die Musik ist nachdenk lich, grüblerisch, geballt dramatisch und erfüllt von drängenden Zügen, echt sinfonisch im Zusammenprall der Gegensätze, verkörpert in den einzelnen Themen. Im leucht kräftigen E-Dur steht das Andante: Drei Teile wie ein ins Große gesteigertes Volks lied. Herrlich die Oboenmelodie im Mittelteil, und von tiefem menschlichem Gefühl erfüllt die Episoden der Solovioline im erweiterten dritten Teil. Statt eines Scherzos erklingt ein graziöser, heiter-beschwingter und zugleich besinnlicher Satz, wie das Scherzo dreiteilig mit einem Trio als Mittelpunkt. Mit einer von Spannung geladenen Einleitung führt Brahms zum Finalsatz. Die innere Verwandtschaft zu Beethoven wird offenbar. Und dann hebt im klaren festlichen C-Dur das Hauptthema an, einfach und volksliedhaft in der melodischen Formung, sieghaft im Charakter. Noch einmal greift Brahms auf die Gedanken der Einleitung zurück und steigert das Finale zu einer mit reißenden Schluß-Stretta. Wie sich vom düsterbohrenden ersten Satz über das Andante und Allegretto der große Bogen des inhaltlichen Ablaufs bis zum festlichen Finale spannt, das ist eine bezwingende Erfüllung des sinfonischen Prinzips, durch kämpferische Auseinandersetzungen zur Lösung und Klarheit zu finden. G. Sch. 111-9-110 JH 03-60-41 4324