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die im Gegensatz zu dem im wesentlichen reaktionären Senat als linke Liberale offen für die Revolution auf traten, von der Reak tion gerichtlich verfolgt und ihrer Lehrstühle verlustig gingen, verdienen besonders genannt zu werden: Der Germanist und klassische Philologe Moritz Haupt, der Philologe und Archäologe Otto Jahn und der Althistoriker Theodor Mommsen, drei Gelehrte von hohem Ruf. Die gesetzmäßige Entwicklung des Kapita lismus und mit ihm die Arbeiterklasse und ihre Organisationen war nicht aufzuhalten. Die Bourgeoisie ist auf die Wissenschaft zur Entfaltung ihrer Produktivkräfte und Pro duktionsverhältnisse sowie der bürgerlichen Ideologie und Kultur angewiesen. Seitdem Leipzig durch das Wirken von August Bebel und Wilhelm Liebknecht zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung ge worden war, unterhielt eine Anzahl von Stu denten mit dem Proletariat Verbindung, stets gewärtig, bei Bekanntwerden bestraft und exmatrikuliert zu werden. Zu diesen so zialdemokratischen Studenten gehörte der Jurastudent Karl Liebknecht, der 1890 im matrikuliert wurde, sowie Hermann Duncker, der 1895 bis 1900 an der Philosophischen Fa kultät studierte und 1902 auch promovierte. Audi der später hervorragende marxistische Historiker und Journalist Franz Mehring stu dierte von 1866 bis 1868 in Leipzig und erwarb 1882 die philosophische Doktorwürde. Charakteristisch für die Universität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die stürmische Entwicklung der naturwissenschaft lichen Disziplinen. Bereits vordem wurden einige neue Institute und Kliniken eröffnet, und zahlreiche Gelehrte verhalfen der Uni versität zu Ansehen, so u. a. die hervor ragenden Mathematiker Karl Brandau Moll- weide, der Schüler von Gauß, August Fer dinand Möbius oder Johann Christian Jörg, einer der Begründer der Frauenheilkunde und langjähriger Direktor des neugegründeten Trierschen Instituts sowie Otto Linne Erd mann seit 1827 Professor, der sich als Che miker hohe Anerkennung erwarb, nicht aber als Rektor im Revolutionsjahr 1848. Jedoch erst nach 1850 bildeten sich zahlreiche neue Fachgebiete heraus. Viele Institute und Labo ratorien wurden ins Leben gerufen, und dank der Wirksamkeit zahlloser materialistisch orientierter experimenteller Naturforscher ge lang es, die Wissenschaft sprunghaft voran zubringen. Aus der Fülle bedeutender Namen und Ereignisse aus der Zeit bis zum ersten Weltkrieg sei hier nur herausgegriffen: die Mathematiker Wilhelm Scheibner, Karl Neu mann, Sophus Lie, Felix Klein und Otto Holder; die Chemiker Hermann Kolbe, „der nach Liebig erfolgreichste Hochschullehrer auf dem Gebiete der Chemie im 19. Jahrehundert" (Treibs), Johannes Wislicenus, und vor allem Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, einer der international überragenden Chemiker, Mit begründer der physikalischen Chemie und erster Direktor eines Physikalisch-Chemischen Instituts. Auch einer der bedeutendsten Che miker der Welt, Arthur Hantzsch lehrte in Leipzig. Als 1869 das Landwirtschaftliche In stitut der Universität eröffnet wurde, nahm Adolf Blomeyer den Ruf nach Leipzig an. An diesem Institut war auch der anerkannte Spezialist für Bodenmelioration Wilhelm Strecker tätig. 42 Jahre wirkte der Begründer der experimentellen Psychologie und des ersten bahnbrechenden Instituts für experi mentelle Psychologie Wilhelm Wundt in Leipzig. Seit 1865 lehrte der materialistische Physiologe von Weltruf Carl Ludwig, unter dem 1885/86 als Privatdozent der berühmte russische Physiologe, der spätere Nobelpreis träger I. P. Pawlow, arbeitete. Ein materia listischer Wissenschaftler mit hervorragenden Resultaten für Hirnforschung, Neurologie und Psychiatrie war Paul Flechsig, der 1882 die Nervenklinik gründete. Schließlich seien noch hervorgehoben der Gynäkologe Karl Sieg mund red, der Stomatologe Friedrich Louis Hesse, Begründer der Zahnheilkunde in Leip zig, der Ophthalmologe Hubert Sattler, Be gründer einer weltbekannten Schule für Augenheilkunde, der Chirurg Karl Thiersch und der Paläontologe und Geologe Hermann Credner. Neben den Naturwissenschaften mehrten sich auch die Traditionen der Gesellschafts- und Sprachwissenschaften. Doch deren Ruhm ist zwielichtig: Während auf der einen Seite exakte wissenschaftliche Kenntnisse gefördert wurden und zahlreiche bürgerlich-liberale und demokratische Gelehrte tätig waren, unter warfen sich auf der anderen Seite eine große Anzahl von Universitätslehrern der Politik und Ideologie des aggressiven deutschen Im perialismus. Ideologischer Ausdruck der Ver schärfung des Klassenkampfes beim Ueber- gang zum Imperialismus waren besonders die Elitetheorie, die Geopolitik, der militaristische Revanchismus, Nationalismus und Chauvi nismus sowie das Gift des Revisionismus, gegen die liberale und demokratische, vor allem jedoch sozialistische Wissenschaftler ankämpften. Wir pflegen die progressiven bürgerlichen Traditionen, knüpfen an ihnen an und entwickeln sie auf qualitativ höherer Stufe weiter. Hier sind vor allem sprach wissenschaftliche Traditionen zu nennen. Es ist dem 52jährigen Universitätsschaffen eines Heinrich Leberecht Fleischer zu danken, daß Leipzig zu einem Zentrum der europäi schen Orientalistik wurde, das Paris in nichts mehr nachstand. Ueberhaupt war Leipzig seit den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Hochburg der Linguistik in Deutschland mit Persönlichkeiten wie dem Germanisten Sievers und dem Indogerma nisten Brugmann. 1878 wurde der bedeutende Philologe und Demokrat Georg von der Gabe- lentz erster Inhaber eines Lehrstuhls für ostasiatische Sprachen in Leipzig und Deutsch- land überhaupt. Ihm folgte 1897 der demo kratisch-humanistische Sinologe August Con rady. Hohe Anerkennung als slawischer und allgemeiner Philologe gewann auch August Leskien, der erste deutsche Ordinarius für Slawistik. Aus der Reihe verdienstvoller libe raler und demokratischer bürgerlicher Wis senschaftler jener Zeit sei schließlich noch der Nationalökonom Karl Bücher genannt, an den sich dessen Student Hermann Duncker lobend erinnert und dessen Schriften seiner zeit der junge Leipziger Arbeiter Walter Ul bricht studierte. Bücher wandte sich gegen Militarismus und Klerikalismus und zeichnete sich auch als Gründer und Leiter des ersten deutschen Instituts für Zeitungskunde (1916)