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UZ 03/21. Januar 1991 Studenten 5 Nicht nur auf die historische Partnerschaft zwischen der Stadt und der Univer sität wiesen die Studentinnen vor dem Leipziger Rathaus hin Motorisierte Begleiter des Protestmarsches Berlin-Leipzig Fotos: GEHRMANN ANTWO RT auf den Offenen Brief „Reformen von innen wurden bisher verhindert", LTBvom28. 12. 90,WiLvom31. 12. 90 und UZ vom 14. 1. 1991. Wieder einmal bekamen Studentinnen der KMU einen Brief der Initiativgruppe zur demokratischen Erneuerung der Leip ziger Universität, der wesentlich an sie ge richtet war, lediglich über die Presse zur Kenntnis. Das war um so bedauerlicher, als die Veröffentlichung einiger peinlicher Fehlinformationen vielleicht hätte verhin dert werden können, wenn wir den Brief vorher zu Gesicht bekommen hätten. So sind wir nun also erst einmal gezwungen, einige Dinge richtigzustellen: 1. muß unterschieden werden zwischen Ergebnissen, die in Gesprächen mit der Uni-Leitung und solchen, die mit Staats minister Meyer erzielt worden sind. a) Mit der Uni-Leitung konnten tatsäch lich mehrere Fragen geklärt werden. Dies bedeutete jedoch i. d. R. nicht eine ver bindliche Zusicherung. Vielmehr wurden im Konsens bestimmte Positionen verein bart, die dann als gemeinsame Positionen von Uni-Leitung und protestierenden Stu dentinnen vertreten werden sollten. Eine Reihe von derart formulierten Problemlö sungsvorschlägen bedurften der ministeri ellen Absegnung in Dresden. b) Von Staatsminister Meyer hatten wir in den ersten drei Treffen kaum verbindli che Zusagen erlangen können. Vielmehr formulierte er eine Reihe von Denkmög lichkeiten, die eventuell Einfluß auf wei tere Entscheidungen haben könnten. Der artige Äußerungen sind in keiner Weise einklagbar. Erst das vierte Gespräch am 29. 12. brachte definitive Zusicherungen. Die studentischen Protestaktionen ver ursachten diese Zusagen und Klärungen. Sie sind deshalb auch entsprechend von Uni-Leitung und Akademischem Senat ge würdigt worden (vgl. UZ 1/91 und 2/92). 2. Es ist nach wie vor völlig unklar, wie das laufende Herbstsemester in „unverän derter Form“ abgeschlossen werden kann. Einige der Lehrkräfte - und zwar meist die besten - unterschreiben andere Angebote oder aber entziehen sich - sofern sie be reits im erforderlichen Alter sind - der Demütigung der Warteschleife durch Vor ruhestand. 3. Das nunmehr tatsächlich alle Studen tinnen das Studium in ihren gewählten Fachrichtungen abschließen können, ist erst durch die studentischen Protestaktio nen erreicht worden. 4. Keinerlei Aussage konnte Staatsmini ster Meyer bisher dazu treffen, wie die sog. Studienprogramme abgesichert werden sollen. Weder hat er sich - trotz wieder holter Nachfrage - zur organisatorischen Vorbereitung und Durchführung noch zur finanziellen Absicherung (z. B. bezüglich der legitimen Gehaltsforderungen west deutscher Lehrkräfte) befriedigend geäußert. 5. Schlicht falsch ist, daß irgendjemand zugesichert hätte, daß „alle Forschungs studenten und Aspiranten ihre Dissertati on in dem bisher vorgesehenen Zeitraum beenden können“. Dies ist in Fällen, wo Themenmodifizierungen nötig waren, auch gar nicht wünschenswert. Das ei gentlich zu klärende Problem aber lag dar in, daß zahlreiche Betreuer von Disserta tionen ab 2. 1. 91 de jure in der Warte schleife sind, damit keine Betreuungsauf gaben mehr wahmehmen dürfen und folg lich der Fortgang der Arbeiten z. T. ge fährdet war/ist. Dazu mittlerweile erfolgte Klärungen hatten ihre Ursache in den stu dentischen Protesten. 6. Bezüglich der ausländischen Studie renden ist unser vorrangiges Problem, wie ihnen bei notwendigen Studienzeitverlän gerungen (in vormals „ideologisch ge schwängerten" Fachrichtungen) die Mög lichkeit des Studienabschlusses gesichert werden kann. Dies erfordert nämlich die Änderung der Verträge mit den jeweiligen Heimatländern. Im Gegensatz zu den Briefschreibern möchten wir die Interes- senwahmehmung von Minoritäten nicht ausschließlich an irgendeine Institution - in diesem Falle die Deutsch-ausländische Studiengesellschaft - delegieren. Wir ver trauen da dann doch lieber auf die Sozial mächtigkeit unserer Bewegung. 7. Daß an die Stelle jeder abzuwickeln den Einrichtung eine geeignete Neugrün dung treten wird, war keineswegs von An fang an klar. Es wurde durch den Druck un serer Proteste erreicht. Daß dabei die fachliche Kompetenz und persönliche Integrität der Hochschullehrer und Mitarbeiter entscheidende Kriterien für eine Weiterbeschäftigung sein werden, war anfangs nirgends verbindlich (d. h. einklagbar) formuliert. Daß dies nunmehr geschehen ist und Verfahrensweisen ge funden worden sind, die dies dann auch praktisch absichern können, ist ein Erfolg der studentischen Proteste. 8. Uns geht es weniger darum, daß den Studentinnen und dem akademischen Mit telbau bei den Neugründungsprozessen Mitsprache „eingeräumt" wird. Das halten wir für selbstverständlich. Wer sich oder anderen etwas „einräumen“ lassen möch te, scheint u. E. in seinem Denken stark von obrigkeitlichen Ansätzen geprägt. Wir haben vielmehr ganz bestimmte Vorstel lungen, in welcher Weise, in welcher An zahl und mit welchen Beeinflussungsmög lichkeiten unser Mitspracherecht realisiert wird. 9. Entgegen der Aussage der Briefe- Schreiber geht die Uni-Leitung davon aus, daß sich die Abwicklung nur auf wissen schaftliche Mitarbeiter bezieht, nicht aber auf technisches und Verwaltungs personal. Diese ausführlichen Richtigstellungen machten sich erforderlich, weil der Brief der acht Wissenschaftler lediglich zwei mögliche Gründe zum Ausdruck bringt, die unsere Aktionen erklären könnten. Der erste Grund konnte damit hoffentlich ad absurdum geführt werden: nämlich die Un terstellung, die protestierenden Studentin nen seien lediglich unfähig gewesen, längst erfolgte Problemklärungen richtig zu würdigen und also ihre Aktionen abzu brechen. Der zweite zum Ausdruck gebrachte mögliche Grund ist noch ein wenig härter: die Unterstellung, daß „die jetzige Aktion der Studenten nicht spontan zustande kam, sondern langfristig vorbereitet zu sein scheint.“ Und zwar von „Kräften im Hin tergrund“, „die die Universität in ein Cha os stürzen wollen“. Wenn wir von solchen Kräften gesteuert würden, hätten wir wohl kaum Gesprächs- und Kompromißbereit schaft signalisiert, Gespräche mit Uni-Lei- tung, Senatsvertretem, Stadtpräsident Ma- girius und Staatsminister Meyer geführt sowie Kompromissen zugestimmt. Die Genesis unserer Protestaktionen war auf den zahlreichen öffentlichen Veranstaltun gen und den allabendlichen Plena miter lebbar und ist anhand unserer Dokumenta tion (im Pressebüro einzusehen) nachvoll ziehbar. Spaßig mutet das entscheidende, offen bar in vollem Ernst vorgetragene „Argu ment“ zur Stützung der Drahtzieher-Un terstellung an: die Veröffentlichung in „Ohne Filter“, Beilage zur UZ vom 2. 4. 90. Zum ersten handelt es sich dabei um ei nen satirisch übersptitzten Versuch, mehr Studentinnen für ureigenste soziale und hochschulpolitische Belange zu sensibili sieren und zu mobilisieren. Zum zweiten sollten die dort „vorhergesagten“ Ereig nisse durch eine ganze Reihe die Studien- und Lebenssituationen der Studentinnen extrem verschlechternden Bedingungen hervorgerufen werden. Die Uni-Na mensänderung wurde lediglich als äußerer Anlaß für die „prophezeite“ Eskalation be schrieben (eben Satire!). Zum dritten steht das „Drehbuch für die jetzigen Ereignisse“ keineswegs „wörtlich“ in dem genannten Artikel. Vielmehr gibt es einige gravieren de Unterschiede (z. B. bringen wir nach wie vor legal eine Studentinnenzeitung heraus, was wir durchaus zu würdigen wis sen: Mehrere dahingehende Versuche vor dem Herbst 89 waren aus politischen Gründen gescheitert). Daß freilich be stimmte der im April beschriebenen und nunmehr tatsächlich angewandten Akti onsformen, wie Versammlung der Studie renden im Uni-Innenhof und Uni-Beset zung, übereinstimmen, liegt wohl einfach an der Beschränktheit des Katalogs mögli cher Protestformen. Wer die KMU in eine „linke Speerspit ze gegen die Landesregierung“ verwan deln will, hätte von den Briefschreibem schon genauer benannt werden sollen, an statt eine solche Aussage unvermittelt an Betrachtungen über studentische Hand lungsmotive anzuschließen. So werden er neut problematische Verdächtigungen pro voziert. Unsere Vision ist auch eine Universität ohne einseitige ideologische Ausrichtung (allerdings haben wir mit der „Europäi schen Universität“ wegen des darin steckenden Eurozentrismus so unsere Schwierigkeiten). Gerade um eine erneute einseitige ideologische Ausrichtung künf tighin zu verhindern, führten wir u. a. un sere Protestaktionen durch. Wir möchten eine von Pluralität gekennzeichnete Uni versität. Reformbestrebungen an der Uni stehen wir keineswegs kritisch im Sinne von ab lehnend gegenüber, sondern vielmehr auf geschlossen. Daß es uns schwerfällt, eine Reihe von „Reform“vorschlägen ernst zu nehmen, weil uns einige der Absender all zugut aus der realsozialistischen Vergan genheit als Kollaborateure in Erinnerung sind, möchten wir freilich nicht bestreiten. Leipzig, 7. 1. 1991 Das Plenum der protestierenden Studentinnen Belagerungszustand in der 1. Etage des Hauptgebäudes Am 11.1. 91 in der Mädler-Passage