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KONGRESS - SAAL DEUTSCHES HYGIENE - MUSEUM Dienstag, 29. März 1960, 19.30 Uhr, Anrecht C 3. KAMMERMUSIKABEND der Kammermusikvereinigung der Dresdner Philharmonie Ausführende: Günter Siering, Violine • Günther Schubert, Violine Herbert Schneider, Viola • Johannes Bettin, Viola Erhard Hoppe, Violoncello • Heinz Schmidt, Kontra baß • Werner Metzner, Klarinette • Helmut Radatz, Fagott • Heinz Mann, Horn Rudolf Wagner-Regeny geb. 1903 Streichquartett 1948 Allegretto Andante sostenuto Allegretto Ludwig van Beethoven 1770—1827 Streichquartett f-Moll, op. 95 Allegro con brio Allegretto ma non troppo Allegro assai vivace, ma serioso Larghetto espressivo — Allegretto agitato - Allegro PAUS E Bela Bartok 1881—1945 Streichquartett Nr. 2, op. 17 Moderato Allegro molto, capriccioso — Prestissimo Paul Hindemith Oktett für Klarinette, Fagott, Horn, Violine, geb. 1895 2 Bratschen, Violoncello und Kontrabaß 1957/58 Breit - Mäßig schnell Varianten — Mäßig bewegt Langsam Sehr lebhaft Fuge und drei altmodische Tänze (Walzer, Polka, Galopp) VON BEETHOVEN BIS HINDEMITH LUDWIG VAN BEETHOVEN schuf sein Streichquartett f-Moll, op. 95, im Jahre 1810 in Wien, doch erst vier Jahre später erfolgte die erste Aufführung durch das Quartett seines Freundes Schuppanzigh. Der Meister hat dieses in unmittelbarer Nähe der Egmont- Musik entstandene Werk selbst als ,,ernstes Quartett“ bezeichnet. Die Komposition wurde ausgelöst durch des Komponisten Begegnung mit einem Menschen, den er liebte und nicht lieben durfte. Es war Therese Malfatti, deren Familie Beethoven nicht mochte (er war ja nur ein Musikant) und als Bräutigam ablehnte. Wie schwer der Meister darunter litt, erfahren wir aus seinen Aufzeichnungen: „Für Dich, armer Beethoven, gibt es kein Glück von außen; Du mußt Dir alles in Dir selbst erschaffen. Nur in der idealen Welt findest Du Freunde!“ Trotz, Auflehnung und Groll spüren wir in der Auseinandersetzung des ersten Satzes, und dann — von Satz zu Satz — ein stückweises Überwinden aller Widerstände, eine musika lische „Aussöhnung“, vielleicht auch ein Aufgehen in der Natur: „Geben doch Wälder, Bäume und Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht“, lesen wir in Beethovens Tagebuch während der Entstehungszeit dieses Streichquartettes. In dieser inhaltlich reifen, handwerklich gekonnten Musik ist das Satztechnischc dicht und konzentriert gearbeitet, gerafft in der Formung. Die Betonung der polyphonen Elemente fällt auf. Das Klanggeschehen wird durch die Spannung des Liniengeflechtes zusammen gehalten. Man spürt: Beethoven hat Abstand zu den Dingen gewonnen. Das „Ich“ ordnet sich dem „Allgemeinen“ unter; ein Werk der Überwindung und Klärung, das in Tönen — wie die „Marienbader Elegie“ Goethes in Worten — vom großen menschlichen Anliegen aller Kunst spricht, von der Kunst als immerwährendem Kontrapunkt zu unserem mensch lichen Leben. Von Beethovens Quartettkunst ist der Weg zu Wagner-Regeny, Bartok und Hindemith nicht weit. So unterschiedlich im Stilistischen diese drei Meister der Gegenwart neben einander stehen, bekennen sie sich doch alle zu den Traditionen der klassischen Musik. „Jedem technischen Fortschritt zum Trotz ist Leid Leid geblieben und Freude Freude. Die Skala unserer Empfin dungen ist unverändert. Selbst wenn wir sieben mal siebzig Milliarden Lichtjahre weit in den Weltenraum eindringen und andere Gestirne bevölkern, werden ange sichts der immer gültig bleibenden Empfindungswerte Kunstwerke ausreifen, die vom Menschen zum Menschen sprechend {Rudolf Wagner-Regeny) Zu den profiliertesten Erscheinungen unter den Komponisten unserer Republik gehört zweifellos RUDOLF WAGNER-REGENY: 1903 in Sächsisch-Regen geboren, seit 1920 Studium in Leipzig und Berlin, Tätigkeit als Korrepetitor, Filmdirigent, Kaffeehausmusiker und Tanzbegleiter der Gruppe Rudolf von Laban. Komponist erfolgreicher Ballette („Der zerbrochene Krug“) und Opern (1935: „Der Günstling“, 1939: „Die Bürger von Calais“, 1941: „Johanna Balk“, 1950: „Persische Episode“, noch nicht uraufgeführt, und 1959: „Prometheus“. 1936 spielte der Komponist in Dresden die Uraufführung seiner Musik für Klavier und Orchester mit der Staatskapelle unter Karl Böhm, der ein Jahr vorher den „Günstling“ zur Uraufführung angenommen hatte. Aus der Reihe von Rudolf Wagner-Regenys Kammermusiken seien erwähnt: Spinettmusik (der Komponist ist ein Liebhaber des Clavichords!), Liederbüchlein, zwei Klaviersonaten, Tänze für Palucca, Hexameren (Intervallstudien) und das 1948 entstandene Streich quartett. Das knappe konzentriert geformte Werk beginnt mit einem musikantisch beschwingten schnellen Satz im Charakter einer gelockerten Spielmusik. Ein liedhaftes, herb-verhaltenes Andante schließt sich an. Der letzte Satz ist wie der erste ein Allegretto: frisch und unkom pliziert musizieren die vier Instrumente in schöner Gleichberechtigung. Seit 1948 setzte sich Wagner-Regeny intensiv mit der 12-Ton-Musik und der variablen Metrik auseinander und schrieb auch mehrere Werke in diesen Techniken: Streichtrio und Klaviersonate 1950, Mythologische Figurinen 1952 (Salzburger Festspiele). Der Komponist meinte dazu: „Als ich in den Jahren 1946 bis 1948 bemerkte, daß die 12-Ton-Technik den verschiedensten Autoren die Möglichkeit gab, auf ihre persönlichste Art stilistisch sich zu äußern, war es eben dieser Umstand, der mich bewog, auf meine Weise diese Technik anzuwenden.“ Bei all diesen Versuchen war Rudolf Wagner-Regeny nie ein musikalischer Mathematiker und sturer Dogmatiker, sondern blieb mit seiner Musik stets dem Leben und allem Mensch lichen verbunden. Die Aufgaben des Komponisten in unserer Zeit umriß er einmal mit den bekenntnishaften Worten: „Die fortgesetzte Übung aller Tage besteht darin: den Einblick in die Trübe wie in die Finsternisse der menschlichen Existenz umzuwerten in gute Musik, durch Töne Kümmernis in Freudigkeit, Dunkles in Helles, Entbehrliches in Unentbehr liches, Verbrauchtes in Gebrauchtes zu verwandeln.“ Die Streichquartette von Bela Bartok nehmen in dem Lebenswerk des ungarischen Komponisten eine Zentralstellung ein. Bartok schrieb — abgesehen von einem 1899 ent standenen, unveröffentlichten Quartett — sechs Streichquartette, und zwar in dem Zeitraum von 1908 bis 1939. Das Wachsen und Reifen, der ganze Entwicklungsgang Bartoks ist an diesen sechs Meister quartetten bis in die kleinste Einzelheit hinein zu verfolgen. In der Gegenwart gibt es kaum einen ähnlichen Komplex bedeutsamer Kammermusik, der sich mit dem Sextett der Bartok- schen Streichquartette vergleichen ließe. Der Name und Begriff Beethoven drängt sich nicht nur an einer Stelle in den Vordergrund: Konzentration, Intensität, Klarheit und Ökonomie der Bartokschen Musik lassen einen Vergleich mit Beethoven durchaus zu. Bartok schrieb sein zweites Quartett in den Jahren 1915 bis 1917, rund zehn Jahre nach seinem ersten Quartett, das sich am stärksten von allen Quartetten zur Vergangenheit bekennt. Das Quartett zwei besteht — wie das erste — aus drei Sätzen. Ungewöhnlich die Folge dieser Sätze: Dem ersten Satz, einem Sonatensatz mit zwei Themen und einem