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Beilage Mr Weitzeriy-Jeitung 95. Jahrgang Dienstag, am 7. Mai 1929 Nr. 195 Chronik des Tages. — Die deutschen Vorbedingungen für die Annahme oes amerikanischen Rcpärationsvorschlages sind am Montag durch Dr. Schacht dem Konserenzvorsitzenden Owen Young überreicht worden. — Die außerordentlichen Polizeimaßnahmen in den Berliner Stadtteilen Neukölln und Wedding sind wieder aufgehoben worden. — Die Ehrenwache vor dem Wohnsitz des Reichspräsi denten. die am Jahrestage der Skagerrakschlacht die Reichs marine entsendet, wird am diesjährigen 31. Mat von der Marinestation der Ostsee gestellt werden. — Oberst a. D. Bauer, der Mitarbeiter Ludendorffs im Weltkriege, ist in Schanghai an den schwarzen Pocken gestorben. — Der Reparationsagent Parker Gilbert ist, von Ber lin kommend, in Paris eingetroffen. — Der Vorstand und der Beirat des Einheitsverban des der Eisenbahner Deutschlands haben auf ihrer Tagung in Leipzig den Vorstand ermächtigt, im Einvernehmen mit den Spitzengewerkschaften den Streik zu proklamieren. — In Insterburg begann im Wiederaufnahmever fahren der Mordprozeß Dujardin. — Die Zahl der Todesopfer des Erdbebenunglücks in Persisch-Turkistan wird in den letzten Meldungen mit 1000 bis 3000 angegeben. Der Endkampf in Paris. Der Endkampf um die deutschen Kriegstribute hat mit voller Schärfe eingesetzt. Nach wochenlangen Vor besprechungen und mehrfachem Schriftwechsel ist die Reparationskonserenz nunmehr in das entscheidende Stadium getreten. Nachdem sich die ursprünglichen Forderungen der Gläubigerländer als vollkommen un brauchbare Verhandlungsgrundlage erwiesen hatten, ist schließlich nach langem Hin und Her der Konfe renzvorsitzende Owen Young selbst mit einem po sitiven Vorschlag an die Parteien herangetreten. Da nach soll Deutschland für 37 Jahre jährlich 2050 Millionen Mark zur Begleichung der eigentlichen Re parationsansprüche einschließlich der Rückzahlung der interalliierten Schulden zahlen. Was die Deckung der interalliierten Schulden betreffe, so sollten sie nach dem 37. Jahre bis zum 58. Jahre durch die Ge- winne der Internationalen Reparations-Bank gesi chert werden. Im Läger der Alliierten atmete man aus, be trachtete man doch diesen Vorschlag als einen Aus weg aus der Sackgasse, in die man sich bei den end-» losen Verhandlungen verrannt hat. Ja, die Pari ser Presse trug eine solche Zuversicht zur Schau, daß man beinahe den Eindruck hätte gewinnen können, der Erfolg der Konferenz sei bereits in einigen Tagen ge sichert. Wie so oft, handelte es sich hier auch wieder um eine Stimmungsmache übelster Art. Man wollte offenbar den Eindruck erwecken, als ob Frankreich ohne weiteres bereit wäre, die helfende Hand Ame rikas zu ergreifen, um dann Deutschland, wenn es — wie man bestimmt erwartete — irgendwelche Bedenken gegen den amerikanischen Vermittlungsvorschlag Vor bringen würde, vor aller Welt als den „Saboteur der Konferenz" htnzustellen. Inzwischen ist es jedoch an ders gekommen. Die deutschen Sachverständigen ha ben den ihnen von Owen Young unterbreiteten Zah lungsplan als brauchbare Verhandlungsgrundlage an genommen, allerdings unter bestimmten Vor aussetzungen, die Dr. Schacht der Konferenz am Montag in einer Denkschrift vorgelegt hat. Ueber die Art dieser Vorbehalte hat die deutsch« Delegation der Oessentlichkeit bis jetzt noch nichts mitgetetlt. Da gegen will die Presse bereits den Inhalt der deut schen Denkschrift kennen. Nach dem ,Aetit Parisien" sollen die deutschen Vorbehalte vor allem die Kom merzialisierungs-Methoden sowie die Deutschland auf Grund der Errichtung der künftigen Reparationsbank zu gewährende Erleichterung zum Gegenstand haben. Weiter soll die deut sche Delegation auch die Forderung nach einer Klau sel erhoben haben, durch welche die Möglichkeit einer Revision offengehalten wird für den Fall, daß etwa die Erfüllung der neuen Verpflichtungen die deutsche Leistungsfähigkeit übersteigen sollte. Ob diese Angaben mit den tatsächlichen Forde rungen der deutschen Sachverständigen übereinstimmen, muß, wie gesagt, dahingestellt bleiben. Sicher dagegen fft es, daß sowohl der Zahlungsvorschlag als auch die Vorbehalte Schachts in den nächsten Tagen scharf umkämpft sein werden. Die deutsche Delegation und die gesamte deutsche Oessentlichkeit werden wahr- cheinlich in dieser Woche einer Nervenprobe ausgesetzt ein, wie wir sie seit Beginn der Sachverständigenkon- erenz noch nicht zu bestehen hatten. Die französische Regierung wird alle Register ihrer politischen Ver drehungskünste ziehen, um die neuen Reparations ziffern als völlig unzureichend hinzustellen und eine Angleichung an Vie ursprünglichen Forderungen zu erzwingen. Dabei schrecken die Pariser Blätter auch nicht vor einer Kritik an dem Konferenzvorsitzenden Owen Young zurück. So wird dem amerikanischen Sachverständigen zum Vorwurf gemacht, daß er von seinem ursprünglichen Vorschlag von 2105 Millionen deutscher Jahresleistungen zurückgetreten sei, vor allem aber, daß er es verstanden habe, die amerikanischen Forderungen in vouer Höhe aufrecht zu erhalten, von den Alliierten dagegen neue Opfer zu verlangen. Die von den Deutschen zu zahlenden Jahreslei stungen lägen 200 MNtonen unter den von den Gläu- btgermächten geforderten Betrügen. In Kapital aus- gedrückt bedeute dies einen Unterschied von 3,5 Mil liarden Goldmark. Uebereinstimmend wenden sich die Blätter dagegen, daß diese Herabsetzung aus Kosten der Reparationszahlungen erfolgen solle, während die amerikanischen Forderungen unverletzlich seien. Der französische Anteil an den Reparationszahlungen würde danach von 48 auf 36 Milliarden Franken zurllckgehen. Hier wird der größte Widerstand der französischen Sachverständigen zu erwarten sein, dem sich wohl die Belgier anschlietzen werden. Nach dem ablehnenden Urteil der Pariser Presse kann es nicht mehr zweifelhaft sein, welche Haltung der Führer ver französischen Gruppe, Moreau, der erst am Montag aus seinem Wahlkreis nach Paris zurückgekehrt ist, in der Vollsitzung am heutigen Diens tag einnehmen wird. Auf jeden Fall hüte man sich vor der durch nichts begründeten Hoffnung auf eine Sprengung der alliierten Front. Nachrichten, die von einer Zustimmung der Engländer, Italiener und Ja paner zu dem Young-Schacht-Vorschlag wissen wol len, sind verfrüht, wenn auch nicht geleugnet wird, daß gerade die Angehörigen dieser drei Staaten mehr Entgegenkommen beweisen als die Franzosen und Belgier. Soweit sich zur Stunde übersehen läßt, ist die neue Wendung in den Pariser Verhandlungen in London und auch in New York mit Genugtu ung ausgenommen worden. Vorläufig legt man sich jedoch in der Beurteilung der weiteren Aussichten der Besprechungen Zurückhaltung aus, umsomehr, als di« näheren Bedingungen, an die die letzten Vorschläge geknüpft wurden, noch nicht bekannt sind. Wenn auf alliierter Seite eine vernünftige und ruhige Auffassung der Sachlage Boden gewinnt, so wird man sich sagen müssen, daß die deutschen Sach verständigen weiter gegangen sind, als sie vielleicht vor sich selbst und vor ihrem Volke werden verant worten können. * Der Zahlungsplan Swen Bonngs. Der Zahlungsplan Owen UoungS, der zur Zeit als Unterlage für die Verhandlungen der Sachverstän digen dient, sieht folgende Staffelung vor: Die deut schen Zahlungen sollen mit 1675 Millionen Marl beginn«« und jährlich «m je 25 Millionen austeigen. Im Laufe der 87 Jahre werde« sie ei«e« Durchschnitt von 1S8V Millionen ergebe«. Sin Teil dieser Zah lungen ist transferungeschützt. Falls man den Zin sendienst für die DaweSanleihe hiuzurechuet, ergibt sich ein Jahresdurchschnitt während der ersten 37 Jahre von rund 2650 Millionen. Die 55 Millionen für die amerikanischen Besatzungskosten sind in den jetzigen Ao««g>Borschlag aufgenommen Rotfront verboten. Bisher nur in Preußen «ud Bayern. — Die Aus dehnung de» Verbotes ans das gesamte Reich »och nicht beschlossen. — Inventar «nd BermSgen beschlag nahmt. Auf «rund der Berliner Mainnruhen hat der preußische Minister des Innern Grzesinski mit Zu stimmung der Reichsrcgierung den Rotfrontkämpfer- bund e. B. einschließlich der Roten Juugfront «nd der Roten Marine mit allen seinen Einrichtungen aufgelöst, weil a«S seinem Verhalten hervorgehl, daß sei« Zweck im Widerspruch mit den gesetzlichen Bestimmungen steht. Das BermSgen der betroffenen Organisationen wird zugunsten des Reiches beschlagnahmt und eingezogen. Die Durchführung der Beschlagnahme «ud Einziehung obliegt den örtlichen Polizeiverwaltungen. Eine Ent scheidung darüber, ob das Verbot auf das gesamte Reich ausgedehnt wird, ist noch nicht gefallen. Bisher hat neben Preußen nur Bayern ein Verbot des Rotsrontkämpserbundes erlassen. Es ist jedoch anzunehmen, daß auch die übrigen Länder des Reiches dem Beispiel Preußens und Bayerns folgen und in ihrem Machtbereich ebenfalls die Auflösung der Rdtfrontorganisationen verfügen werden. Die erste praktische Folge des Verbotes besteht darin, daß der für Pfingsten geplante Rot-Frontkämpfer-Tag be reits nicht mehr stattfinden kann. Die Durchführung des BcrboteS. Die Verfügung des preußischen Innenministers ist bereits der Bundesleitung des Roten Frontkämpfer- Sundes zugeleitet worden. Ferner hat die Polizei Montag früh bei der Bundesleitung und der Gaulei- rung Berlin-Brandenburg und bei den Abteilungs leitern der genannten Organisation das Inventar, das gesamte Material und die Bankkonten beschlag nahmt und sichergestellt. Das Verbot stützt sich aus das Gesetz zum Schutze der Republik, das die Auslösung von Organisationen vorsieht, die die Bestrebung ver folgen, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reiches oder eines Landes zu unter graben, und bei denen die Bewaffnung von Mitglie dern festgestellt worden ist. Die polizeilichen Feststel lungen bei den blutigen Vorgängen der letzten Tage in Berlin haben, so wird versichert, hierfür aufschluß reiches Material erbracht. Aller Voraussicht nach dürste die Bundesleitung des Roten Frontkämpser- bundes Beschwerde gegen die Auflösung erheben, die dann dem Reichsgericht zur Entscheidung zugeleitet wird. Irgendwelche aufschiebende Wirkung des Ver bots hat ein solcher Einspruch nicht. Auch dürfte ihm kaum Erfolg beschicken sein. * Wieder Ruhe im Aufruhrgebiet. Aufhebung der Sperrvorschriften i« Neukölln ««d am Wüwing. Nachdem in den bisherigen beiden Unruhezentren Neukölln und Wedding die Ruhe seit 48 hezw. 66 Stunden keine nennenswerte Störungen mehr erfahren hat, hat der Berliner Polizeipräsident am Montag mit Tagesgrauen die für die beiden Gebiete erlasse nen Spcrrvorschriften aufgehoben und die polizeiliche« Maßnahmen rückgängig gemacht. Selbstverständlich sind die erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden, um etwa neuaufflackernden Unruhen sofort entgegen treten zu können. Englische Untersuchung wegen der Erschießung des neu» seeländischen Journalisten. Im Zusammenhang mit der Erschießung de« eng« lischen Journalisten Mackay im Verlauf der Berliner Unruhen sind vom Britischen Auswärtigen Amt dis notwendigen Schritte für die Klärung Der Angelegen heit eingeleitet worden. ES handelt sich hierbei ledig lich um die Aufklärung des Falles und nicht etwa um einen Protestschritt. Me Berliner Privatberichts der Londoner Presse stimmen darin überein, daß Mackay trotz der Warnungen von Polizeioffizieren sich auf eigene Verantwortung in di« Gefahrenzone begab. Die Zahl der während der Unruhen in Neukölln und den anderen Gegenden Berlins verletzte« Schutzpolizeibeamten beträgt 47, Hiervon sind vier Beamte sehr schwer verletzt. Die neue Reichsanleihe. Der Gesetzentwurf über die SOO-Millionen-Mark-Att» leihe dem RelchSrat bereits zugeleitet. Wie von Zuständiger Seite mitgeteilt wird, wqc- oen die Finanzminister der Länder heute in Berlin zusammentreffen, um die Modalitäten der neuen 500- Millionen-Reichsanleihe zu besprechen. Ein entspre chender Gesetzentwurf ist dem Reichsrat bereits zuge leitet worden. Die Beratung des Entwurfs dürfte vor aussichtlich am Mittwoch erfolgen. ES ist anzunehmw, daß der Entwurf in kürzester Zeit dem Reichstag übermittelt werden kann. Die Reichsanleihe, mft der die Regierung die Retchskassen auffüllen will, soll noch im Laufe diese« Monats zur Zeichnung aufgelegt werden. Man spricht von einer 7prozentigen Nominalverzinsung, die bei Anrechnung der Gewinne durch di« gewährte Steuererleichterung in Wirklichkeit achteinhalb Pro zent betragen würde. Obgleich der deutsche Markt zur Zeit nicht sehr geneigt ist, Anleihen überhaupt aufzunehmen, rechnen Regierung«- und Bankkreise angesichts der zahlrei chen Vorteile, die di« neue Retchsanleihe bietet, mit einer schnellen und vollkommenen Zeichnung. Beson ders das Ausland soN bereits starkes Interesse zeigen, jedenfalls übernimmt ein großes Schweizer Banken- konsortium einen ansehnlichen Teil der Anleihe, so daß also eine gewisse Entlastung des Kapitalmarktes entsteht. Kehraus in Genf. Der Abrüstungsausschuß auf unbestimmte Zett vertagt. Der vorbereitende Abrüstungsausschuß in Genf Hai sich am Montag aus unbestimmte Zeit vertagt. Die Einberufung des Ausschusses zu seiner nächsten Tagung, die jedoch nicht vor der Vollversammlung des Völkerbundes im September stattfinden wird, ist dem Präsidenten des Ausschusses, PolitiS, überlassen worden. Der Ausschuß wird erst dann wieder zu sammentreten, wenn die fünf großen Seemächte dem Präsidenten Mitteilung von einer erfolgten Einigung in den Flottenverhandlungen gemacht haben werden. Bor der Vertagung erklärte Graf Bernstorff, die deutsche Regierung verlange so bald wie möglich die Einberufung der Abrüstungskonferenz, und er for dere deshalb den baldigst-müglichen Zusammentritt des vorbereitenden Abrüstungsausschusses. Für den deutschen Osten. Stahlhelmkundgebung i« Königsberg. Der erste Maisonntag brachte eine ganze Anzahl ' von Kundgebungen für den deutschen Osten, insbe sondere für die Provinz Ostpreußen. Die größte Kund gebung des Tages bildete der ostdeutsche Stahl- yelmtagin Königsberg, der ursprünglich in Danzig abgehalten werden sollte, wegen der ablehnenden Hal tung des Danziger Senats aber nach Ostpreußen verlegt : werden mußte. Die Veranstaltung begann mit einem ! Frontsoldatenappell, zu dem 16 000 Stahlhelmleute auf dem Walter-Simons-Platz Ausstellung genommen j hatten. Nach Ansprachen der beiden Bundesführer Seldte und Düsterberg wurde eine Entschließung an- ! genommen, in der es u. a. heißt, daß das Verbot , der Stahlhelmtagung in Danzig viele Kameraden dar an gehindert habe, die schöne alte Stadt in ihrem schweren Kamps gegen das Polentum kennenzulernen. Der Aufmarsch in Königsberg bring« den Willen zum Ausdruck, die Provinz unter allen Umständen dem j Reiche zu erhalten. * «in Appel» OftPre«ßenS. Eine zweite große Kundgebung für den gefährde ten deutschen Osten fand in Magdeburg statt. Hier sprach das Mitglied des RetchsratS und Preußischen Staatsrats Freiherr v. G a y I - Königsberg über „Die Notlage Ost- und WestpreußenS", daß allmählich Re gierungen und Parlamente den Ernst der Lage er fassen und Abhilfemaßregeln treffen, daß manches ge schehen ist und demnächst geschehen soll, um der Not hier und da zu begegnen. Aber au« der Tatsache, — so führte der Redner aus — daß wir allein, losgelöst vom Mutterlands, auch für die Zu- kunft unsere schwere Aufgabe als das äußerste nach Osten vorgeschobene Bollwerk des Deutsch tums weiter erfüllen müssen und wolley, folgern wir.