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Beilage zur Weitzeritz-Zeitung Nr. 288 Donnerstag, am 12. Dezember 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. - Reichspräsident von Hindenburg gab zu Ehren des GeneralfeldmarschMs von Mackensen «in Frühstück. - Die Reichstagsfrakttonen beschäftigten sich am Diens tag mit den Reformvorschlägen der Reichsregierung. — Als mutmaßlicher Düsseldorfer Massenmörder wurde in Nowawes bet Potsdam der Knecht Nestroy verhaftet. — Der Ozeanflteger Hauptmann a. D. Köhl befindet sich auf einer Reise nach Amerika. — Der seit Tagen im Nordseeküstengebiet herrschende Sturm hält an. In der Nordsee liegen etwa 20 Schiffe betgedreyt. — Der deutsche Dampfer „Ambria", 1381 Tonnen groß, befindet sich mit gebrochenem Ruder in Seenot. Der holländische Schlepper „Nieuwediep" ist zur Hilfe leistung ausgefahren. — Das Rctchskabinett beschäftigte sich unter dem Vor- sitz des Reichskanzlers nochmals mit dem Finanzprogramm. - Der Staatsgerichtshof hat die Klage rheintsAiwst- fälischer Städte wegen der Umgemeindungen im Westen zurückgeiResen^^^^^^ deutschen Kolonisten aus Moskau sind nunmehr beendet: gegenwärtig befinden sich 5377 deutsch-russische Bauern in Deutschland. — Die französische Regierung beschloß die Verlegung des Beginns des Haushaltsjahres vom 1. Januar auf den 1. Apttl. — «et ver Katastrophe in Namur sind nach den letzten Nachrichten zehn Personen ums Leben gekommen. — Infolge der Stürme und des anhaltenden Regens ist das Themsegebtet meilenweit überschwemmt. — Soeben wurde die neue Luftlinie Italien—Tunis für den Passagierverkehr eröffnet. Die Verbindung siebt Linien zwischen Rom und Tunis, Rom—Cagliari-Tunis sowie zwischen Palermo und Tunis vor. — Vor einigen Tagen erfolgte aus einem der nord- westlichen Krater des Aetna ein kleiner Ausbruch, d»» jedoch keinen Schaden anrichtete. Hilfsaktion für de« Osten. Lurchführungsfrist: 10 Jahve. — Berlin, 11. Dezember. Wie Ministerialdirektor Rathenau im Grenzaus schub des Preußischen Landtags mitteilte, sind Reich und Preußen nach längeren Verhandlungen zu dem Ergebnis gekommen, daß angesichts der Verhältnisse im deutschen Osten mit kleinen Mitteln nichts mehr zu retten ist, sondern daß es einer großzügige« Hilfsaktion bedarf. Die Not der deutschen Ostmark, das kann nicht genug betont werden, resultiert aus der Grenzziehung, die eine Spitzenleistung des politischen und wirtschaft lichen Unsinns darstellt. Zn der Mantelnote zum Versailler Friedensvertrag heißt es zwar, man habe Deutschland „alle die Gebiete gelassen, die von einer überwiegend deutschen Mehrheit bewohnt sind und die im Westen an deutsches Land grenzen", doch ist das eine Behauptung, die in den Tatsachen keine Stütze findet. Zugegeben, daß Deutsche und Polen nicht überall durch eine scharfgezeichnete Sprachgrenze ge trennt sind; wo aber eine solche Sprachgrenze in Er scheinung tritt, da verläuft sie regelmäßig stark östlich der politischen Grenze. Das will besagen, daß die deutsch-polnische Grenze von 1919 ein schreiendes Unrecht ist! Polen hat die rein deutschen Sprachgebiete im Netzegau, bei Ko nitz, bei Birnbaum, bei Lissa und Rawitsch erhalten, ja, dem polnischen Staat sind sogar Ortschaften und Landstriche einverleibt worden, in denen 1919 kein einziger Pole zu finden war. War die Grenzziehung im Osten somit Politisch ein ! Unglück und ein Verhängnis, so war sie das erst recht in bezug auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge. - Die deutschen Ostprovinzen sind ein wirtschaftliches und kulturelles Trümmerfeld! Das unterste wurde ; zu oberst gekehrt, engste Zusammenhänge wurden durch < die Grenzlinie zerschnitten. Verläuft die Grenze doch so, daß manchmal eine Stadt von ihrem Bahnhof oder gar ihrem Wasserwerk abgetrennt wurde. Die Folge davon ist, daß hochentwickelte Kulturanlagen — Pro dukte jahrzehntelanger Arbeit — vernichtet wurden oder doch ernstlich gefährdet sind. Aber nicht nur das, es gibt auch viel sterbende Städte in den östlichen Grenzmarken, und von einzelnen sagte man, sie seien gewissermaßen aus Abbruch zu verkaufen. Und doch wäre nichts verfehlter, als wenn man nun die Hände verzweifelt in den Schoß legen wollte. Es ist traurig, daß die Grenzziehung schlimme Not über den Osten brachte, es ist katastrophal, daß z. B. allein in der Grenzmark Posen-Westpreußen sich 14 Eisenbahnlinien, 13 Landstraßen und 201 Wege an der Grenze totlaufen und das Vieh an den aufge- rissenen Eifenbahndämmen weidet; aber die Parole kann nicht lauten: fort aus dieser toten Zone, sondern die Bevölkerung mutz ausharren und wachse«, und Sache des Reiches und des Staates ist es, der Bevöl kerung das Verbleiben auf der Scholle nach Möglich keit zu erleichtern! Die Hilfsaktion für den deutschen Osten ist deshalb m der Tat dringlich. Wie man hört, ist daran ge dacht, einig« hundert Millionen Mark, ver teilt auf einen Zeitraum von zehn Jahren, für die Gesundung des Ostens auszuwenden. Die Hilfe soll Ah erffrecken in erster Linie auf die Förderung der Landwirtschaft «IS HauptwirtschaftSzwetg der Ostgebiete, ferner sollen der Verkehr gefördert und sozialpolitisch« ' und kulturelle Maßnahmen in« Auge gefaßt werden. «°r allem handelt es sich natürttch um die Hebung der Wirtschaftslage nicht, daß der Mensch allein vom Brot lebt, aber der deutsche Bauer und Arbeiter im Osten können ihre nationale Miffio» nickt erküllen. wenn sie an ihrer wirtschaftlichen Existenz verzwei feln müssen. Schwierigkeiten wird es bei der Verabschiedung der Hilfsvorlaae nicht aeben: sämtliche Fraktionen sind mit der Regierung darin einig, daß etwas geschehen muß, und daß das bald sein muß. Räumlich soll sich die Hilfsaktion erstrecken auf Ostpreußen, di< ! Grenzmark Posen-Westpreutzen, Oberschlesien, die an Polen grenzenden Kreise Niederschlesiens, ! aus Teile der Provinz Brandenburg, die ja — waS ! vielfach nicht bekannt ist, — heute auch Grenzland ge- ! worden ist — und auf die Ostkreise Pommerns, ! Die Erhaltung und Stärkung des deutschen Ostens ! ist zugleich die beste Politik, um die Möglichkeit zu einer Wiedergutmachung des Unrechts im Osten offen zu halten. Der Glaube, daß die Versailler Regelung keinen Ewigkeitswert haben kann, ist in den Herzen der gesamten Bevölkerung lebendig, jetzt gilt es auch durch reale Maßnahmen zu zeigen, daß Deutschland sich im Osten zu behaupten versteht. Wenn wir schon die Hoffnung haben, daß auch den deutschen Volks genossen jenseits der Grenze einmal wieder Gerech tigkeit werden wird, dann erfordert das, datz das deutsche Grenzgebiet gesund und lebensfähig er halten wird. Fraktionsführer beim Kanzler. Bekanntgabe »er Grunvzüge des Ainanzprogramms- Steuerermäßigungen in Höhe von insgesamt 1,75 Mil liarden Mark? — Berlin, 11. Dezember. Reichskanzler Hermann Müller empfing Bertreter der Reichstagsfrakttonen der Regierungsparteien und unterrichtete sie über die von der Regierung ins Auge gefaßte« Maßnahmen zur Finanz- «nd Steuerreform. Wie verlautet, hat der erst« Entwurf des Reichsfinauz- Ministers in der Kabinettsberatung einige Abände rungen, zum Teil solche von wesentlicher Ratnr, er fahre«. Nach der Besprechung beim Reichskanzler Un terrichteten die Finanzsachverständigen ihre Fraktionen. Tie Anssprache beim Kanzler war vertraulich. Als Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion nahmen die Abgeordneten Breitscheid, Löbe, Herz, Wels und Dittmann an der Konferenz beim Reichskanzler teil; die deutsche Bolkspartei war durch die Abgeord neten Zapf und Hoss vertreten, das Zentrum durch Brüning und Ersing, die Demokraten durch die Par lamentarier Haas und Fischer und die Bayrische Volks- Partei durch den Prälaten Leicht. Wie uns auS parlamentarischen Kreisen mitgeteitt wird, erstrebt das Ganierungsp, ramm der Regierung eine ehrliche Bereinigung des Reichshaushaltsplans auf der Grundlage des Aoungplans «nd eine Entlastung der Wirtschaft dnrch Steuersenkungen bis znm Gesamt betrag von 1,75 Milliarden Mark. Zur Teckuug der SteuerauSfälle sollen teilweise Stencrerhöhungen auf entbehrliche Genutzmittel — z. B. Bier und Tabak — erfolgen. Ferner soN das Saniernngsprogramm eiue Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversichernng um V, Prozent vorseheu. Tie Durchführung des Re formprogramms soll sich auf mehrere Jahre verteilen. Welche Steuer« werden ermäßigt? Ueber die Einzelheiten des Steuersenkungspro gramms sind zahlreiche Kombinattonen im Umlauf, deren Richtigkeit sich jedoch wegen des vertraulichen Charakters der Besprechungen nicht nachprüfen läßt. Wir beschränken uns daher aus die Wiedergabe' einer Meldung, nach der die Steuerermäßigungen bei der Einkommensteuer insgesamt eine Milliarde Mark, bei der Jndustriebelastung 300 Millionen Mark, bei den Realsteuern 400 Millionen Mark und bei der Renten bankbelastung — die völlig in Fortfall kommt — 100 Millionen Mark ausmachen sollen. Ferner ist daran gedacht, durch ein Sperrgesetz den Umfang aller Ausgaben der öffentlichen Hand auf mindestens fünf Jahre hinaus zu regeln. Di« Stimmung »er Fraktionen ist geteilt. Kein Zweifel besteht aber darüber, daß es an ernsten Bedenken in bezug auf die einzelnen Vor schläge der Regierung nicht fehlt. So kann sich die volksparteiliche Fraktion nicht für die Erhöhung der Beiträge zur Erwerbslosenversicherung erwärmen, wäh rend die Sozialdemokratie gegen eine Belastung des Verbrauchs Abneigung hat. Der Widerspruch der Bayrischen Volksparter gilt vor allem der geplanten , Erhöhung der Biersteuer. Weu« somit auch »aS Reichskabin«tt über die Grundzüg« der Resorm einig ist, so bestehen doch noch erhebliche Differenzen zwischen de« Fraktionen, ««» es wird schwer halten, hier alle Parteien unter einen eine» Hnt zn bringen. Die deutschnationale Krise. Nen« ««Stritte christlicher Gewerkschaftler. — Treu- ! knndg«b«ngen mehrerer Landesverbände. j -sie deutschnationalen Vertreter aus der christ- ncyen Gewerkschaft«- und evangelischen ArbettervereinS- bewegung, Baltrusch Mitgliä des Reichswirtschasts- AA Rudolph, Thränert, Blum und Swolph veröf fentlichen eine Erklärung in der es heißt: „Die katastrophale Entwicklung, di« die Deutsch- nattonale Bolkspartei unter der Führung ihres der. zeitig«, Borsitzcmden, Geheimrats Hugenberg, genom men hat, insbesondere das Vorgehen gegenüber un seren Freunden Hartwig, Lambach und Hülser, ver anlaßt auch un«, da« Band -wischen un« und der Partei zu zerschneiden. Wir haben uns ehrlich um die Durchsetzung einer Volksgemeinschaft in und durch s cne Parre, vemuyr, es war umsonst. Nun ist die Bahn frei für eine deutsche christliche und soziale Bewegung aus den breiten Schichten des Volkes heraus." Im Anschluß an die Kundgebung deutschnattonaler Führer haben sich mehrere Landesverbände der Deutsch nationalen Volkspartei abermals mit der politischen Lage befaßt und dem Parteiführer Dr. Hugenberg das Vertrauen ausgesprochen. U. a. der LandeSvorstand in Württemberg, der Landesvorstand von Düsseldorf-Ost und der Landesverband Potsdam II. Großadmiral von Tirpitz richtete an den Führer der bayrischen Deutschnattonalen Dr. Hilpert «n Schreiben, in dem er ausführt, die Vorgänge in der Partei hätten ihn wahrhaft erschüttert. Die Partei müsse einig bleiben. Aufruf »eS Reichsausschusses. Das Präsidium des Reichsausschusses für das Volksbegehren hat unter der Parole: „Volk gegen Reichstag" einen Ausruf für das „Ja" zum Volks entscheid erlassen. Die Feststellung der Reichsreaierung nach der für die Annahme des Volksentscheids 21 Mil lionen Stimmen erforderlich seien, widersprech« dem Sinne der Verfassung. Netchsbahn-Tartferhöhrmg vertagt. Wie eine Korrespondenz meldet, haben zwischen einem Ausschuß des Reichskabinetts und der Reichs bahn Verhandlungen über die von der Bahn gefor derte Tariferhöhung stattgesunden. Ein Einvernehmen konnte bei diesen Besprechungen nicht erzielt werden; die Frage der Tariferhöhung gilt vorläufig als ver tagt. Nach dem Abschluß der Haager Konferenz sollen dann erneut Verhandlungen über die Entlastung der Reichsbahn ausgenommen «»erden. Hilferdings Programm. Steuersenkungen und »ene »etastnngm. — Berlin, 12. Dezember. Das vom ReichSstnanzminister Dr. Htlfttdtng ent worfene und vom Kabinett nach einigen Abänderun gen den Fraktionen unterbreitete Finanzprogramm bil dete am Mittwoch erneut den Gegenstand eingehende» Verhandlungen. Die Fraktionen setzt«, ihre am Vor tage unterbrochenen Beratungen fort, zwischendurch verhandelten die Unterhändler der Parteien mit dem Reichskanzler. Bon dem Ausgang de« Verhandlungen hing das Schicksal des Finanzprogramm« und da« v« Reichsregierung üb. Das Finanzprogramm selbst umfaßt vier-eh« Punkte; für seine Durchsetzung werden etwa fieb« zehn Gesetzentwürfe erforderlich sein. Die Durchsatz, rungSsrtst soll fünf Jahre betragen. In seinem wesentlichsten Teil sieht das FinanN Programm Dr. Hilferdings folgende Maßnahmen vor« 1. Senkung der Einkommensteuer, und -war durch Heraussetzung des steuerfreien Einkommen teils und Verbesserung der Kinderermäßigung als auch durch Herabsetzung und Auseinanderziehung des Ta rifs. Vorgeschlagen wird, die Senkung in drei Etap, Pen zu vollziehen, und zwar beginnend mit dem 1, Juli 1930, dem 1. Januar 1932 und dem 1. Jun 1933. Der steuerfreie Lohnbettag für den ledigen Arbeiter wird von 1200 auf 1440, 1560 und 1800 Mark erhöht. Die Senkung des TarifeS wird durch schnittlich 12 v. H., 20 v. H. und 25 v. H. m» einem Höchstsätze von einem Drittel des Einkommens be tragen. Der Steuerabzug vom Kapitalertrag wird aufgehoben für die Zinsen aus festverzinslichen An leihen, die nach dem 31. Dezember 1929 ausgegeben sind. Weiterhin wird der Abzug für Versicherungs prämien erhöht. 2. Senkung der Vermögenssteuer durch Aufhebung für Vermögen bis zu 20 000 Mark. 3. Senkung der Gewerbesteuer um 20 vom Hundert und der Grundsteuer um 10 v. H. sowie weitere Senkung nach Inkrafttreten des Steuer vereinheitlichungsgesetzes bet einem Umlagesatz von mehr als 150 v. H. um 10 v. H. Länder und Gemeind«, dürfen fünf Jahre lang die Realsteuersätze nicht er höhen. 4. Abbau der Jndustriebelastung von jetzt jährlich 330 Millionen aus 250 Millionen im Jahre 1930 und völliger Fortfall der Jndustriebe- lastung im Jahre 1935. 5. Aufhebung der Rentenbankzinsen durch Verrechnung mit den Gewinnanteilen des Reiche« aus der Reichsbank. 6. Senkung der Gesellschaftssteuer und der Wertpapiersteuer auf je die Hälfte des aeltendenl Satzes, der Börsenumsatzsteuer um ein Drittel des geltenden Satzes. 7. Aufhebung der Zuckersteuer. 8. Erhöhung der Bi er steuer mit Wir kung vom 1. April 1930 um 50 v. H. entsprechend dem mit dem Etat 1929 vorgelegten Entwurf. 9. Heraufsetzung der Tabaksteuer auf Zigaretten und Rauchtabak, und zwar bet dov Zigarettensteuer durch Erhöhung der Zeichensteuer von 30 auf 33 v. H. und der Materialsteuer von 40Y aus 500 Reichsmark für einen Doppelzentner. Beim Rauchtabak durch Erhöhung der Zetchensteuer für Fein schnitt von 45 auf 60 v. H. und für Pfeifentabak von 20 auf 36 v. H. Einführung der Kontingentierung mr Zigaretten. Einstellung eines Betrages von fünf Millionen Reichsmark jährlich in den Haushaltsplan für Zwecke des Tabakbaues. Diese Erhöhung soll be> reits am 1. Januar 1930 in Kraft treten. 10 Neuregelung des Finanzausgleich» Einbeziehung der Biersteuer und der Einnahmen au«