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N Mit Voller Kraft gab der Kleine Gegenkurs, stemmte er sich gegen die Richtung des immer höherstrebenden Schlit tens. Einen Moment nur sah er den oberen Rand der Kurve, die dunklen Stämme der Bäume. Ein Bersten... ein Brechen...! Ein einziger Aufschrei des Publikums.. - Der Bob verschwang kopfüber in die Tiefe. Starres Entsetzen lähmte die Umstehenden. Doch schon war der Bahnarzt über die Kurve hinüber in den Wald gestürzt. Restloser Bruch! Das war das erste, was dieser seit vielen Jahren im Bobsportbetriebe bewanderte Mediziner konstatierte. Dann wendete er sich zu den Verletzten. Mühsam mach ten sie sich aus dem tiefen, verharrschten Schnee frei, der zwischen den hohen Tannenstämmen lag. , „Na, wo fehlt es?' Der Bremser war der erste, den der Doktor traf. > „Glück gehabt, nur ein paar Schrammen, wie es scheint.' pUnd die anderen?« „Alle ganz wohl. Der Mittelmann anscheinend Arm bruch ! Nur der Kleine.. „WaS ist mit ihm, wo liegt er ?« ' „Da am Baum.« Der Bremser zeigte in die Richtung. Und nun sah auch der Arzt. Mit dem Bug gegen eine mächtige Tanne lag, hochkant, der zertrümmerte Schlitten. Neben ihm, wenige Schritte davon entfernt, das Gesicht nach unten, halb vom Schnee verdeckt: die Gestalt des Kleinen. Mit Hilfe deS Bremsers und einiger beherzter Zu schauer, die herbeigeeilt waren, hob der Arzt den schweren Körper aus dem Schneebett. Vorsichtig legten sie die wie leblose Gestalt auf eine schneefreie Stelle. Der Arzt griff nach dem Puls. Kaum, daß ein leises Pochen zu spüren war. Bläulich zogen die Lippen einen Strich durch das noch immer energiegespannte, zuckende Gesicht. Die Krankenträger erschienen, betteten den Körper auf eine Bahre und trugen ihn bis zur Kurve zurück. Unheimlich stand der mächtige Eisblock, ernst, mah nend, schaute er auf die seltsame Talfahrt eines kleinen Menschenwesens, das ihm hatte trotzen wollen, um eines Menschen willen. Am Steuer des Sanitätsbobs nahm der Bremser Platz. Hinter ihm lag, mit dem Mantel des Arztes bedeckt, sein Führer, der kleine drahtige Sportwart. Das Schleppreis, von zwei Leuten beschwert, schlürfte traurig hinterher. Langsam, geräuschlos fast, glitt der Schlitten zu Tal. Vorbei an der 8-Kurve, vorbei (,n den Schneewänden der Geraden vor dem Ziel. Munter wehten die schwarzgelben Fähnchen über vie Bahn. In stummer Erwartung standen die Zuschauer, die Führer, die Bremser und die Mannschaften. Nur hin und wieder fiel ein Wort. „Er hatte zu hohes Tempo.' Der junge Führer hatte es zuerst gesagt, andere teilten seine Meinung. ' „Er hat den Sieg erringen wollen und alles auf eine Karte gesetzt.' Mitleidig, fast ein wenig geringschätzig, sagte es der lange Graf, doch ohne Boshaftigkeit und bei ßende Kritik. Weit zurück stand die „Bobsine'. Eine unendliche Leere, eine tiefe Stille war in ihr. Und nur immer wieder, mechanisch fast, von aufrich tiger Liebe und heißem Schmerz umwoben, svrach sie wie zu sich selbst die Worte: „Der Kleine.' Langsam nahte der traurige Zug. Eine eisige Stille, ans Herz greifend, breitete sich über die versammelten Kameraden. Langsam, geräuschlos fast, glitt der Schlitten mit seiner Last durch das Ziel. Ergriffen, als grüßten sie einen Toten, nahmen die Bobfahrer die Kappen ab vor ihrem todwunden Kamera den. Dann schlossen sie sich dem stillen Zuge an. Am Schluß ging die Schwester. Den rassigen Kopf tief gebeugt, schritt sie hinter dem Schlitten, der den Kleinen trug, hinter der stillen, langsam zu Tal wandernden Ge meinde. Sie wußte nicht, ob er lebte, ob es eine Hoffnung gab, ihm das Leben zu erhalten. Sie hatte nicht gefragt und wollte auch nichts hören. Nun war doch alles vorbei. Ihre Hoffnung, daß er die Meisterschaft erringen würde, ihre Sehnsucht nach einem lieben Wort von ihm nach dem Sieg, ihre Gedanken an die Zukunft. Vor dem Eingang zum Sanatorium machte der stille Zug Halt. Langsam schob sich der Schlitten durch die Pforte vor die Tür des Gebäudes. Zwei Krankenträger ergriffen die auf dem Bob stehende Bahre, hoben sie auf, und trugen sie in das Innere des Hauses. Leer stand der Schlitten, der den Kleinen zu Tal ge bracht, bei seiner letzten Fahrt über die Schierstädter Bahn. Ergriffenes Schweigen herrschte ringsum, und still ver harrten die Kameraden, wie zum Gebet. „Wir wollen gehen!' Der lange Gras, Deutschlands Meister im Deutschen Bobfahrerverband, sprach er kurz, unsicher, etwas weniger näselnd als sonst. Und truppweise schlossen sich die Mann schaften an. Niemand achtete auf die Schwester, niemand vermißte sie, und niemand störte sie in ihrem Schmerz, den sie still mit sich nach Hause trug. Auf ihrem Zimmer warf sie den Dreß ab. Stundenlang saß sie und sah hinaus auf die stille Straße vor dem Hotel. Tränenlos blickten ihre Augen, und aus ihrem schmerzverkrampften Herzen rang sich kein Seufzer, keine Anklage gegen das Schicksal. Nur als am Fahnenmast vor ihrem Fenster die schwarz gelbe Fahne des Schierstädter Klubs auf Halbstock ging, faltete sie stumm die Hände. Und ihre ganze Liebe, ihren ganzen Schmerz legte sie noch einmal in die Worte, die ihr Sein umfaßten: „Der Kleine...' So saß sie noch, als der Morgen über den Beraen auk- tauchte. Müde Schritte ließen sie hochfahren. Wer ging jetzt noch auf dem Korridor? Dann klappte die Tür des Bruders ins Schloß. Eine Zigarette im Munde, ließ er auf dem Balkon seines Zim mers die kalte Morgenluft durch seine übernächtigen Knochen fahren. * . *