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ZUR EINFÜHRUNG Die Legende hat sich dieses mächtigen, aber leider unvollendeten Werkes angenommen. Die Legende erzählt, daß Bach auf seinem Sterbelager als letzte Äußerung seines musikalischen Genies den Choral ,,Vor deinen Thron tret’ ich hiermit" niedergeschrieben habe. Es stimmt nicht ganz. Bach hat seinem Schwiegersohn Altnickol eine ganze Reihe von Chorälen und Choralvorspielen in die Feder diktiert unter denen sich jener Todeschoral befand. Bach war bis in die letzten Augenblicke seines irdischen Daseins mit rein sachlichst Dingen beschäftigt, die ihm sein musikalischer Beruf nahelegte. Bach war weder Metaphysiker noch Philosoph in jenen Tagen, in denen er sich auch mit der „Kunst der Fuge“ abgab, sondern lediglich ein aufs höchste geschulter Praktiker, der es sich selber zur Aufgabe gestellt hatte, die Kunstfertigkeit der Fugenkomposition in einem Schulwerk niederzulegen. Bach ging es nur um eine Aufzeichnung von Regeln und Gesetzen, es ging ihm um'eine beispielhafte Niederschrift rein eigengesetzlicher Formen der Musik, es ging ihm um eine Zusammenfassung aller jener Erkenntnisse, die eine intensive Praxis und eine immerwährende Beschäftigung mit der Materie ihm enthüllten: Seine jüngeren Zeitgenossen sahen in Bachs Bemühungen um die musikalische Form nur ein altfränkisches Schulmeistertum, dem sie Formalismus und Konstruktivismus vorwarfen. Seinen ungeheuren Fleiß, der sich in der Mannigfaltigkeit der 19 Fugen und Kanons dieses systematischen Werkes kundtat, be lächelten sie geringschätzig, weil sie ihn nicht als wesentlichen Bestandteil seines Genies erkannten. Nach Bachs Tode geriet dieses Werk mitsamt dem übrigen Schaffen Bachs in eine jahrzehntelange Ver gessenheit. Als man sich seiner wieder entsann, verknüpfte man die beiden Werke, mit denen sich Bach vor seinem Tode beschäftigt hatte, und rundete die unvollendete „Kunst der Fuge" mit einem der Choräle ab, die Bach diktiert hatte. Sinnigerweise wählte man den Todeschoral aus. Er hat zwar keine Beziehung zu dem Schulwerk, aber er verleiht ihm eine romantische Wirkung. Bachs Größe liegt jedoch auf einem ganz anderen Gebiet. Bach hat nämlich zu diesen 19 Fugen und Kanons ein einziges Thema benötigt. Daß er trotz dieser freiwilligen Beschränkung eine Fülle der Ge sichte und Vielfalt der Formen erzielte, liegt an seinem überragenden handwerklichen Können. Er beherrschte eben die Möglichkeiten des Formens und der Formen, die Kunstfertigkeit des Gestaltens war ihm zur zweiten Natur geworden. Die Handgriffe der Umkehrung, der Spiegelung, des Krebses, der Vergrößerung, der Verkleinerung, der Imitation, der Variation, der kontrapunktischen Verknüpfung standen ihm mühelos zu Gebote. Schon allein die Kombination dieser Handgriffe garantiert eine Vielfalt der Formen, die denn auch im Werke selbst sichtbar werden. Bach hat dieses Werk unvollendet hinter lassen. Es fehlen in der Partiturskizze, in seiner Niederschrift der Fugenstimmen alle Instrumentations angaben. Auch hier hat die Legende eingegriffen und behauptet, er habe von einer irdisch-unzuläng lichen Darstellung absehen wollen und deshalb jene abstrakt-mathematische Art der Niederschrift gewählt. Ein solcher Mystiker war jedoch Bach nicht. Er war zeit seines Lebens viel zu gewissenhaft, so daß er auch hier durch genaue Angaben seine Absichten eindeutig festgelegt haben dürfte, falls er dazu noch Zeit gehabt hätte. Wolfgang Graeser hat das Verdienst, dies Riesenwerk neugeordnet und instrumentiert zu haben. Johannes Paul Thilman