Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeriy-Jeilung Nr. 243 Donnerstag, am 17. Oktober 1929 95. Jahrgang . Chronik des Tages. — Die aus der Haager Konferenz eingesetzten Aus schüsse wurden von dem Vorsitzenden der Konferenz aufge fordert, ihre Arbeiten zu beschleunigen. — Der Preußische Landtag unterbricht am heutigen Donnerstag seine Plenarberatungen bis Mitte naäMr Woche. - Der Buchhalter Lehmann, der mit den SNarers in Untersuchungshaft sitzt, ist nach eingehender ärztlicher Untersuchung in das Lazarett des Moabiter Untersuchungs gefängnisses überführt worden. — In Berlin ist man einer internationalen Dollar fälscherbande auf die Spur gekommen. - Das seit dem 22. Dezember vorigen Jahres ver schollene dänische Schulschiff „Kobenhaven" ist endgültig aufgegeben worden. , - Im nordwestbühmischen Braunkohlenrevier ist ein Streik ausgebrochen. — Am heutigen Donnerstag wird in Innsbruck der Prozeß Halsmann wieder ausgenommen. Soll und Haben. — Berlin, den 17. Oktober. An der Jahreswende zieht der Geschäftsmann in seinen Büchern einen Schlußstrich und errechnet, ob er mit Gewinn oder mit Verlust gearbeitet hat. Aehn- lich verfährt man auch in der Volkswirtschaft, nur sind die Jahresbilanzen hinsichtlich der Gesamt wirtschaft vielfach wenig aufschlußreich. Interessantere Einblicke gewähren die Bilanzen eines längeren Zeit abschnittes. Betrachtet man so die ersten zehn Jahre der Wirtschaftsentwicklung der Nachkriegszeit, deren Er gebnisse jetzt vorliegen, dann zeigt sich, daß alle diese Jahre insofern einander ähneln, als sie alle viel Schat tenseiten und einige Lichtpunkte aufweisen, dann er kennt man aber auch einen Einschnitt, der in die Jah reswende 1923-24 fällt und der die ersten fünf Jahre der Nachkriegswirtschast deutlich von den Jah ren nach der Liquidation des Ruhreinbruchs und der Inflation trennt. In den Jahren bis Mitte 1924 ging es unauf haltsam bergab. Verfallerscheinungen in Staat und Wirtschaft waren an der Tagesordnung. Die Er- tragsfähigkeit der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion wurde geringer, die Not weiter Volks- kreise größer und größer. Nach der Stabilisierung be gann dann ein Jahrfünft zäher und erfolgreicher Wie deraufbauarbeit. Der Umsatz im Außen- und Binnen handel wurde größer, der Wert der erzeugten Güter stieg, die Lebenshaltung des deutschen Volkes hob sich allmählich, die deutsche Wirtschaft schaltete sich wieder mehr und mehr in die Weltwirtschaft ein, aus dem Nichts entstand eine neue deutsche Handelsflotte, tech nische Großtaten, die Zeppelinflüge und die Ruhmes tat der „Bremen" lenkten.Die Äugen der Welt auf Deutschland und offenbarten, daß die Lebenskraft des deutschen Volkes trotz Krieg und Umsturz nicht ge brochen ist. Will man die Ergebnisse der deutschen Wieder aufbauarbeit richtig einschätzen, dann darf man frei lich nicht den Tiefstand der deutschen Wirtschaft zum Ausgangspunkt machen. Im Vergleich mit den Zahlen von 1924 müßte heute in Deutschland ein Wohlstand herrschen, der nicht seinesgleichen hat. Daß das aber nicht der Fall ist, ist uns allen nur zu gut bekannt. Die Grundlage der industriellen Produktion bil- den Kohle und Eisen. '1924 betrug die Förde rung an Steinkohlen im Monatsdurchschnitt 9,8 Mil lionen Tonnen, 1928 dagegen 12,6; Braunkohlen wurden 1924 im Monatsdurchschnitt 10,3 Millionen Tonnen gefördert, 1928 13,7 Millionen; für Roheisen lauten die entsprechenden Ziffern 841 000 und 984 000 Tonnen. Aehnlich verhält es sich mit der Landwirtschaft. Zn den Jahren 1924 bis 1927 wurden durchschnittlich 14,8 Doppelzentner Winter roggen, 11 Doppelzentner Sommerroggen und 130 Doppelzentner Kartoffeln pro Hektar geerntet; für 1928 betragen die Erträge an Winterroggen 18,5, in Sommerroggen 13,5 und an Kartoffeln 144. Vergleicht man diese Ziffern jedoch mit den Er gebnissen des letzten Norckaljahres der Vorkriegszeit, kann ist festzustellen, daß sie nur wenig über den Zif fern von 1913 liegen. Das Ziel der deutschen Wie deraufbauarbeit kann aber nicht die Erreichung der Vorkriegsziffern sein, vielmehr müssen wir Ergeb- aisse erzielen,, die die der Vorkriegsjahre weit über treffen! Die Produktion muß sich von Jahr zu Jahr entfalten, um mit der Zunahme der Bevölkerung Schritt zu halten, sie muß ferner Mittel liefern, damit vir die zusätzlichen Zahlungen infolge des verlorenen Krieges leisten können. Die Not der deutschen Wirtschaft, die sich in der hohen Verschuldung der Landwirtschaft, in dem An wachsen der Arbeitslosigkeit und in dem erschreckend hohen Stand der Konkurse und der Wechselproteste, in den hohen Zinssätzen und in den niedrigen Effekten- kursen spiegelt — um nur einiges herauszugretfen — hängt nicht nur damit zusammen, daß die Beschäfti gung nachgelassen Kat, vielmehr zeigt alles das auch, daß die deutsche Wirtschaft die Verlagerungen infolge des Krieges noch nicht überwunden hat. Auch das Fundament der deutschen Wirtschaft weist große Risse auf! Verwunderlich ist das freilich nicht. Durch Ge- btetsabtrennungen erfuhr die deutsche Produktions- grundlage «ine Schmälerung; wir verloren das el sässische Kali, die lothringischen Erze, die vstober- schlestsche Kohle, landwirtschaftliche Ueberschußgebiete, die Kolonien wurden uns genommen, das Saargebiet wurde vom Reick abaetrenntt die Einheit des deutscken Wirtschaftsgebietes leidet infolge des polnischen KoM dors, das Geldkapital ging in der Inflation zu er heblichen Teilen verloren, das Sachkapital — Ma schinen, Eisenbahnen, PröduktionSanlagen — wurde durch Raubbau entwertet; dazu Iommi die Umwand lung des osteuropäischen Staatensystems. Alles das hat die deutsche Wirtschaft und das deutsche Volk natürlich empfindlich beeinflußt. Innere- halb weniger Jahre sind die Folgen dieser tiefgreifen den Veränderungen nicht zu überwinden. Es bedarf vielmehr harter Arbeit und nüchterner Ueberlegung. Und letzten Endes wird uns ein voller Erfolg nur dann beschieden sein, wenn es uns gelingt, Staat und Wirtschaft vor neuen Erschütterungen ru be wahren. Hindenburg-Brief an denKanzler Di« Person des Reichspräsidenten darf nicht kn die Volksbegehren-Agitation hinetngezogen werden! — Berlin, den 17. Oktober. Reichspräsident von Hindenburg hat fotzendes Schreiben an den Reichskanzler Hermann Müller ge richtet; Sehr geehrter Herr Reichskanzler! Mit steigendem Befremden habe ich die Wahr-! nehmung machen müssen, daß in dem Kampf um das Volksbegehren sowohl von dem Reichsausschutz für das Volksbegehren, als auch von den das Volks begehren bekämpfenden Parteien und Gruppen meine Person und meine mutmaßliche Persönliche Meinung zur Frage des sogenannten Aoungplans in die Agitation hineingezogen wird. Von de« einen Seite wird behauptet, daß ich ein Freund des Volksbegehrens wäre, und von der anderen Seite behauptet man, daß ich mich für die An nahme des Uoungplans festgelegt hätte. Demgegenüber stelle ich fest, daß ich nieman dem die Ermächtigung erteilt oder sonst einen An laß gegeben habe, meine persönliche Meinung zu diesem Problem bekannt zu geben. Ich habe im Gegenteil stets betont, daß ich mir meine endgültige Stellungnahme zu dem Yonngplan bis zu dem Zeitpunkt Vorbehalte, in dein dies« hochbedeutsame Frage zur Erledigung reif ist und nach Maßgabe der Artikel 70, 72 und 73 der ReichSverfassung zur Entscheidung über eine Verkündung oder eine Aussetzung der Verkündung verfassungsmäßig zu- standegekommener Gesetzesbeschlüsse an mich heran tritt. Und hieran halte ich nach wie vor fest. Ich bitte Sie, Herr Reichskanzler, hiervon Kenntnis zu nehmen und das Vorstehende den im Kamps gegen das Volksbegehren beteiligten Par teien und Gruppen in der Ihnen geeignet erschei nenden Weise zur Kenntnis zu geben. Mit freundlichen Grüßen bin ich Ihr ergebener gez. von Hindenburg. Bon seiten der Reichsregierung wird dazu be merkt: Die Reichsregierung erwartet, daß die an der Agitation für und gegen das Volksbegehren beteiligten Gruppen, vor allem der Reichsausschuß für das Volks begehren, die Person des Reichspräsidenten entspre chend seinem Wunsche nunmehr im Nieinungsstreit um die Gesetzentwürfe fernhalten. * „Das Gebot der Stunde". rier volksparteilich« Abgeordnete v. Kardorff veröffentlicht in der deutschnationalen „Berliner Bor- sen-Zeitung" einen „Das Gebot der Stunde" über- - schriebenen Artikel, mit dem er nach einer Kritik > der Auflösung der rheinischen Stahlhelmorganisa- j ttonen sich scharf gegen das Volksbegehren wendet, i v. Kardorff schreibt, „die Verschärfung der Gegensätze ; sei durch das Volksbegehren außerordentlich gefördert, i Hugenbergs schwere Sünde sei, daß bei der Propa- j gierung des Volksbegehrens die Demagogie Orgien feiere." Der Artikel klingt aus in der Mahnung an das Bürgertum, sich zu einigen. Nur ein ge schlossenes Bürgertum werde seine berechtigten wirt schaftlichen Forderungen durchzusetzen vermögen. Der Artikel erregt allgemein großes Aufsehen, weil man darin ein erstes Signal zur Herausbil dung neuer Fronten liest. Flottenkonferenz gesichert. Ml« Mächte haben zugestimmt. — Englands Bot schafter auf den Bermudas. — Abschiedsbotschaft Macdonalds. — London, den 17. Oktober. Die englische Regierung ist nunmehr im Besitz der Antwortnoten der Seemächte auf die Einladung zur Flottenkonserenz. Sämtliche Mächte haben sich ! bereit erklärt, an der Flottenkonferenz im Januar ! teilzunehmen. Ueber di« Tagesordnung der neuen Konferenz zur Begrenzung der Seerüstungen schweben noch Verhandlungen zwischen den Regierungen. Viel erörtert wird die Anwesenheit de» britische« Botschafters 1« Washington ans den Vermudas-A«- sel«, der dort seinen Urlaub verbrtuat. Amtli«e»seit» wird betont, bei dem Besuch des Botschaften auf den Bermudas-Inseln handelt es sich um ein» Pri vatangelegenheit, der Botschafter wolle dort lediglich seinen Urlaub verbringe«. Trotzdem ist in «eite« Kreisen die Auffassung vorherrschend, daß diese Reis« mit der möglichen Aufgabe oeS britischen Klotten- stiitzpunktos auf den Bermudas im Zusammenhang steht. Mit der eventuellen Preisgabe der Flottenstütz punkte in den amerikanischen GÄvässern will England bekanntlich der neuen Freundschaft mit Amerika Dauer verleihen. Vorerst hat man es aber wohl lediglich mit Erwägungen zu tun. Gegenüber den übrigen bri tischen Flottenstützpunkten vor der amerikanischen Küste kommt den Bermudas besondere Bedeutung zu, weil sich aus dieser Inselgruppe eine Schiffswerft und grö ßere Reparaturwerkstätten befinden. Der britische Ministerpräsident Macdonald, der gegenwärtig in Kanada weilt, hat an das amerika nische Volk eine Abschiedsbotschaft gerichtet, in der es zum Schluffe heißt: „Ihr Präsident und ich hatten den Vorzug, di« Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern um» di« Förderung des Weltfriedens in einem Geist der De mokratie und der Offenheit zu erörtern. Ich habe versucht, klar zu machen, wie ernsthaft die Bevölkerung des britischen Weltreiches Ihre Gebete teilt, datz der Krieg aushören soll. Ich überschreite die Grenze, reich an Beweisen, daß der Atlantik uns trennt, datz die Sache des Friedens uns aber vereinigt." Amerika die größte Seemacht. — Parts, den 17. Oktober. Der „Matin" behandelt in einem längeren Ar tikel das Zugeständnis Englands an Amerika, datz die amerikanische der englischen Flotte gleich sein solle. Die Zeitung schreibt dazu, die Stärke einer Flotte hänge nicht nur von der Zahl ihrer Einheiten ab, entscheidend sei vielmehr die Möglichkeit einer raschen Zusammenziehung sämtlicher Streitkräfte. Wenn da her 1936 die amerikanische Flotte ebensoviel Kriegs schiffe zähle, wie die englische, obwohl Englands Ge schwader über die ganze Welt verstreut seien, dann wären beide Flotten einander nicht gleich, sondern die amerikanische Flotte wäre der englischen über legen. An Stelle Englands werde im Jahre 1936 Amerika die Meere beherrschen. Politische Rundschau. — Berlin, den 17. Oktober 1929. . , — Die Leiche des in Baden-Baden infolge Herz schlags verstorbenen belgischen Delegationsführers Delacroix wurde nach Brüssel übergeführt. * :: Koblenz am 30. November vollständig ge räumt. Nach dem Abtransport der französischen Re gimenter aus Koblenz sind in Koblenz der General stab eines Armeekorps, der bis 4. November auf gelöst sein muß, und ein General, der bis zum 30. November einige 100 Soldaten zur Verfügung hat, zurückgeblieben. Am 30. November wird kein fran zösischer Soldat mehr in Koblenz sein. Rundschau im Auslande. L Ter polnische Außenminister Zaleski begibt sich am 22. Oktober nach der rumänischen Hauptstadt Bukarest; Zaleski wird von mehreren höheren Beamten des Außen ministeriums begleitet. * In Agram kam es zu großen Kundgebungen gegen Italien: als die Demonstranten vor das italienNL- Kon sulat ziehen wollten, schritt die Polizei ein. * , Prügelstrafen im ungarischen Heer; * Der neue ungarisch« Landesverteidigungsminister unterbreitete dem Abgeordnetenhaus den Entwurf eines neuen Militärstrafgesetzes. Der Entwurf erregte großes Aufsehen, weil er die Einführung der Prügelstrafe vor sieht. Zur Verhängung der Prügelstrafe soll das Stand gericht befugt sein. Anwendung finden soll die Prügel strafe bei Delikten, für die gegenwärtig die Todesstrafe verhängt werden kann. Volksbegehren «nd Beamtenschaft. „Die Beamten dürfen die gebotenem Grenze« nicht überschreiten. Der Reichsminister des Innern Hat das an ihn gerichtete Schreiben des ReichSausschussaS ftlr das deutsche Volksbegehren vom 14. Oktober folgender maßen beantwortet: , . Die RetchSregierung ist bereit, die verfafsiurgs- mätzigen Rechte der Beamtenschaft vor federumuMs- KEVUWLLML N KAN sichen Rechte innerhalb des gebotenen Anstandes und msb^ndere^ überschreitet diese »-r deutschen Beamtenschaft teilt übrigen« die Reckts- überzeugung der RetchSregierung, wie sich au« den Aufrufen der Beamtenorgantsativnen ergibt. Li« Rcichsregierung ist nicht i« der Sage und Licht a«»kNt, Beamte, die durch Eintreten Vir tzjesen