Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weiheritz-Zeitung Nr. 300 Sonnabend, am 28. Dezember 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Las Reichskabinett faßte am Freitag über die Zusammensetzung der deutschen Delegation für Haag Be schluß. — Der amerikanische Botschafter in Berlin, Jacob Gould Schurina«», wird im Januar Deutschland verlassen und sich aus der Politik zuruckziehen. — Am Freitag traf der polnische Kriegsminister, Ge neral Sikorski, zu einem Besuch in Paris ein. — Die chinesische Regierung will durch einen Neu- jahrserlatz die Aufhebung der Sonderrechte der Ausländer verkünden. — In den Weihnachtstagen wurde in Berlin die Feuerwehr über 1 LOmal alarmiert. — Bet einer Weihnachtsfeier des Arbeiter-Theater bundes „Deutschland", Ortsgruppe Breslau, erkrankten meh rere Teilnehmer an Vergiftungserscheinungen. Bei der Untersuchung wurde Kohlenoxhdgas-Vergiftuna festgestellt. 26 Personen mußten dem Krankenhaus zugeführt werden. Lebensgefahr besteht jedoch bei keiner. — Der Athener Dampfer „Chrysis" wurde im Mar- mara-Meer von dem bulgarischen Dampfer „Warna" ge rammt und begann sofort zu sinken. Die 24köpfige Be satzung und drei an Bord befindliche griechische Hirten sind ertrunken. — In Xanthi in Griechenland stieß ein Lastkraft wagen mit einem Personenwagen zusammen. Das Unglück forderte elf Todesopfer. Simen Personen wurden ver wundet. — In Nalnutcove (Nordkarolina) ermordete ein vlötz- lich wahnsinnig gewordener Farmer seine Frau und seine sechs Kinder »m Atter von vier Monaten bis zu 17 Jahren. Nachdem er die Leichen für die Beisetzung her gerichtet hatte, verübte er Selbstmord Von Woche zu Woche. Randbemerkungen zur Zeitgeschichte. Die Weihnachtsferten der Parlamente haben in diesem Jahre in einigen Ländern erst sehr spät begonnen. So tagte z. B. der Reichstag noch am Sonn tag vor Weihnachten, das englische Unterhaus verhan delte zum erstenmal seit vierzig Jahren wieder am Heiligabend, und für das französische Parlament gab es überhaupt keine Weihnachtsferien. Von besonderer Bedeutung war die außenpoli tische Debatte in der Kammersitzung am zweiten Weih nachtstag; sie war der Außenpolitik gewidmet und führte zu heftigen Auseinandersetzungen des Minister präsidenten Tardieu mit seinen früheren Freunden von der Rechten. Tardieu, 1919 in Versailles ClS- menceaus bester Mitarbeiter, bekannte sich zu der Po litik seines Außenministers Briand und forderte die Kammer auf, sich klar für oder wider sein Ministerium auszusprechen, weil er es müde sei, sich von Par teien, die ihm Unterstützung zugesagt haben, dauernd in den Rücken fallen zu lassen. Nach Tardieu äußerte sich Herriot von den Ra dikalen über das Problem der Vereinigten Staa ten von Europa. Hierbei soll es sich nach Herriot weder um ein Aufgeben der nationalen Staatshoheit noch um einen Zollverein handeln, doch das sind ne gative Seiten, wie es sich positiv mit den Vereinigten Staaten Verhalten soll, darüber hat sich Herriot weniger klar ausgedrückt. Den Höhepunkt der Verhandlungen bildete dann eine Rede Briands. Briand war gut in Form und konnte zum Schlüsse seiner Ausführungen starken Bei fall ernten, besonders als er mit Pathos ausrief, das Volk sei schon stets eher geneigt gewesen, den ver führerischen Klängen der Kriegstrommeln und Trom peten zu lauschen, als den Worten des Friedens. Die Politik des Friedens sei zerbrechlich, so habe man sie auch in letzter Zeit wieder durch Attacken zu erschüttern versucht, trotzdem werde er diese Politik bis zum letzten Atemzug fortsetzen, auch wenn Flüche seinen Weg be gleiteten, denn so fordere es sein Glaube. Die sachlich-nüchternen Ausführungen Briands gal ten der Beweisführung, daß es unmöglich ist, ein 60-Millionen-Volk auf die Dauer durch Zwangsmaß nahmen zu beherrschen. Zusammenarbeit sei daher not wendig. Wäre Deutschland nicht dem Völkerbund bei getreten, dann hätten sich die Unzufriedenen in Europa um Deutschland geschart. Was die Räumung be treffe, sehe der Versailler Vertrag ausdrücklich eine Be schleunigung der Räumung für den Fall vor, daß Deutschland Beweise seines guten Willens gebe. Frank reich könne sich diesen Verpflichtungen nicht entziehen. Wenn Briand sich im übrigen vor der Kammer nochmals zu dem Satz bekannte: Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor, dann wird man diese Erklärung in Deutschland begrüßen, gleichzeitig aber auch den Franzosen den Wink geben, auch die Prakti sche Politik und die politischen Handlungen mit diesem Spruch in Einklang zu bringen. Eine gute Gelegenheit für die Prüfung der Stärke des fran zösischen Friedenswillens bietet nach wie vor die Haa ger Schlußkonferenz und vor allem die deutsch-fran- ' zomaw Taarronserenz, die in der ersten Hätfte des Januar in Paris wieder fortgesetzt werden wird. Die Vorbereitungen der Mächte für die zweite Konferenz im Haag stehen jetzt dicht vor dem Ab schluß. Das Reichskabtnett traf am Freitag in einem Kabinettsrat die letzten Vorkehrungen und beschäftigt« sich mit der personellen Zusammensetzung der deut schen Delegation. Die Abreise der deutschen Delega tion ist für den 2. Januar festgesetzt worden, da die Schlußkonferenz im Haag offiziell am Freitag nach, mittag 5 Uhr eröffnet werden wird. Die Sonderkonserenz der Sachverständigen der Gläubiger »nächte, die in den letzten Tagen in Paris stattfand, ist nach einer amtlichen Mitteilung damit zu Ende gegangen, daß die meisten Fragen, die be handelt wurden, geregelt worden sind. Insbesondere sei oer von ven Gläubigerstaaten mit der Reparattons- bank abzuschließende Treuhändervertrag endgültig fer tiggestellt und der deutschen Regierung zur Gegenäuße rung übermittelt worden. Daß es aber auch nach dieser Sonderkonferenz noch ungeklärte Fragen gibt, zeigt sich übrigens darin, daß der Gouverneur der Bank von Frankreich, Moreau, mit einigen Herren am Sonntag nach London fahren wird, um dort mit den Engländern neue Verhandlungen zu führen. Rußland hat in diesem Jahr zum erstenmal in seiner Geschichte überhaupt kein Weihnachtsfest mehr gefeiert! Im Zusammenhang mit dem verschärften Kampf der Sowjetbehörden gegen Kirche und Religion und unter den Folgen der Einführung der durch gehenden Fünf-Tage-Woche mit der Abschaffung aller kirchlichen Feiertage haben 80 v. H. der russischen Bevölkerung am Weihnachtstage arbeiten »müssen, der Verdienst aber wurde dem Jndustriealisierungssonds zugeführt. Da Gottesdienste aus Anlaß des Weihnachts festes verboten waren, sind in den Grenzbezirken zahl reiche Bauern auf polnisches Gebiet übergetreten, um dort am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen und sich an den Weihnachtsliedern zu erfreuen. Schurman verläßt Berlin. Im Januar Rückkehr des Botschafters in sein« Heimat. Endgültiger Abschied von der Politik. — Berlin, 28. Dezember. Der Botschafter der Bereinigten Staate,» in Ber. liu, Jaeob Gould Schurman, hat de» amerikanischen Präsidenten Hoover ernent um die Genehmigung des bereits bei dem Amtsantritt Hoovers eingereichten RÄck- trittsg«snchs gebeten. Präsident Hoover hat nunmehr »er Bitte des Botschafters entsprochen. Botschafter Schurman wird Berlin bereits im Januar verlassen; über den Nachfolger SchurmanS auf den Berliner Posten ist «och keine Entscheidung getroffen. Es ist kein Zweifel, daß man den Botschafter Schurman in Berlin nur ungern scheiden steht. Bot schafter Schurman hat in den vier Jahren seiner diplo matischen Tätigkeit in Deutschland sich die Wert schätzung aller Kreise erworben, mit denen er, sei es dienstlich oder persönlich, in Berührung kam. Immer hat er für den Ausbau der deutsch-amerika nischen Beziehungen gewirkt, auch ist er stets dessen eingedenk geblieben, was ihm die deutschen Bil dungsstätten und die deutsche Kultur gegeben haben. Wenn der jetzt 75jährige Berlin verläßt, um sich end gültig aus der Politik zurückzuztehen, wünschen ihm alle Kreise des deutschen Volkes einen ruhigen Le bensabend in seiner amerikanischen Heimat. * Jacob Gould Schurman. Jacob Gould Schurman wurde am 22. Mai 1854 in Freetown geboren und entstammt einer im Staat New Jork eingewanderten holländischen Familie. Aus den Universitäten in London, Paris, Edinburgh, Hei delberg, Berlin und Göttingen betrieb er aus gedehnte Studien der Rechtswissenschaften und Phi losophie und war dann als Lehrer der Philosophie an verschiedenen Anstalten tätig, bis er 181)2 Präsi dent der Cornell-Universität wurde, ein Amt, das er bis 1920 innehatte. In der Zwischenzeit hatte er zeitweise politische Aufträge. So war er 1899 auf den Philippinen als Präsident der ersten Philippinen-Kommission. Von 1912 bis 1913 war er Gesandter in Athen und gleich zeitig in Cetinje beglaubigt. Im Jahre 1921 wurde er erneut in der Diplomatie, und zwar als Gesandter in Peking, verwendet. Nach der Kriegserklärung hat sich Schurman zwar vorbehaltlos hinter Wilson gestellt, ihn aber nach Kriegsende heftig angegriffen, wie er sich auch gegen den Versailler Vertrag ausgesprochen hat. In einer New Aorker Rede vom 24. Oktober 1920 wandte sich Schurman scharf gegen den Imperialismus der Entente und betonte, daß niemals der Friede gesichert werden könne, wenn immer neue Mächtegruppierungen geschaffen und militärische Allianzen ins Leben ge rufen würden. 1S2S übernahm Schurman als Nachfolger Hough ton» die Leitung der amerikanischen Botschaft in Berlin. Neber seine Erfahrungen in Deutschland äußerte er in einer Rede in Amerika am 1. Dezember 1927 unter anderem: „ES war und ist ein unschätzbares Geschenk für das deutsche Volk, daß in dieser Zeit des politischen NSey- ganges »ym ais höchster Beamter ver rnevumir em wrann wie der Präsident v. Hindenburg beschicken wurde. Hindenburg ist der Washington von Deutschland — der Erste im Kriege, der Erste im Frieden und der Erste im Herzen seiner Landsleute." * Lie Universität Heidelberg verlieh Schur man 1927 gleichzeitig mit Dr. Stresemann die Ur kunde eines Ehrendoktors. Schurman sammelte dann im Winter 1927-28 in Amerika einen Fonds von 1Vi Million Mark zum Neubau eines Kollegienge- büudes in Heidelberg. Das „Deutsche Hans" verloren. Gröblich« Mißachtung der deutschen Minderheitenrechte durch das oberste südslawische Gericht. — Graz, 28. Dezember. Dem deutschen Schulverein „Südmark" in Graz ist soeben das Urteil des obersten Gerichtshofs des süd slawischen Staates zugestellt worden, durch das das heißumstrittene „Deutsche Haus" in Cilli endgültig den Deutschen entrissen und den Slowenen zugesprochen wird. Freilich hat man ber diesem Urteil doch nicht ge wagt, die einzigartige Begründung des Oberlandes, gerichtes in Laibach zu übernehmen, das die Nichtbeach, tung der unbestreitbaren Rechtsansprüche der „Süd- mark" damit rechtfertigte: „Eine Heimstätte für Deutsche, ein Haus für ihr« Vereine zu errichten und zu erhalten, sei unmora- lisch, und Verträge mit unmoralischen Zielen seien rechtsungültig." Aber auch die neue Begründung wär« wohl in keinem anderen Staat möglich gewesen: di« ,/Südmark" habe nicht bewiesen, so heißt es dort, daß sie im Jahre 1920 dieselbe sei wie 1889. Ler jahrelange Kampf ist ein lehrreiches Beispiel für die Art, wie an den. Sprachgrenzen gekämpft wird, wie zähe sich das Deutschtum seiner Haut wehrt, und mit welchen Mitteln es bekämpft wird! Das „Deutsche Haus" in EM, als deutsches BeretnS- heim in dieser bedrängten deutschen Sprachinsel von einem gleichnamigen Verein begründet, war nach dem Umsturz von diesem an elf deutsch« Bürger verkauft worden, um es dem Zugriff der Südslawen zu entziehen. Diesen Ver kauf, von einer ordentlichen Generalversammlung in An wesenheit des Regierungsvertreters geiwhmigt, sistierte di« slowenische Landesregierung mW löste gleichzeitig den Ver ein auf. Die Elf kämpften jahrelang, zweimal Über Kreis gericht und Oberlandesgericht zum obersten Gerichtshof gehend, gegen diesen Beschluß, bis schließlich das Haus ihnen exekutiv genommen und dem aufgelösten Verein oder vielmehr dessen von der Regierung ernannten sloweni schen Kurator übergeben wurde. Daß dieser sich weigerte, die ausgelaufenen Reparaturkosten und anderen Auslagen zu bezahlen, nur nebenbei. Die » , endgültig besiegelte Wegnahme der „Deutschen Hauses" in Cilli stellt auf jeden Fall eine gröbliche Mißachtung der deutschen Minderheiten rechte dar, die die deutsche Bevölkerung in Südslawien mit Bitterkeit erfüllen muß. Sine halbe Lösung. Das Motiv, aus dem heraus die Reichstagsmehr- heit schließlich noch dem Finanzprogramm der Re gierung zugestimmt hat, ist, darüber besteht allgemein« Uebereinstimmung, nicht sachliche Billigung des Ent wurfes, sondern einfach die Angst vor der Krise ge wesen. Natürlich ist die Krise nur vertagt. Wenn es je eine vertagte Krise gegeben hat, so war es diese. Bei der Beratung der Einzelheiten wird sich heraus stellen, daß dieser unzulängliche zusammengestückelt« Entwurf, der schon die stärkste Ablehnung von feiten der Wirtschaft erfahren hat, auch die Parteien nicht zu befriedigen in der Lage sein wird. Wie wenig ist von dem Programm, das Hilferding in seiner Rede vom 14. März 1929 entwickelte und das Verein heitlichung und Senkung der Steuern zum Zwecke der Wiederherstellung der Rentabilität und der Förde rung der Kapitalbildung in den Vordergrund stellte, in diesem in der Eile zusammengestoppelten Programm übrig geblieben! Wie wenig ist von all den ausführ lich begründeten Vorschlägen, die, von außerhalb kom mend, Steuersenkungen im Gesamtbetrags von zwei Milliarden enthielten und als möglich nachwiesen, verwirklicht worden! Selbst wenn man davon schweigt, daß nur das Sofortprogramm mit seinen Steuererhühungen gewiß, das Hauptprogramm mit seinen Steuersen kungen dagegen noch einigermaßen ungewiß ist, so liegt doch der Hauptfehler des Entwurfes darin, daß er seine Steuersenkungen, die kaum die Hälfte der angekündigten und geforderten betragen, auf ein vol les Jahrfünft verteilt. Gerade die folgenden fünf Jahre aber sind die Zeit, in der sich die deutsche Wirt schaft erholen soll, während welcher also die Erleich terungen in ihrer Gesamtheit schon vorhanden sein und sich auswirken müßten, wenn der Zweck er reicht werden soll. Das läßt sich ohne weiteres nach weisen. Die bevorstehenden fünf Jahr« sind nämlich auch für die Staatsflnanzen Jahre nicht gleichmäßi gen, sondern steigenden Bedarfs, da die deutsche Ge- samtwirtschaft und damit auch der Anteil des Staa tes an den Mitteln wie den Aufgaben der Gemeinden weiterwächst. Das bedeutet eine automatische Zu nahme des deutschen Gesamthaushaltes um etwa 130 Millionen, einschließlich der Tributlasten um etwa 160 Millionen: also nach Ablauf des Jahrfünfts rund 800 Millionen. Der „Steuerabbau", auf fünf Jahre verteilt, würde demnach im günstigsten Falle ausrei- chcn, den absoluten Betrag des Bedarfs auf gleicher Höhe zu halten, ohne ihn zu vermindern. Dazu kommt noch als besondere Erschwerung das