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Beilage zur Weitzeriy-Heilung Nr. 283 Freitag, am 8. Dezember 1929 SS. Jahrgang Chronik des Tages. — Reichspräsident von Hindenburg richtete an den Oberbürgermeister von Koblenz ein Danktelegramm. — Der Reichstag hält am Dienstag seine 'nächste Plenarsitzung ab: zur Beratung steht das Gesetz über den 5-Uhr-Ladenschluß am Heiligabend. — Der italienische König hat zum ersten Mal, seit es ein Königreich Italien gibt, dem Papst «inen Besuch adgrstutiLt. — Amerika will im Ostasien-Konfltkt zunächst keine weiteren Schritte unternehmen. — Die Inhaber des Prtvat°Bank- und Kommissions geschäfts Gebrüder Herrmann, HanS und Paul Herrmann, in Trehsa im Bezirk Kassel haben sich Nach Trübung größerer Depotunterschlagungen freiwillig bei der Staats anwaltschaft Marburg gestellt. - Bei einem Explostonsunglück auf der Dortmunder Union wurden sieben Arbeiter lebensgefährlich verletzt. — Unter dem Verdacht der Mitwisserschaft an ixmi von dem Leipziger Kaufmann Tetzner auf der Landstraße bet Regensburg verübten Mord« wurde «in« dritte H^son, das Servierfräuletn Katharina Nagel aus Regensburg, verhafteteren ist mit einer Feier der große Tunnel durch den Apennin beendet worden. Der neue Tunnel mit seinen 18,ö Kilometer Länge ist um 1219 Meter kürzer als der Simplon-Tunnel. — In Athen haben wegen Ablehnung einer Weth- nachtsbeihilfe alle Beamten, Angestellten und Arbeiter der Lokalbahnen, der Straßenbahn, der Gaswerke, der Elek trizitätsgesellschaften. der Omnibusgesell-schaften sowie die Privatwagenführer den Streik proklamiert. Die Steuersenkung. Die Pläne deS ReichsfinauMinisters. — Berlin, 6. Dezember. Die seit Jahren eine ansteigende Tendenz aufwei senden Ausgaben des Reiches und der Länder haben die gesamte Wirtschaft mit Steuern überlastet. Nun hat man zwar auch vor ,dem Kriege schon das Steuern zahlen nicht gerade als die angenehmste Beschäftigung des Staatsbürgers empfunden, doch kann man diese Klagen mit den heutigen nicht in Parallele stellen. Heute drücken die Steuern tatsächlich aus die Wirtschaft, und in einigen Wirtschaftszweigen gehören auch die Steuern zu den Elementen, tue diese Produktions zweige fast erdrücken. Von der Notwendigkeit einer Steuerreform ist schon seit langem die Rede. Zwischendurch erfuhr man auch von Vorschlägen und Entwürfen, die im Reichs finanzministerium fertiggestellt worden, find und die nur noch darauf warten, veröffentlicht und verwirklicht zu werden. Gemeinsam haben diese Entwürfe das, daß sie sämtlich verbesserungssähtg stich. Im ein zelnen enthaften sie teilweise begrüßenswerte Vor schläge, teilweise Anregungen, die kaum Zustimmung finden werden. Die große Masse des Volles interessiert zunächst die Reform der Einkommensteuer. Wie verlau tet, soll die Senkung der Einkommensteuer sowohl den Lohnsteuerpflichtigen als auch den Veranlagten zugute kommen und durchschnittlich 25 Prozent betragen. Da neben will man die Höchstbesteuerung von 40 Pro zent auf 33 Prozent herabsetzen. Allerdings — und dagegen wird sich starker Widerstand geltend machen — soll diese Steuersenkung in drei Etappen mit einem Abstand von je eineinhalb Jahren durchgeführt wer den. Auch das Existenzminimum, das bisher 1200 Mark für den Ledigen beträgt, soll erhöht wer den, und zwar für den Ledigen auf 1800 Mark und für den Verheirateten mit zwei Kindern aus 3000 Mark. Die Erhöhung des Existenzminimums soll aller dings nicht sofort, sondern wohl erst in der zweiten Etappe der Steuersenkungsaktion durchgeführt werden. Weiter ist eine Freistellung aller steuer pflichtigen Vermögen bis zu 25000 Mark beabsichtigt. Die Steuerkosten für die Einziehung dieser Teile der Vermögenssteuer sind verhältnismäßig hoch Schließlich soll die Jndustriebelastung aus dem Dawesplan aufgehoben werden, allerdings nicht auf einmal, sondern ebenfalls in drei Etappen, und zwar jeweils um 100 Millionen Mark. Im Mittelpunkt der künftigen Steuerdiskussion steht aber voraussichtlich die Neuregelung der Real steuern. Bisher ist eine Senkung der Realsteuern um 10 Prozent beabsichtigt, so daß der Realsteuer pflichtige im kommenden Steuerjahr nicht mehr als 90 Prozent der bisher abgeführten Realsteuern zu zahlen hätte. Der Ausfall soll den Gemeinden zu rückerstattet werden, und zwar dergestalt, daß sie fünf Prozent unmittelbar vom Reich erhalten und fünf Pro zent auf dem Umweg über die Länder. Außerdem wird ein Sperrgesetz gegen Erhöhung von Rcalsteuern vor bereitet, daß zunächst fünf Jahre gelten soll. Um nun ! den Gemeinden einen beweglichen Steuerfaktor zu ge- ' ben, der Ausglcichsmöglichkeiten gibt, ist eine svae- nannte Kopfsteuer beabsichtigt, die von jedem zu Kahlen wäre, der das Gemeindewahlrecht besitzt. Um diese Frage wird wohl in den kommenden Wochen die stärkste Auseinandersetzung stattsinden. Ueber die Höhe dieses Zuschlages sind die Meinungen verschie den. Man spricht von einem zwischen acht bis zwölf Mark schwankenden Jahresbetrag. Unterschiede zwi schen Verheirateten und Ledigen, auch Staffelungen werden wohl dabei stattfinden. Für später ist eine Relation zwischen Roalsteuern und Kopfsteuer beab sichtigt. Da in sozialdemokratischen Kreisen die Kopfsteuer stark abgelehnt wird, sind auch andere Steuerarten «erörtert worden, die an Stelle der Kopfsteuer zu treten hätten, so Zuschlagsrecht der Gemeinden zur Einkommensteuer, eine Wohnraumsteuer und eine Erhöhung der Getränkesteuer. Außer diesen Steuer plänen ist noch eine Senkung der Gesellschastssteuer und der Wertpapiersteuer aus die Hälfte des bisheri gen Satzes beabsichtigt. Dazu tritt eine Senkung der Kapitalertragssteuer für neu ausgegebene festverzins liche Werts. Die Steuersenkungsplüne verlängert aber auch eine Deckung. Selbst wenn man vorsieht, daß der Uoung- vlan, der ja heute noch nicht endgültig angenommen ist, etwa 700 Millionen Mark Ersparnisse bringt — die Zahl ist im einzelnen umstritten — so würde das doch nicht ausreichen, denn allein zur Deckung des Nach- ' tragsetats 1929/30 find selbst bei Abstrichen doch un- ! gesähr 250 Millionen notwendig. Es bliebe also hier j ein Rest von 400 bis 450 Millionen Mark übrig, l Infolgedessen ist eine Erhöhung der Biersteuer um , 180 Millionen Mark und eine Erhöhung der Tabak steuern um 200 Millionen Mark beabsichtigt. Bei ver Biersteuer will man die Länder an ihrem Auf kommen beteiligen, um so den Widerstand Bayerns zu beseitigen. Insgesamt würde dadurch ein Bettag i von etwa 830 Millionen Mark zur Steuersenkung zur Verfügung stehen. Von diesem Betrag gehen allerdings die Summen ab, die für das Westprogramm und das ohne Zweifel dringend erforderliche Ostprogramm vor gesehen sind. Das ganze Finanzprogramm ist deshalb schwierig, weil es eng mit der außenpolitischen Lage zusammen hängt. Infolgedessen ist auch bisher kein Etat vor- äelegt worden. Das Kabinett wird wohl zunächst den j Ausgabenetat erlogen und inzwischen den Versuch i machen, ein Finanzprogramm fertigzustellen, so daß ! nach dem Ausgang der Haager Konferenz sowohl über Etat wie Finanzprogramm im Reichstag beraten wer den kann. Es erübrigt sich, bereits jetzt schon herauS- zustellen, daß im Zusammenhang mit dieser Ftnanz- fragen sehr ernste politische Diskussionen und Aus- rinanderfetzungen stattfinden werden. Richtlinien für Wohnungswesen 1 Kur^e Unterbrechung der Plenarberatungen. — Am Dienstag Beratung des Gesetzes über den S-Uhr-Lade»- schlich am Heiligabend. — Berlin, den 5. Dezember 1929. In seiner heutigen Sitzung beschäftigte sich der Reichstag mit kleineren Vorlagen, u. a. auch mtt den Reichsrichtlinien für das Wohnungswesen. End- gültig verabschiedet wurde die Novelle zum Genossen- i schastsgesetz, die Zusammenschlüsse erleichtern soll. Einem Antrag des GefchästSordnungSauSschusses folgend ge- . nehmigte der Reichstag die Strafverfolgung der Kom-- ! munisten Koenen und Dengel sowie die der National- - sozialisten Strasser und Goebbels. Am Freitag und Sonnabend finden mit Rücksicht auf die Landtags wahlen in Thüringen keine Plenarsitzungen statt. Die Retchsrichtlinien für das Wohnungswesen > nennen als nächste Aufgaben die Herausnahme der Haushaltungen und Familien, die bisher mit anderen Haus- : Haltungen zusammen in überbelegten Wohnungen unter gebracht waren, Räumung der abbruchreifen Wohnungen und Herausnahme der Familien aus solchen Wohnvierteln, , die dringend gesundet werden müssen, Herausnahme be sonders der kinderreichen und gesundheitlich gefährdeten Familien aus überfüllten oder unzureichenden Wohnun- § gen, Schaffung neuer Wohnungen für gewerbliche Arbeiter an den durch Umschichtung und Rationalisierung der Be triebe sich ergebenden Standorten, Festhaltung von Land- > wirten und Landarbeitern auf dem flachen Lande durch Ansiedlung auf eigener Scholle sowie durchgreifende Woh- . nungsaufsicht und Wohnungspflege zur Sicherung einer > pfleglichen Behandlung der Wohnräume. Bei den Richtlinien für die Finanzierung wird u. a. festgestellt, daß die Hauszinssteuer ausschließlich für den Wohnungsbau, und zwar nur für Kleinwohnungen, ver wendet werden soll. Die Mieten sollen für die breiten Massen wirtschaftlich tragbar sein und für minderbemit- teile kinderreiche Familien 15 Prozent des Einkommens > nicht übersteigen. Für die Sicherung der Baukostenzu- : schlisse und Mictsvorauszahlungen, die Neubaumioter mel- j fach leisten müssen, sollen die erforderlichen Schutzmaßnah men getroffen werden. Reichsmietengesetz, Mieterschutzge setz und Wohnungsmangelgesetz sollen auch weiterhin auf- j recht erhalten bleiben. § In der Debatte kritisierte Abg. Büll (Dem.) das Gut achten des Reichsbankpräsidenten gegen Ausländsanleihen für Wohnungsbauten. Ausgaben für Wohnungsbauten seien produktive Ausgaben. Abg. Bielefeld (Ztr.) betonte, das private Baugewerbe habe auch in den Nachkriegsjahren seine Leistungsfähigkeit bewiesen, es müsse deshalb bei der Ver wendung der Hauszinssteuerbeträge berücksichtigt werden. Abg. Strötzel (Komm.) äußerte, es fehlten noch 4V- Mil lionen Wohnungen. Abg. Winnefeld (D. Vp.) forderte Woh nungen für die Arbeiter im westlichen Industriegebiet. Die Regierung müsse insbesondere auch den Wucher mtt zwangsbewirtschafteten Wohnungen bekämpfen. Abg. Luck« (Wirtschp.) erklärte, das System der WohnunKwangK- wirtschast habe vollkommen versaat. Auf dem Wege der Retchsrichtlinien wolle man die „kalte Sozialisierung" des Hausbesitzes. Der Reichstag unterbrach dann die Weiterberatuna und vertagte sich auf Dienstag. Außerdem soll am Dienstag auch der Gesetzentwurf über den ö-Uhr-Laden- § schluß am Heiligabend beraten werden. * i Verschärfte Ordnurrgsbestimmungen. Im Hinblick auf die Lärmszenen in der Mittwoch, ' gbendsitzung des Reichstags beschloß der Geschäftsakt,, nungsausschuß eine Verschärfung der Ordnungsbestim mungen. In erster Linie ist die Wortentziehung ver schärft worden. Falls ein Abgeordneter sich weigert, der Ausschlußaufforderung des Präsidenten Folge zu leisten, zieht er sich sofort den Ausschluß auf 3 0 Sitzungstage zu. Für diese Zeit soll auch die Berechtigung zum Bezüge der Diäten und zum Bezug der Fahrkarte ruhen. Die Herbeiführung von Reichs- Ministern soll nur noch bet Unterstützung durch 30 Abgeordnete möglich sein. Gegen diese Verschärfungen stimmten nur die Kommunisten; die Deutschnattonalen enthielten sich der Stimme. Wohnungen für Schwerkriegsbeschädigte. Bereitstellung van Mitteln durch den Rrichs«rr-eits- minister. Der Reichsarbeitsmtnister hat aus Rücklagen des Wohnungsfürsorgefonds zur Förderung des Wohnungs baues für Schwerkriegsbeschädigte neue Mittel bereit gestellt. Es «handelt sich dabei um eine den früheren Ueberwetsungen gegenüber verhältnismäßig kleine Summe. Nach der Bestimmung des Reichsarbeitsmini sters dürfen diese Mittel nach Benehmen mit den zu ständigen Hauptversorgungsämtern nur Schwerkriegs beschädigten zugute kommen, die einen BewilligungS- bescheid oder bindenden Zwischenbescheid über eine Kapitalabfindung erhalten und mtt dem Bau begonnen haben, aus Mangel an Mitteln die Wbfindu lssumme aber nicht erhalten können. Die Mittel sollen vvHUgS- weise in Fällen verwendet werden, in denen der Schwer kriegsbeschädigte durch das Ausbleiben der Kapitalab findung m Not geraten würde. Nur solche Schwer kriegsbeschädigte kommen in Frage, für di« neue Woh nungen in Eigenhäusern erstellt werden. Wie der Amtliche Preußische Pressedienst einem Runderlatz des Ministers für Volkswohlfahrt entnimmt, soll die Verteilung der für Preußen berettgestellten Summe in einigen Tagen in Verbindung mtt der Bau- urld Bodenbank, die diese Mittel treuhänderisch ver waltet, vorgenommen werden. Konferenz der Agrarminister. Minister Dietrich erläutert Vie «grarzollvorlage. — Ler Hebel für Vie Sauieruug l^gt -ei ver Vieh- Wirtschaft. — Berlin, 6. Dezember. Reichsernährungsminister Dietrich-Bade» hatte im Gebäude des ReichslandwirtschastSmintsteriumS eine Be sprechung mtt den Landwirtschastsministern der deut schen Länder. Zur Erörterung stand die kürzlich vom Kabinett verabschiedete Agrarzollvorlage. Minister Dietrich äußerte bei dieser Gelegenheit, bei den Verhandlungen mit Polen fei man nicht über das Angebot der früheren Regierung hinausgegangen. Die Befürchtungen wegen der polnischen Schweinönn- fuhr seien unbegründet; die Einfuhr werde überdies auch auf shndikatmäßiger Grundlage erfolgen. Ein« Besserung der Verhältnisse aus den Kartoffelmärkten habe die Schaffung einer Absatzorganisatton zur Vor aussetzung. Ein Standardisterungsgesetz für Kartoffeln sei in Vorbereitung. Der Vermahlungszwang werd« durchgeführt; die Stützungsversuche für den Roggen hätten nicht ausgeretcht. Der stärkste Hebel für di« Gesundung der Landwirtschaft liegt ohne Zweifel bet der Vieh Wirt schäft. Er sei sich -edoch klar dar über, daß auch die östliche Landwirtschaft, vor allem ver Roggen- und Kartoffelbau, unter alle« Umständen am Leben erhalten werden müßten. Dem trage di« Agrarvorlage der Regierung Rechnung. Wenn di« Vorlage verabschiedet sei, dürfe das Zollproblem vorerst als erledigt bettachtet werden. Di« nächste Forderung sei «ine grundlegende Umstellung der Landwirtschaft in bezug aus Produktion und Ab satz, eine Aufgabe, der sich Regierung und Landwirt schaft mit ganzer Kraft zuwenden müßten Deutsch-polnisches Noggensyudikat? Sein Zweck: Stabilisierung der Preise. — Verhand lungen bereits im Gang«. Am Donnerstag haben in Berlin Verhandlungen über die Bildung eines deutsch-polnischen Roggensyn dikats begonnen. Es handelt sich bei diesen Erörterun gen darum, ein gegenseitiges Unterbieten der beiden einzigen Roggenausfuhrländer Deutschland und Polen auf den Weltmärkten auszuschalten. Man erhofft von einer solchen Regelung eine wesentliche Stützung der Roggenpreise, vor allem aber di« für den Roggen notwendige Preisstabtlisierung. Die Konferenz dürste zwei bis drei Tag« dauern. Zum Abschluß einer Konvention wird es erst kommen, wenn Deutschland ein Roggenhandelssyndikat geschaffen hat, ähnlich wie es in Polen bereits besteht. Die Vorbereitungen hierzu sind seit einiaer Zeit im Gange. Die deutschnationale Krise. Di« Sezession beendet? — Bor dem Zusammentritt der Parteivertretung. In den Kreisen der deutschnationalen Reichstags fraktion neigt man dazu, die Krise mit dem Austritt der zwölf Reichstagsabgeordneten und der Niederle- gung des Fraktionsvorsitzes des Grafen Westarp als vorläufig beendet anzusehen. Bereits in den nächste« Tagen sollen sich die maßgebende« Parteiinstanzen ver sammel«, um zu der Angelegenheit Stellung z« nehme».