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Beilage zur Weiheritz-Zeitung Nr. 279 Montag, am 2. Dezember 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Der Reichstag hat das BolkSbegehrgesetz mit 307 gegen 78 Stimmen bei 4 Enthaltung«» abgelehnt. — Deutschland und Schweden haben einen neuen Handelsvertrag unterzeichnet. — In Malchin in Mecklenburg wurde eine ganze Scheunenreihe, bestehend aus sechs Gebäuden von Acker bürgern, mit ihrem gesamten Inhalt durch Feuer ver nichtet. — Nach einer Hochzeitsfeier in Sülze (Kreis Celle) brachte der Fuhrmann Ädols Ott« seine Frau mit dem Messer um und beging dann Selbstmord durch Erhängen. — In Hamm wurde ein Raubüberfall auf die Kreis- sparkaffe verübt, der jedoch mißglückte. — Im Hafen von Apia auf Samoa verbrannte« sechs Schiffe. Ein Kapitän kam in den Flammen um. Die Steuerreform. Leitsätze des Deutsche« Industrie- «uv HanvelstageS. — Berlin, 2. Dezember. Der deutsche Industrie- und Handelstag, die Spitzenorganisation der deutschen Handelskammern, ver öffentlicht eine Reihe von Leitsätzen für ein Finanz« und Steuerprogramm, in denen namentlich die Er leichterung der Neubildung von Kapital und die Ber-i Hinderung der Kapitalabwanderung in den Border« grund gestellt wird. Gedacht find diese Leitsätze als ein Sofortprogramm. Einleitend wird aus die bedrohliche Lage der deutschen Wirtschaft hingewiesen. Die Gründe der Not lage, so betont der Industrie- und Handelstag, lägen im Mißverhältnis zwischen Ertrag und Belastung der Betriebe und dem Kapitalmarkt, der eine Senkung der ZinSkosten und Produktionskosten, eine Ausweitung des Absatzes, eine Herabsetzung der Preise, wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen verhindere. Die ersten Erfordernisse seien, Ertrag und Kapital. Neubildung zu ermöglichen; Reich, Länder und Ge meinden steuerten aber gerade an den Stellen, wo Er träge am schnellsten zu mehrwertschaffendem Kapital würden, die unentbehrlichen Betriebsrenten weg, ja sie griffen auch in die Kapitalsubstanz selbst empfindlich ein. Der Zeitpunkt sei gekommen, die deutsche Finanz politik für Reich, Länder und Gemeinden als ein« Einheit in sich, zugleich aber auch als Teilstücke einer einheitlichen Wirtschaftspolitik zu begreifen und nach einem umfassenden Plan auf ProvuktionSent, lastung, aus Steigerung der Kapitalbtldung und Erweiterung der Erwerbsmöglichkeiten etnzustellen. Erste Voraussetzung einer durchgreifenden Steuer milderung sei eine wesentliche Einschränkung des öf* fentlichen Bedarfs. Im besonderen sei die Sanierung der Arbeitslosenversicherung durch Aichas, sung an die verfügbaren Mittel durchzuführen. Ein« Finanzreform sei nicht möglich ohne durchgreifende Reichsreform. Es bedürfe einer Neugestaltung des Haushaltsrechts, die geeignet sei, bei allen Beteiligten das Verantwortungsbewußtsein zu kräftigen und aus wirtschaftliche Sparsamkeit bei Ausübung ihrer Recht« hinzudrängen. Durch Reichsgesetz müsse vorgeschrieben werden, daß Mehrerträgnisse der Steuern nicht zur Steigerung der Ausgaben, sondern zur Abtragung der kurzfristigen Schulden, zur Entlastung des außerordent lichen Haushalts und zu Steuersenkungen zu verwen den sind. Bei Behandlung der Neuordnung des Steuer, shstems stellen die Leitsätze die Forderung in den Vordergrund, die Deckung des auf das unerläßlich Not wendige beschränkten Finanzbedarfes müsse so ver. teilt werden, daß Produktion und Arbeit durch Ermög lichung und Beschleunigung eines volkswirtschaftlich nutzbaren Kapitalaufbaues Antriebe erhalten. Mit der gegenstandslos werdenden Jndustriebelastung sei auch die Aufbringungslast zu beseitigen. Das Vermögen der Bank für Jndustrieobligationen müsse zur steuerlichen Entlastung der gewerblichen Wirtschaft, der es ent stamme, Verwendung finden. Ebenso sei der Fortfall der von der Landwirtschaft aufzubringenden Renten» bankzinsen notwendig. Die Gewerbesteuer in Ländern und Gemein, den müsse völlig aufgehoben werden. Zum mindesten müsse sie mit sofortiger Wirkung aus einen geringen Bruchteil der gegenwärtigen Höhe gesenkt werden. Der Einkommen st euertarif sei wesentlich auseinan derzuziehen und zu ermäßigen, der Steuerabzug vom Kapitalertrag zu beseitigen. Die aus Grund und Bo den liegenden Realsteuern seien zu senken. Der syste matische Abbau der Hauszins st euer sei alsbald ge setzlich festzulegen. Die steuerlichen Vorrechte der Wirt schaftsbetriebe der öffentlichen Hand seien zu besei tigen, die Kapitalverkehrssteuer wesentlich zu senken. D-n Gemeinden müßten »ur Miedeebe»ttellunn ikien vollen Selbstverwaltung bewegliche Einnahmen erschlos sen werden. Die Hauszinssteuer sei in eine Miets steuer umzuwandeln. An Stelle der Realsteuern, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erfassen, müsse den Ge- m«nden, solange die Wiedereinführung des Zuschlags rechts zur Einkommensteuer nicht durchführbar er- fcheint, die Erhebung einer Verwaltungskostenabgabe gestattet werden, die alle Erwachsenen erfaßt und mit der Höhe der Realsteuern in ein bestimmtes Verhältnis gebracht wird. Zur Wiederherstellung der finanziellen Selbstverantwortung von Ländern und Gemeinden, di« zur Zeit durch die starren Steuerüberweisungen teil weise ausgeschaltet ist, sei neben diesen Reformen des Finanzausgleichs eine gerechtere Gestaltung des Lasten- ausgleichS erforderlich. Bei der Belastung des Verbrauchs seien die- Wenigen Grenzen zu wahren, die die Nachhaltigkeit dei Einnahmen und die Erhaltung der beteiligten Wirt. schaftszweige ziehen. Der Erhaltung des Zwischen- Handels sei Rechnung zu tragen und die ausfuhrschä, dtgenden Wirkungen fernzuhalten. Besatzungsabrnarsch vollzogen. Riederholung der Trikolore ans Ehrenbreitstein. — Ei« Kundgebung des Oberpräsidenten. — Koblenz, 1. Dezember. Die letzte« französischen und belgischen Abtei- l»tugen haben die zweite Rheinlandzone verlassen. Ge> ster» zog eine französische Abteilung mit Musik durch die Stadt, über de« Rhein und a«f Ehrenbreitsteiu hinauf, «m dort die Trikolore niederzuholen. Als dann begann der Abtransport! Die Stadt Koblenz ließ a«S Anlaß der Befreiung einen Kranz am Grabe des Reichsautze«ministers Dr. Stresemann in Berlin und weitere Kränz« am Grabe des Regierungspräsident«« Brandt, d«S Koblenzer Freiheitsdichters Max von Schenkendorf, am Görres-Denkmal und ans dem Ehren- friedhof niederlege«. Der Oberpräsident der Rheinprovinz, Dr. Fuchs, erließ eine Kundgebung an die rheinische Bevölkerung in der es u. a. heißt: Lie zweite BesatzungSzone ist geräumt! I« dies« Stunde gedenken wir zunächst »er Brüder und Schwe- ster«, die in der dritte« Zone des besetzte« Gebietes «nd an der Saar weiterhin für Volk «nd Vaterland fremd« Macht z« ertrage« haben. Ihnen gilt unser herzlich« Gruß. Wir fühle« «nS mit ihrem Schicksal nach wi« vor inuig verbunden. Wir hoffen zuversichtlich, »aß auch ihnen recht bald die Stund« der Freiheit schlägt. Mit offenen Armen werde« wir die Getreue« vou d« Saar im Vaterhaus« empfangen. Unser Dank gilt heute der Reichsregierung, deren wettschauende Politik die Grundlage für eine vorzeitig Räumung gelegt hat. Dankbar gedenken wir der Für sorge. die Reich und Staat unserer Heimat in schwerer Zett haben zuteil werden lassen. Mir gläubiger Zuver sicht blicken wir zu ihnen, die auch in Zukunft treue HÜtertnnen unserer Belange kein werden. Es wird noch durchgreifender Maßnahmen bedürfen, um die von der Besatzung betroffenen Gebiete entwicklungsfähig zu ge stalten. Der Bevölkerung des nunmehr befreiten Ge bietes spreche ich aufrichtigen Dank und wärmste An erkennung aus für die würdige Haltung, die sie in den langen Jahren der Besatzung gezeigt hat. Dank der EinsicP aller Beteiligten hat sich auch die Räumung der zweiten Zone ohne jeden Zwischen fall vollzogen. Unsere Opfer sind nicht vergeben« ge wesen. Heute sehen wir die dunkelste Strecke eines uns endlos erscheinenden Weges hinter uns. In »ieser großen SchicksalSstuude gelobe« wir, auch weiterhin treu zur Regierung «nd Volksvertretung z« stehen nn» ihre auf vi« restlose RSnmnng «n» »ie Rückgabe VeS Saargebietes gerichtet« Politik nach» rück» lt chz« unterstütze«. Nur auf einem freie« deutsche« Boden könne« Freiheit «nd Wohlfahrt gedeihe«. * Der Abmarsch der Belgier aus Aachen. Unter den Klängen der belgischen NationaHymne wurde vor dem belKschen Hauptquartier in Aachen die belgische Fahne niedergeholt. Im gleichen Augen blick wurden an den dem Hauptquartier gegenüberlie genden Privathäusern schwarz-rot-goldene und schwarz weiß-rote Fahnen aufgezogen. Die deutsche Schupo abteilung, die nach dem A^ug der Belgier in Aachen einmarschierte, wurde von der Bevölkerung mit Jubel begrüßt. Während der Niederholung der belgischen Flagge in Aachen hatte ein Bataillon belgische Infanterie und eine berittene Abteilung belgischer Gendarmerie mit gezogenem Degen vor dem Hauptquartier Aufstellung genommen. Die Truppen präsentierten mit ausgepflanztem Gewclir. während General Poulleur mit seinem Stabe die Front abschritt. Trompetensignale erschollen, die Musik spielte den Präsentiermarsch «nd dann sank «nd. ltch di« belgische Flagge! Tausende und aber Tausende blickten in ernstem Schweigen auf das kleine Stückchen Tuch, »esse« Verschwinden anzeigte, daß die oft so drückend empfunden« schwere Zeit der Besetzung be endet ist. Rach der Niederholung der Flagge verlieh zunächst der Stab i« Automobilen die an der prä sentierenden Truppe vorbeifuhren, die alte deutsche Kaiserstadt. Mit klingendem Spiel folgte die berittene Gendarmerie den Kraftwagen, während sich die I«. fanterie nach dem Bahnhof in Marsch fetzte. Koblenz ist frei! Nächtliche Kundgebung am Deutsche« Eck. Äehnlich wie seinerzeit Köln seine Befreiung von der englischen Besatzung zu mitternächtiger Stunde mit einer imposanten Kundgebung auf dem Domplatz srierte, hat auch Koblenz in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag mit einer Massenkundgebung am „Deut- schen Eck", der schmalen von Rhein und Mosel gebil det» n Halbinsel mit dem Standbild Wilhelms l., fest- lich begangen. Im Mittelpunkt der Feier stand die Festrede des Oberbürgermeisters von Koblenz, in der er u. a. ausführte: „In dieser Feierstunde wird sich unser erster Ge danke hinauf zum Sternenzelt schwingen und hinauf zum Herrn -er Welten. Ihm sei die Ehre! Ihm dankt die Stadt Koblenz, daß er uns den Ehrentag der Freiheit erleben ließ, daß er uns beschützte und be- schirmte in bitterster Not und schwerstes Unbeil uns ersparte. Mit dem Glockenschlag der Mitternachts stunde sinke tn -ie -unkle Nacht die Besatzungsnot und mit ihm steige empor das Morgenrot neuen Glücks! Der tapfer bekämpften gemeinsamen Gefahr entronnen, reichen sich die Bürger tn Freuden -ie brüderliche Rechte. Die Feuerprobe ist bestan-eu, und leuchteuden Auges tritt -ie Bevölkerung vor ihre anderen Volksgenoffen hin." . Der Oberbürgermeister gedachte so-anu Ser Brü der vom Oberrhein, von Mosel mrd Saar, -ie immer noch nicht tn die Einheit -es freien deutschen Vater landes zurückgekehrt seien und sprach -e« Wunsch aus, daß sie in Kürze Ler gleichen Freude teilhaftig würden. Der Redner begrüßte dann den Vertreter der Reichs- regierung, Reichsminister von ^Lrard, den Vertreter der preußischen Regierung, Minister Dr. Becker, un- alle übrigen Vertreter -er Behör-en, Berbän-e und der Presse. Er gedachte weiter der vielen Opfer der Besatzungszeit an Leib und Leben, Gut und Ehre. Rhein und Mosel, -ie sich hier zu Deutschlands hoch» schlagender Pulsader -usammenfänden, riefen allen bas mahnende Wort zu, a^ulafsen von Hader und Zwist und zusammenzustehen zum kraftvollen Aufbau des Reiches. Der Oberbürgermeister schloß mit dem Zitat des alten Ehrenliedes ^Flamme empor* und forderte dl« Versammelten auf, die Reihen zu schlie ßen und der Zukunft trotz aller Schicksalsschläge ver trauensvoll ins Ange zu schaue». Auf dem Ehren- brettstetu fei die fremde Flagge gesunken, und hochauf steige jetzt flammenumloht die deutsche Fahne, das Zeichen der wtedererrungenen Bereinigung mit dem Vaterlands. Jubelnd fiel die Menge ein in das dreifache Hoch ruf das deutsche Vaterland. Nach dem Oberbürgermeister Wrack MiuW« v. Gusrard, -er -er Koblenzer BevMerrmg Sie Grüße -er Reichöregierung übermittelte. Die Defreiungsfeier i» der St^thalle. Die eigentliche Befreiungöfeier -er Stadt Sohlen) sand am Sountagvormittag tu der Siadchalle statt. Auch hierbei hielt Oberbürgermeister Rustel Lie Festrede. Er schilderte zunächst den Rückzug der -entsthen Truppen über den Rhein im Fabre 1018 mS den Ein zug der fremden Besatzung und kam tn diesem Zu sammenhang ans die schweren Tage des RuhrkampfeS und -es FretheiiSkampseS gegen die Sonderbündler zu spreche«. Zwei Tatsachen mühten festgHatten werden: Hätte» Meinst»»- und Westfale« de« Ruhrkampf nicht aufs«»«»«««, «nd so -er ganze« Best daö N«- r«ht -er Gewaltakten vor Auge« geführt, so gäbe eS he«te keime Freiheit t« diese« Seilet. Die Stimme des Bölkes, die sich -et -er schroffe« Ablehnnug irgend. Welcher Gemeinschaft mit -e» So«-erSÜ«Llern ge. äußert habe, sei ei» »«verfälschtes Gottesurteil über st« gewesen, dem sich nie«««- entziehe« konnte. Er entbot dann den ersten Gruß dem getreuen Ekkehard des deutschen Vaterlandes, dem Ehrenbürger der Stabt Koblenz, dem Reichspräsidenten von Hindenburg, besten ermunternde zur Einigkeit mah. nende Worte alle im Aushalten wirksam bestärkt hätte. Er sprach fermer der Reichsregierung und der preußischen Regierung Dank aus für die stets ge währte treue Hilse, ebenso dem Oberprksidenten -er Rheinprovinz, Dr. Fuchs. Dann gab er -en Beschluß der Stadtverordnetenversammlung von Koblenz be kannt, wonach dem Oberpräsidrnten das Ehrenbürger recht der Stadt Koblenz als Dankesbezeugnng für seine warmherzige Fürsorge verliehen worden sei. Wetter gedachte er tn herzlichen Worten beS verstor benen Ministers Dr. Stresemann. Im weiteren Verlauf seiner Rede gab Dr. Ruffel bekannt, -aß der Chef der Heeresleitung der Bitte der Stad: entsprochen habe, die Feldzeichen des ehe maligen 8. Armeekorps, der ruhmvollen Wacht am Rhein, der Stadt Koblenz zu treuen Händen zu über laßen. Die Stadt nehme die 28 Feldzeichen als ein kostbares Vermächtnis in tiefer Dankbarkeit entgegen und gelobe an diesem Tage der Freiheit, sie heilig zu halten im Andenken an den Ruhm derer, die für unsere Freiheit in den Tod gegangen seien. Ein Grutz an Hindenburg. Anläßlich der mitternächtlichen Befreiungsfeier in Koblenz sandte der Oberbürgermeister von Koblenz im Namen der Versammelten Telegramme an den Reichspräsidenten von Hindenburg und -en preu- bischen Ministerpräsidenten Braun. Das Telegramm an Hindenburg lautete: „Die am Deutschen Eck zu Koblenz zur Feier Her Befreiung von elfjähriger Besatzungsnot versammelte Bürgerschaft der Stadt Koblenz gedenkt in ihrer Wetyestunde, in der seit .Kriegsende zum erste« M«e wieder die deutsche Flagge von der Höhe d«S Ehren breitsteins auf die Rhein- und Moselstadt herabgrützt. ihres hochverehrten Ehrenbürgers und Reichsprästderr- ten nnd entbietet in tiefer Dankbarkeit für alles, was Exzellenz tm Krieg und Frieden für daö deutsche Volk und insbesondere für das rheinische Lau- getan haben, erneut das Gelöbnis unwandelbarer Treue zum deutschen Vaterlands." * Ein Telegramm des ReichsPrLftdeuteu. Aus -ie kurze telegraphische Mitteilung deS Ober- präsi-enten Fuchs, daß die Flagge auf dem Ehren- breltstein niedergeholt sei, antwortete Hindenburg mit folgendem Telegramm: