Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeriy-Zeitung Nr. 258 Dienstag, am 5. November 1929 95. Jahrgang " 1 "1 / "rM.U I' !- > — - Chronik des Tages. — Unter Teilnahme des Reichskanzlers wird am heutb beigesetz^^ Bülow in dem Erbbegräbnis del —Die Führer der Regierungsparteien sind zu» Mittwoch zu einer Besprechung beim Reichskanzler eiw geladen. — Der letzte Reichskanzler vor dem Umsturz, Prinz Max von Baden, ist schwer erkrankt. — Das Luftschiff „Graf Zeppelin" ist zum ersten Mal« ohne Haltetaue gelandet. — Es bestätigt sich, daß der überfällige Dampfet „Stolpmünde" mit der ganzen Besatzung gesunken ist Der erste Tote, der Steuermann Walter KÜSling aui Stettin, ist im Gebiet der Lindower Düne an *Lant getrieben worden. . — In Duisburg wurde der Hausierer Wilhelm Stolte^ festgenommen, der im Verdacht steht, vor etwa Jahres frist in der Soldiner Gegend ein Händlerehevaar von Fuhrwerk heruntergeschossen und beraubt zu Haven« — Der Baden-Badener Arzt und Stadtrat Dr. Hüb, ner, der gegenwärtig als ärztlicher Reisebegleiter mit ein« englischen Dame in Italien weilt, wurde in Ravenna Plötz, Üch verhaftet. Die Gründe sind noch nicht bekannt. Das Ministerium Tardieu. — Paris, 5. November 192g. Die neue französische Regierung — das erste Mini, sterium Tardieu — wird sich am Donnerstag dem Parlament vorstellen und bei dieser Gelegenheit Erklärungen über die auswärtige und die Steuer» Politik abgeben. Nach dem Ministerpräsidenten Tardieu wird dem Vernehmen nach unmittelbar der Mtnistei des Auswärtigen Briand das Wort nehmen. Briant wird also im neuen Kabinett das tun, was er im alten unter Stellung der Vertrauensfrage verweigert hat. Unterstützt wird das Ministerium Tardieu von einer Mehrheit, die bei der linksstehenden sozialistisch» republikanischen Grupp« Briands beginnt und bei bei sehr weit rechtsstehenden Grupp« Marin endet. Dai Schwergewicht der neuen Regierung, der die groß, Mittelpartei der Radikalsozialisten nicht angehoren liegt rechts. Von den 13 Ministern und den 12 Unten staatSfekretären gehören fünf Minister und zwei Unten staatssekretäre der eigentlichen Taroreu-Partet mit den irreführenden Namen „LinkSrepublikaner und drei Mi» nister und drei Unterstaatssekretäre der von dem Trotz industriellen Loucheur geführten Gruppe an. Die hohe Zahl der Unterstaatssekretär« stellt ein« Rekord dar und läßt erkennen, daß Tardieu sich setnel Mehrheit keineswegs so sicher ist, um nicht daS Ba dürsms zu empfinden, die Fraktionen durch reichlich« Beschenkung von Unterstaatssekretärposten an sich zr ketten. Ueber die Lebensdauer der Regierung Tav dieu sollte man sich heute noch nicht den Kopf zer» brechen. Zum offenen Kampf rufen bisher lediglich die Sozialisten auf, die Radikalsozialen stehen Ge wehr bei Fuß, und die Rechte ist begeistert, auf jeden Fall aber zufrieden. Statt der großen Linksregierung, die in Paris beinahe aus der Taufe gehoben worden wäre, befindet sich jetzt eine Regierung im Amt, der einige „starke Männer" der Rechten angehören. Den stärksten Beifall auf der Rechten hat wohl di« Ernennung Andre Maginots zum Kriegsminister gefunden. Das „Journal des DebatS" ist darüber so begeistert, daß es von dem neuen Kabinett eine voll ständige Umstellung der französischen Außenpolitik und das Ende der französischen „Verzichtpolitik" erhofft. In Deutschland ist Maginot als Kriegsminister des Kabinetts des Ruhreinbruchs und als einer der schärf sten Verfechter der französischen Sicherheitsthese be kannt geworden. Mit dem Gedanken der Rheinland räumung konnte sich Maginot nur sehr schwer befreun- den. Praktisch will das jedoch nicht viel besagen, weil die Durchführung der Rheinlandräumung jetzt nichi mehr aufgehalten werden kann. Wenn das Kabinett Tardieu in der Rheinland, frage somit kaum der äußersten Rechten einen Gefallen erweisen kann, so doch in den deutsch-französischen Ver- Handlungen über die Saar. Der Notwendigkeit der Wiederherstellung der alten Grenze, d. h. der Rück- gliederung des Saargebietes in das putsche Reich werden sich auch Tardieu und seine Minister nicht ent- ziehen können. Das Treuebekenntnis der Saarbevöl- kerung zum Reiche hat jede französische Hoffnung ver. nichtet! Damit hat man sich in Frankreich abgefunden, und sicher sind die Franzosen auch so klug, um darauf zu sinnen, daß es nicht zur Vo« Abstimmung kommt, weil dann durch den Ausfall der Abstimmung für alle Zeiten dokumentiert.werden würde, daß in Versailles eine Bevölkerung als „französisch gesinnt" verleum det worden ist, die allezeit treudeutsch gesinnt war und die trotz aller Bedrückungen durch Frankreich in dem Kampf um ihr Volkstum ausharrte. Die neuen Gefahren für das Saargebiet sind von wirtschaftspolitischer Natur. Die fran- zösische Wirtschaft dagegen will das Saargebiet nicht missen, möchte sich vielmehr einen Mitbesitz an den Gruben wahren. Und darum wird auf der deutsch- französischen Saarkonferenz erbittert gekämpft werden. Was Frankreich um der Macht willen erstrebt, das muß die deutsche Außenpolitik mit der Waffe des Rechts bekämpfen und vereiteln! Nachdem nun die neue französische Negierung ge bildet ist, müssen die schwebenden außenpolitischen Ver handlungen tatkräftig wieder ausgenommen werden, insbesondere müssen die Vorarbeiten für die Saarkvn- serenz zum Abschluß kommen, weil der Zusammentritt der Konferenz nicht mehr länger vertagt werden darf. AndrS Tardieu wurde 1876 in Paris geboren. 18S7 wurde er Attache bei der französischen Botschaft in Berlin, 1899 Sekretär des Ministerpräsidenten. Seine besondere Be gabung für journalistische Arbeiten veranlaßte ihn, den diplomatischen Dienst zu verlassen. Er wurde Auslands- redakteur des „Temps" und betrieb als solcher die publizi stische Einkreisung Deutschlands. Am Kriege nahm er zu nächst als Soldat teil, ging dann aber nach Washington, um dort Frankreichs Interessen publizistisch zu vertreten. Während der Versailler Frtevensverhandlungen war Tar dieu Clemenceaus rechte Hand. Als Mitglied von 13 Kom missionen — bet insgesamt 26 — führte ex u. a. di« für Deutschland ungünstigen Entscheidungen in der ReparationS- und der Saarfrage gegen den Willen Englands und Ame rikas herbei. 1924 nach 10 jähriger Tätigkeit als Abge ordneter im Wahlkanrpf durchgefallen, legte er sich 1926 bet seiner Wiederwahl eine kluge Mäßigung auf, so daß er sich mit dem von ihm als „zu zahm" bekämpften Gegner PoincarL versöhnen konnte; kurz danach berief ihn Poin- carö in sein Kabinett. Besprechungen beim Kanzler. Einladung der Parteiführer zum Mittwoche — Reichs- tagSerSffuuug erst im Dezember? — Berlin, 5. November. Wie verlautet, find die Führer der Regierungs parteien für Mittwoch zu einer Besprechung beim Reichskanzler etngeladen worden. Zur Erörterung steht wahrscheinlich die Frage der Umbildung der Reichs regierung und der Termin der Einberufung des Reichs tags. Man denkt jetzt daran, die endgültige Ernen nung des Reichswirt schastsministers Dr. Curtius zum Reichsminister des Auswärtigen gleichzeitig mit der Neubesetzung des ReichSwirtschaftsminifteriums bekannt zugeben. ES handelt sich nun darum, ob diese Matz nahmen ohne wettere Umgruppierungen durchführbar sind. SUS Termin für die Einberufung des Reichstags war bisher der 36. Ravemder genannt worden. Rach de« neue» Disposition«» ist jedoch ein- Vertagung der »etchSta-Serdsfnnng bis ««fang Dezember nicht un wahrscheinlich. Ferner wird bei der Besprechung der Parteiführer mit de« Reichskanzler dem Bernehmen nach auch über die parlamentarische Behandlung des »em Bolksdegehve« gründe gelegte« Gesetzentwurfs gesprochen werden. Nach den bis Montag eingetroffenen Meldungen find für daS Volksbegehren nunmehr 4148 342 Stim men abgegeben worden, das find 10,94 Prozent von de« Gssamtstinnnberechtitzten. Rach de« Volksbegehren. Bon den Zeitungsartikeln zum Ausgang des Volksbegehrens hat eine Auslassung der deutschnatio nalen, dem Reichskundbund nahestehenden „Deutschen Tageszeitung" erhebliche Beachtung gefunden. Der Ar tikel ist überschrieben: „Das Ganze halt! — Sammeln!" Wir geben nachstehende Sätze wieder: „ES hat sich gezeigt, daß auf der Rechten weite Kreise, daß insbesondere das deutsche Landvolk sich dem Aufruf zu nationalem Handeln nicht verschließen, wenn ein vosi- tives Ziel gezeigt wird. Sache der Führer ist es, sich über das weitere Positive Ziel klar zu werden. Kann es darin bestehen, das Volksbegehren bis zu einem Volks entscheid fortzufahren, der nach menschlichem Ermessen doch nicht zum positiven Erfolg führen kann? Ist nicht viel mehr die zwingendere Aufgabe darin zu erblicken, unter Einsatz aller Kraft und aller taktischen Klugheit dafür zu sorgen, daß, wie di« Entscheidung über den Aouna- Plan auch fällt, unter allen Umstänoen zu gleicher Zeit die schwerwiegenden Fragen der inneren Ordnung, in erster Linie einer vernünftigen Finanzreform und Lastenvertei lung, gelöst werden?" Der Reichsausschutz für das Volksbegehren veröf fentlicht eine Kundgebung zum Volksbegehren, die mit dem Satz schließt: „Der Kar-chf geht weiter!" * Das Schicksal der Saargruben. Entschließung der Gemeindevertretung Klarenthal ge, qen die Internationalisier«^ der Saargrnben. — Saarbrücken, ü. November. Die Vertretung der hart an der französischen Grenze gelegenen Saargemeinde Klarenthal haben ein stimmig folgende Entschließung angenommen: . „Der Gemeinderat der Grenzgemeinde Klaren thal begrüßt die Verständigungsverhandlungen zwischen Deutschland und Frankreich und besonders die Ver handlungen über die Rückgliederung des Saargebietes zum Reich im Interesse der Befriedung Europas. «lS Grundbedingung der Verhandlungen sehe« wir »i« bcvingung«- und restlose Rückgabe d«S gesamten Ge. bietes und die Staatshoheit »eS Deutschen Reiches und »er Saargruben an die staatlichen Borbesitzer an. Sin« Internationalisierung oder Privatisierung »er Gr«, ben wäre B-rrat an »er ganzen Bevölkerung u«v -e. sonders ander «ergarbeiterschaft. «ei dem Ha«d«ls. nn» Wirtschaftsabkommen erwarten wir, »aß sie de« bciverscitigen Bedürfnissen Rechnung trage»»." Langemark-Feier in Köln. In Verbindung mit dem Bolksbun» deutscher Krieger- gräberfürsorge. — Köln, 5. November. Wie alljährlich, gedachte auch in diesem Jahr dre Ko!ner Ortsverernigung des ehemaligen „Grünen Korps" in Verbindung mit dem Volksbund deutscher Kriegergröbersürsorge diesmal in einer großangelegten Feier der Toten von Langemark. Die große Messe halle war diesmal von mehr als zweitausend Personen besucht. vrach einem einleitenden Orgelvortrag von Pro« fessor Hans Bachem sprach Paul Senden vom Kölner Schauspielhaus einen tiefempfundenen Prolog des Dich, ters Theodor Seidenfaden, der selbst dem „Grünen Korps" angehört hat. Weihevoll klangen die Chöre „Flamme empor" von Richard Trunk und „Deutscher Gruß von Heinrich Zöllner, die der Gau Köln des Rheinischen Sängerbundes vortrug. Dann ergriff Ru dolf Binding das Wort zu einer Gedenkrede. Der Dichter hat selbst als Führer einer Kavallerie-Ab teilung im „Grünen Korps" die Nacht von Langemark miterlebt. Er sprach über den gewaltigen Sieg, dieser Tat deutscher Jugend. Seine tiefgründigen Ausfüh rungen gipfelten in der Erkenntnis, daß dieses furcht bare Opfer nicht umsonst sei, daß es nicht Vorbild fein dürfe zu neuen Kriegstaten, sondern zur Erneue rung des Volkes im Geiste. So fei der Sinn von Langemark, hinauszuwachen über den Krieg in protze friedvolle und doch heldische menschliche Gemetn- ichast. Professor Bachem schloß die Feierstunde mit einem Orgelvortrag. Sesterreichische Gefalleueu-Eyrungen. Die Deütsch-Oesterreichische Liedertafel und die iHv nahestehenden Verbände veranstalteten auf dem Gar nison-Friedhof in Berlin eine Gefallenen-Gedenkfeter. Im Mittelpunkt der von ernstem Männergesang um rahmten Feier stand die Totengedächtnisrede des öster reichischen Gesandten Dr. Frank, der mit allen Mit gliedern der Gesandtschaft erschienen war. Der Hel dentod unserer Gefallenen, so führte der Gesandte aus, würde nicht vergeblich gewesen fei«, wenn wir Leben den beharrlich in friedlichem Kampf gegen die Frie densdiktate um eine besser^ Zukunft unseres Gofamt- oolkes weiterstreiten würden. Regierungskrise iw Reich? Prälat Leicht droht mit ««Stritt aus »er Regternugs» koalitto«. In einer katholischen Arbetterversammlung in Bamberg hielt der Führer der Reichs gs .ktton der Bayrischen BolkSpartet, Prälat Leicht, eine viel beachtete Rede über den Kampf gegen die Auflösung der Familie. Im Hinblick auf die letzten Vorgänge im Strafrechtsausschutz des Reichstages erklärte der Redner, dah sich die Anzeichen häuften, als ob jetzt ein Sturm erfolgen solle» um die christliche Emilie tn ihrer sittlichen Grundlage zu erschüttern und auf zulösen. Prälat Leicht erkürte: „Ich kau« eS nicht «ehr schweig end mit auseheu, wie Strafgesetzbuch «nd RechtSauSschub i««er tiefer eingreifen, um die ganze Gesetzgebung, vor alle« die Kamilieugesetzgebnug aufs neue zu bedrohe« ««d aus zuhöhlen. In grundsätzlichen Dingen gibt eS keine Ko«promtsse. Auch wenn wir tu der Koalition ver bleiben, verleugnen wir unsere christliche« Grundsätze nicht. Ich sage es mit Nachdruck: Hier «uß eiu Halt komme«, sonst wird man uns nicht mehr la«ge in einer solche« Koalitto« sehe«! Wir habe« nicht vor, länger tatenlos znznsehe«, wie mit unsere» Belaugen ««gegangen wird. Wir sind «it dem Zentrum einig, daß eine Erleichterung der Ehescheidung unter keinen Umständen eintrete» «nd zugelassen werde« darf." In einer Entschließung wird verlangt, daß Zen trum und Bayrische Volkspartei solche Bestrebungen aus das entschiedenste ablehnen und nötigenfalls auch die politischen Konsequenzen ziehen. Beisetzung des Fürsten Bülow. Am heutigen Dienstag wird in Klein-Flottbek Fürst von Bülow beigesetzt. Zur Teilnahme an den Bestattungsfeierlichketten haben sich Reichskanzler Mül ler und die Staatssekretäre Dr. Meitzner, von Schubert und Dr. Pünder nach Klein-Flottbek begeben. Am Vortage veranstaltete die Familie in der Elbparkvilla eine schlichte Trauerfeier. Pastor Lhalibaus-Niensted- ten hielt eine kurze zu Herzen gehende Ansprache Prinz Max von Bade« schwer erkrankt. Der letzte Reichskanzler vor dem Umsturz, Prinz Max von Baden, liegt seit einiger Zett im städtischen Krankenhaus in Konstanz schwer krank danieder. Der Zustand des Kranken war gestern besorgniserregend, doch trat nachts eine Besserung ein, so daß der Kranke lange schlafen konnte und zeitweise das Bewußtsein wiedererlangte. Prinz Max von Baden steht tm 63. Le- b^Äie'ein Berliner Mittagsblatt ergänzend berie tet, hat sich Prinz Max von Baden vor etwa drer Wochen bet einem Sturz im Ammtt drei RiPM brachen. Sein Zustand sei „^n daumls besorgn^- erregend gewesen, jetzt habe srch noch eine Erkrankuna der Arterien hinzugesellt. Rückkehr des italienisch«« Botschafters nach Politische Rundscha«. — Berlin, den 5. November 1929. — Die Gerüchte über einen bevorstehenden Beamte«. Nch geplant, einige Kanzleideamtenstellen in Angeftellteu- stellen umzuwandoln. — Im 61. Lebensjahre starb in München Konter admiral a. D. Vollerthun nach kurzer Krankheit.