Volltext Seite (XML)
Beilage zur Weitzeritz-Zeikmg Nr. 294 —— Donnerstag, am 19. Dezember 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Reichspräsident von Hindenburg hat dem Geheim- rat Lujo Brentano zum 85. Geburtstag den Adlerschild verliehen. — Der Beginn der Haager Konferenz ist auf den 6. Januar festgesetzt worden. — In Berlin ist der erste Frost in diesem Winter mit 2 Grad festgestellt worden. Zum letzten Mal trat der erste Frost so spät am 18. Dezember 1877, also aus den Tag vor 52 Jahren ein. — Die in der Sklarek-Affäre verhafteten Stadträie Gaebel und Degener sind gegen Stellung einer Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. — In Innsbruck wurde der Raubmörder Stern zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. - Das englische Luftschiff „R. 100« ist bei seiner letzten Probefahrt am Steuer beschädigt worden. — Die 60 Bergleute, die bei der Bergwerksexplosion in Oklahoma verschüttet wurden, sind als Leichen zutage gefördert worden. Hetze oder Politik? Pertinax beschuldigt Snowden, Sanktionen i« de« Doungplan aufnehmen -« wollen! — Berlin, 19. Dezember. Im „Echo de Paris" glaubt der Auhenpolitiker des Blattes, Pertinax, mit Sensationen aufwarten zu können. Er beschuldigt den englischen Schatzkanzler Snowden, plötzlich die Aufnahme von Sanktions bestimmungen in den Doungplan verlangt oder doch angeregt zu haben. lieber die Beweggründe Snowdens schreibt Ver- tinax, Snowden habe im Verlaufe der schwierigen deutsch-englischen Verhandlungen über die Freigabe des in den Jahren 1914 bis 1918 beschlagnahmten deutschen Privateigentums die „Notwendigkeit erkannt", die Möglichkeit einer deutschen Zahlungsunfähigkeit stärker ins Auge zu fassen. Im Zusammenhang damit habe er es für erforderlich gehalten, schon jetzt Strafen für diesen Fall festzusetzen! Was die Strafen betreffe, erläutert der fran- züsische Journalist, brauche man dabei nicht gleich an die Wiederbesetzung des Rheinlandes oder des Ruhr, gebietes zu denken, es gebe auch andere Maßnahmen, sie weniger Aufsehen erregen und doch wirksamer sein würden. Voraussetzung für die Erfüllung des Snowdenschen Wunsches sei aber die Beibehaltung der Reparationskvmmtssion, die bekanntlich unter dem Dawesplan nur noch ein Schattendasein führte und deren Beseitigung der Doungplan still schweigend voraussetzt. Allerdings müsse sich die Re. parationskommisston in Zukunft darauf beschränken, Verstöße Deutschlands festzustellen. Soweit Pertinax. Wenn er mit feiner Meldung den Zweck verfolgt hat, Aussehen zu erregen, ist ihm das in hervorragender Weise gelungen. Denn daß die Aufnahme von Sanktionsbestimmungen in den Doung- plan eine Ungeheuerlichkeit und zugleich ein« Ueberraschung ist, auf die niemand vorbereitet war, bedarf keiner näheren Darlegung. Wo es auch war, aus der Sachverständigenkonfe renz in Paris oder auf der ersten Ministerkonferenz im Haag, überall bekam man gute Worte über die Notwendigkeit der Liquidation des Krieges und der Ueberwindung des Geistes des Mißtrauens zu hören. Dre Aufnahme von Sanktionen in den Doungplan Ware aber der Ausfluß des Geistes schlimmsten Miß- trauens und mehr noch als das, eine Böswilligkeit. Nrcht' daß mit Sicherheit vorauszusagen wäre, daß Deutschland nach der Inkraftsetzung des Doungplans memals rn die Lage kommen wird, an die Mächte heranzutreten und die Einstellung der Tributzahlungen verlangen zu müssen. Im Gegenteil! Aber wenn Deutschland über kurz oder lang erneut die Herab setzung der Reparationssummen beantragen müßte, dann geschieht das nicht, weil Deutschland sich seinen Verpflichtungen böswillig entziehen will, sondern nur deshalb, weil die Tributlasten die Kraft der deutschen Wirtschaft übersteigen! Die Antwort darauf kann aber niemals die Verhängung einer Strafe sein, sondern nur die Herabsetzung der Tribute. Zu dieser Erkenntnis bedarf es keiner großen Weisheit, cs ist daher nicht einzusehen, warum diese Folgerungen ausgerechnet dem englischen Schatzkanzler fremd sein sollen, und das um so mehr, als Snowden vor Jahren, als er noch nicht Minister war, die Strei chung aller Kriegsschulden befürwortete, weil auf den Kriegsschulden nach dem Wort eines Ausländers ein doppelter Fluch lastet. Aber vielleicht lag es Per- ! tinax gar nicht daran, Snowoens geheimste Pläne ; wiederz"s"'bett. vielleicht m^ite er d<e Wels nm» be ruhigen, den Doungplan sabotieren und die Engländer verärgern. Selbstverständlich haben die Mitteilungen des „Echo de Paris" auch in Berlin erhebliche Beach tung gefunden: Unruhe haben sie aber nicht aus. gelöst. Die Zeit, wo man Deutschland mit Strasmatz- inahmen drohen konnte, ist endgültig vorbei! Ferner ist nicht einzusehen, warum gerade der Schatzkanzler der englischen Arbeiterpartei von dem Ehrgeiz be sessen sein soll, die Welt einen gewaltigen Schritt rückwärts zu führen, ganz abgesehen davon, daß diese Sanktionspolitik sich doch wahrhaftig nicht in den Rahmen der Gesamtpolittk Macdonalds einstigen läßt. Kein Zweifel darf jedoch darüber aufkommen, daß, wenn tatsächlich von irgend einer Sette der Versuch gemacht werden sollte, auf der Haager Schlußkonferenz für die Ausnahme von Sanktionsbestimmungen in den Doungplan „Stimmung zu machen", niemand in Deutschland zu finden sein wird, der den Doung- dlan dann noch zu vertreten bereit ist. Ein Douna- Plan mit Sanktionen, das ist schon das Schlimm ste was es geben kann, freilich auch etwas, was es niemals geben wird! Letzten Endes ist das wichtigste an der ganzen Sanktions-Geschichte aber auch nicht so sehr das, was Snowden erstrebt haben soll, sondern das, was Per tinax mit seiner „Sensation" bezweckt hat: handelt es sich um Hetze oder um einen Akt der Politik? Abänderung der Agrarzölle Das Kompromiß der Regierungsparteien. — Ler Han- »elspolitische Ansschutz stimmt mit 18 gegen 0 Stimmen zu. — Sicherheitsfaktor statt Gleitzölle. — Berlin, 19. Dezember. Der Handelspolitische Ausschuß des Reichstages beschäftigt« sich in ausgedehnter Beratung mit den in der neuen Zolltarifnovelle enthaltenen Agrarzoll sätzen. Zwischen den Regierungsparteien war es we nige Stunden zuvor zu einer Einigung über die Haupt fragen gekommen. Die wichtigsten Bestimmungen des Kompromisses sind folgende: Die in der Regierungsvorlage enthaltenen glei, tenden Zollsätze werden aufgehoben, an ihrer Stelle wird ein Sicherheitsfaktor eingeschaltet. AlS angemes sene Preise für die Landwirtschaft gilt ein Weizen preis von SSO Mark und ein Roggenpreis von 230 Mark. Wird dieser Preis tm viermonatliche« Durch schnitt unterschritte«, beträgt der Zoll für Weizen 9,50 Mark mW der für Roggen ü Mark, «ei eine« lleberschreiten der Mindestpreisgrenz« kann »er Zoll bis ans 3,SO Mark bzw. 3 Mark ermäßigt werden. Danach beträgt der Weizenzoll ab 1. Januar 9,50 Mark und der Roggenzoll 9 Mark. Der Fest- poll für Braugerste beträgt 9 Mark, der für Hafer 7 Mark. Die Ernfuhrscheine wurden wie folgt festgesetzt: für Weizen 6,50 Mark, Roggen und Hafer 6 Mark, Braugerste 6,50 Mark. In der Abstimmung wurden die Zollsätze für VSeizen, Roggen, Braugerste und Hafer sowie die Be, Simm«nge« über die Einfuhrschcine mit 18 gegen 6 Stimmen angenommen. Bor der Abstimmung hatte fieichsernährungsminifter Dietrich noch eine Erklärung »bgegeben, derzufolge die Reichsregierung versuchen vill, zusammen mit Pole« die Rogge«a«Sfnhr L« re- »«liere«. Sechs Millionen für die Kolonisten. Im Haushaltsausschutz des Reichstages wurde die Beratung über die Bereitstellung außerplanmäßiger Mittel Ar die deutsch-russischen Bauern zu Ende ge führt. Fast alle Fraktionen erkannten die Notwendig keit von Hilfsmaßnahmen an. Der ReichSkommtssar für »ie Flüchtlingsfürsorge,. Stücklen, befürwortete die An siedlung eines Teiles der Kolonisten in Deutschland. Am übrigen, so fuhr er fort, könne kein Mensch vor- auösehen, welchen Umfang die Wanderung aus Rußland annehmen werde. Wenn sie sich tatsächlich vergrößere, so müsse es Aufgabe des Flüchtlingsamtes beim Völker bund sein, die Auswanderer zu betreuen. Man könne unmöglich verlangen, daß ein Land, in das sich gerade der Durchgangsstrom ergieße, sämtliche Kosten allein krage. Ein Vertreter des Auswärtigen Amtes steifte fest, daß irgendwelche Zusagen an Rußland bezüglich einer bestimmten Behandlung der Auswanderer nicht gegeben seien. Bezüglich der in Moskau zwangsweise zurückbehaltenen deutschen Kolonisten bemühe sich die Reichsregierung, diesen Unglücklichen die Wiederansted- lung in den früheren Wohngebieten zu ermöglichen. Zum Schluß der Debatte bewilligte »er Haus, haltsausschuß die für Vie Deutschrussen angeforverte« sechs Millionen Mark: gegen die Bewilligung stimm ten nur die Kommunisten. Der Rest dcr Sitzung war dem voikspartcilichen Antrag auf Einsetzung eines Spardiltators gewidmet. Held besucht Ostpreußen. Berstärtte Fühlungnahme zwischen Bayern und dem Osten. Anläßlich der Anwesenheit des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen in München wurden dort Be sprechungen über die Möglichkeiten engerer kultureller und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Bayern und dem deutschen Osten gesührt. Als erster Schritt auf diesem Wege ist ein Besuch des bayettschen Mi nisterpräsidenten Dr. Held in Ostpreußen anzusehen, der im kommenden Frühjahr zur Ausführung gelangt. Der Bund heimattreuer Ost- und Westpreutzen in München hat dem Stadtrat München die Anregung un terbreitet, in einem neuen Wohnviertel der Stadt die Straßen und Plätze nach ostdeutschen Provinzen und Städten, auch nach solchen, die jetzt unter pol nischer Herrschaft stehen, zu benennen. Diesem Antrag« dürfte bei nächster Gelegenheit ohne Zweifel ent sprochen werden. v. Januar Konferenz-Beginn. Das französisch« Torpedo gegen ven Doungplan. - Schacht deutscher Hauptdelegierter? — Berlin, 19. Dezember. Wie nunmehr feststeht, wird die Schlutzkonferenz 6. Januar beginnen; am 3. Januar werden sich die Juristen im Haag versammeln, um den Entwurf des Vertragsinstruments endgültig zu sormulreren. Die zuständigen Minister werden sich in den näch. ften Tagen mit der Vorbereitung der Haager Konferenz beschäftigen. Federführend in der Reparattonsfrag« ist der Reichsfinanzmtnister Dr. Hilferding. Außerdem sind an dem Reparattonsproblem zunächst beteiligt das Auswärtige Amt, das Reichswirtschaftsministerium und das Ministerium für die besetzten Gebiete. Wie verlautet, wird die Reichsregierung den Reichsbank, Präsidenten Dr. Schacht etnladen, als Hauptdelegierter die deutsche Delegatton nach dem Haag zu begleiten. Dagegen dürfte der ReichswirtschaftSminister Dr. Mol- - denhauer der deutschen Delegatton nicht angehören. Zu Ven sensationelle« Mitteilungen »es „Echo v« Paris, nach Venen ver englische Schatzkanzler Snow- ven Vie Aufnahme von Sanktionsbestimmnngen i« vas Noungabkomwen verlangt habe, wirv von zustä«viger Berliner Stelle erklärt, eS könne sich vabei wohl nnr um Vie Wünsche von französischen Kreise« hanveln, ve- ne« ver Doungplan ei« Dorn im Auge sei. Ihre eige- ne« Absichten versuchten sie anscheinend vem englischen Schatzkanzler in die Schuh« zu schieben. ES bestehe gar kein Zweifel varüber, datz mit ver Annahme «uv dem Inkrafttreten veS DonngPlanS Vie Reparationskommis, sion Dentschland gegenüber ungültig sei. Verleihung des AdlerfchUdes anBrentano« Glückwünsche des Reichspräsidenten und des Reichs kanzlers. Reichspräsident von Hindenburg hat dem Uni versitätsprofessor a. D. Lujo Brentano zu seinem 85. Geburtstage in einem Schreiben seine Glückwünsche ausgesprochen und ihm den Adlerschild, di« höchste Ehrung des Reiches, verliehen. Auf der Vorderseite oeS Schildes befindet sich das Symbol des Reiches, auf der Rückseite die Widmung: „Dem großen Wirtschaftslehrer und Förderer deutscher Sozialpolitik." Wettere Glück wunschschreiben sandten der Reichskanzler Hermann Müller und der Reichsminister des Innern Severing. Llrteilsfällrmg im Staatsgericht. Die letzten Verhandlungen in »er Krage der Ttellnng ver Beamten zum Volksbegehren. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich führte am Mittwoch di« Verhandlungen wegen der Stel lung der Beamten zum Volksbegehren zum Abschluß. Das Urteil wird am heutigen Donnerstag verkündet. Di« Ergebnisse der Diskussion faßte der Bor fitzende, Reichsgerichtspräsident Dr. Bumke, zu fol gendem Vorschlag zusammen: Der StaatSgerichtShof sehe sich in dem vorliegen den Streitfall vor außerordentliche Schwierigkeiten ge steift. Deshalb wäre es zu begrüßen, wenn die schon erzielte Annäherung zwischen den Parteien noch einen Schritt weiter gefördert würde. Das ließe sich v«rch ei«« Erklärung der preußische« Regier««- erreiche«. v«rch die die i« manchen Gruppen der Beamtenschaft entstandene Befürchtung ausgeräumt würde, es solle den Beamte« das Recht der Mitwirkung an ver Poli- tischen Willensbilvung im Rahmen der BolkSgesetzge- bung generell verkürzt werden. Eine derartige Schlichtung des Konfliktes verdiene den Vorzug vor jeder juristischen Entscheidung. Ministerialdirektor Dr. Badt erklärte darauf, die preußische Regierung vertrete den grundsätzlichen Standpunkt, daß dem Disziplinargericht nicht vorge griffen werden dürfe. Deshalb wolle sie erst nach Ab schluß der Aktion Stellung zu den einzelnen Fällen nehmen Kleinarbeit im Reichstag. Krcditcrmächtigung von 465 Millionen genehmigt. — Berlin, den 18. Dezember 1929. Der Reichstag genehmigte in zweiter und dritter Be ratung den Gesetzentwurf über eine Kreditermächtigung von 465 Millionen, die wirksam bleiben soll, bis die ent sprechenden Ersparnisse aus dem Doungplan vorliegen, und verabschiedete ihn in der Schlußabstimmung mit 239 gegen 130 Stimmen. i Es folgte die zweite Beratung des Gesetzentwurfs, der die Geltungsdauer der Verordnung über Vie Ausfuhr von Kunstwerken verlängern will. Die Regierungsparteien ersuchen in einer Entschließung die Retchsregierung, mit Oesterreich über die Ausfuhr deutscher Kunstwerke in Ver bindung zu treten mit dem Ziele, eine Uebereinkunft im Sinne einer möglichst umfassenden Erhaltung des gesamt deutschen Kunstbesitzes zu erreichen. Abg. Dr. Strathmann (Dntl.) begründete eins Entschließung, wonach ein Reichsgesetz gemäß Artikel 150 der Retchsverfassung so rechtzeitig vorgelegt werden soll, daß eine abermalige Verlängerung der Verordnung sich er übrigt. Die Vorlage wurde in zweiter und dritter Lesung an genommen, ebenso die Entschließungen der Regierungspar teien und der Deutschnationalen. Das internationale Uebereinkommen über die H«»«- schaffung ver SchiffSleute wurde in aKen drei Lesungen genehmigt. Die Gesetzentwürfe über die Rückflüsse aus Hauszins» steuermitteln und über die einheitliche reich«gesetzliche Fest- . setzung der Miete, die am Dienstag bereits in zweiter Lesung I erledigt waren, wurden auf Anttag des Zentrums vor der , dritten Beratung noch dem Wohnungsausschuß überwiesen. ! Es stand dann die ! Aenverung VeS Diäte«gesetz<S ' zur dritten Beratung, wonach gemäß den Verschärfungen ' der Geschäftsordnung künftig ausgeschlossenen Abgeordnete« auch Aufwandsentschädigung uüd Freifahrkarte entzogen werden können. Abg. Graef (Dntl.) brachte nochmals verfassungsrecht liche Bedenken zum Ausdruck und beantragte Ueberweisung an den Ausschuß. Abg. Torgler (Komm.) bekämpfte die Vorlage und schloß sich dem Antrag auf Ausschußüberweisung an.