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Beilage zur Weitzeritz-Zeilung Nr. 289 Freitag, am 13 Dezember 1929 9S. Jahrgang Chronik des Tages. — Im Reichstag beginnt äm heutigen Freitag die Aussprache über das Finanzprogramm. - Der Reichsverband der deutschen Industrie hielt in Berlin eine außerordentliche Mitgliederversammlung ab. - Als Nachfolger des Grafen Westarp wählte die deutschnationale RetchstagSfraktton den Abg. Oberfohren zum Vorsitzenden. — Die Bank von England hat Wider Erwarten ihren Diskontsatz von 6Vs v. H. auf 5 v. S. ermäßigt. - In Szolnot in Ungarn begann der Prozeß gegen die erste Serie von den etwa 100 Frauen, die ihre Man ner mit Arsenik vergiftet haben. — Bei einem Stratzenbahnzusammenstotz in London wurden fünf Personen getötet und 26 verletzt. — Die Meuterei im Zuchthaus Aubourn ist nieder- gekümpft worden. Ein neuer Grenzwall. — Berlin, 13. Dezember. Anläßlich der Beratung des Haushalts des Kriegs- Ministeriums gab es in der französischen Kammer eine aufschlußreiche Debatte über den Umfang der französischen Rüstungen und die Festungsbauten an der deutschen Grenze. Der junge Führer der Radi kalen, Daladier, durchleuchtete die Verschleierungs künste des Kriegsministers Maginot und stellte fest, daß Frankreich seine Heeresausgaben nicht von Jahr zu Jahr vermindert hat, wie es Maginot behauptete, sondern daß es immer höhere Beträge in seine Rü stungen steckt, wenngleich die Verbuchung nicht immer aus das richtige Konto erfolgt! Die mutige Kritik Daladiers hat in den Kreisen der französischen Nationalisten selbstverständlich Miß fallen erregt. Verlegen an sachlichen Momenten, glaubte Oberst de St. Just den Eindruck der Rede des Abgeordneten Daladier dadurch verwischen zu können, daß er seinen Gegner als schlechten Franzosen ver dächtigte und ihn beschuldigte, tüchtige Arbeit für Deutschland geleistet zu haben. In Wirklichkeit wollen aber auch die französi schen Radikalen gute französische Politik machen; sie kritisieren zwar verschwenderische Ausgaben, stehen aber andererseits nicht an, die für notwendig erachteten Summen zu bewilligen. Und das sind gleichfalls ganz erkleckliche Beträge! Besteht doch insoweit in Frank reich «eine Einheitsfront, als jedermann daran glaubt, daß Frankreichs Sicherheit noch nicht gewähr leistet ist! Die Unruhe Frankreichs datiert von dem Tage, an dem sich die Verhandlungen über einen englisch amerikanisch-französischen Garantiepakt zerschlugen. Von da an wurde der Ruf nach Sicherheit in Frank reich laut und lauter. Gefördert wurde diese Bewe gung durch den Marschall Foch, der trotz unserer Entwaffnung Deutschland und. Frankreich militärisch als gleichwertig bezeichnete! Niemand, der nüchtern denkt, wird dieser Behaup tung des Marschalls Foch Glauben schenken. Die Tat sache des militärischen Uebergewichts Frankreichs ist zu offenkundig. Wenn Deutschland ein 100 OOO-Mann- Heer hat, kein schweres Geschütz und keine Kriegs flugzeuge, während Frankreich weit über 700 000 Mann unter den Waffen hat, 386 schwere Batterien und rund 1800 Kriegsflugzeuge besitzt, dann kann hier — ganz abgesehen von den entmilitarisierten Zo nen usw. — von einer Gleichwertigkeit nicht die Rede sein. Selbstverständlich bestreiten wir nicht, daß Deutsch land aus seiner Reichswehr das beste gemacht hat, was daraus zu machen war! Aber es gilt doch auch das, was Oberst a. D. von Oertzen, ein früherer Offi zier des Wehrministertums, in den Satz gekleidet hat: ein begeisterter Schwimmer, der nach Verstümmelungen lernt, sich mit der Prothese über Wasser zu halten, verdient gepriesen zu werden; dieses Lob lohnt sein Streben und seine Energie, nicht seine absolute Lei stung; mit einem Schwimmer, der über alle seine gesunden Gliedmaßen verfügt, kann ec trotzdem nicht in Wettbewerb treten. Die Franzosen finden nichts dabei, trotzdem mi litärische Maßnahmen zum Schutze ihrer Grenze gegen Deutschland durchzufiihren. Und zwar unter Verpul verung gewaltiger Milliarden. Die Debatte in der Kammer zeigte uns mit aller Deutlichkeit, daß gegen über der entmilirarisierten Rheinlandzone eine Zone der Geschütze und der Festungsnester im Entstehen begriffen ist. Aus Stahl und Beton wer den Stützpunkte erbaut und nach den Erfahrungen des Schützengrabenkrieges durch gesicherte Gräben mit einander verbunden und mit Maschinenaewebrneltern bespickt. Hinter dem Festungsgürtel liegt in großen Ar senalen Hindernismaterial 'in Hülle und Fülle bereit, liegen aber auch gesicherte Sammelplätze, von denen aus die Heere nicht nur in die Verteidigungsstellung strö men sollen, sondern von denen aus sie die Fahnen in das Land des Nachbars tragen können. Das ist eine Militärpolitik, die sich dem Rah men der Locarno- und der Kriegsächtungspaktpolittk nicht einfügt. Aus den französischen Festungsbauten spricht schlimmes Mißtrauen. Und doch ist es eine Tatsache, daß Frankreich weit geringere Opfer zu brin gen braucht, wenn es einem gerechten Ausgleich in Europa die Kräfte ebnet, als wenn es grausame Be stimmungen der Friedensdiktate mit GÄvaltmitteln über Gebühr am Leben erhalten will. Im übrigen zeigen aber auch die französischen Festungsbauten, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt. Schon einmal wurde am Rhein ein Festungs- wall errichtet, das war, als das römische Weltreich in allen Fugen krachte und Rom vor der germani schen Welle erbebte. Roms Grenzwallpolitik war eine Politik der Schwäche, Frankreichs Grenzwall-Politik ist gleichfalls nur aus einem Gefühl der Schwäche heraus zu erklären, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß nun auch Frankreichs Machtstellung in ihren Grundfesten schwankt; im Gegenteil, Frankreich führt heute das große Wort in Europa; gewiß nicht Mr immer, aber doch gegenwärtig. Und in dieser Lag« sollten Völler noch Mut haben und weniger an Schutz bauten denken. Das Haus der Wirtschaft brennt. Sondertagung des Reichsverbandes. — Gegen Zweck- Pessimismus und Katastrophenpolitik. — Finanzpro gramm nnr ein Anfang- — Berlin, 13. Dezember. Ter Donnerstag war für die deutsche Wirtschaft ein Tag größter Bedeutung. Während im Reichstag die Regierungserklärung über die Finanzreform abge geben wurde, tagte in der Seala die von annähernd 300« JndnstrieMhrern besnchte außerordentliche Mit gliederversammlung des ReichsverbandeS der Deutschen Industrie, und zum dritten hatte sich die Spitzenorga nisation deS deutschen Bankgewerbes, der Zentralver- band des deutschen Bank- und Bankiergewerbes, zur Generalversammlung in Berlin eingefunden. Industrie-Appell zur Tat. Skyon lange vor Beginn der Jndustrietagung war Vie große Scala bis auf den letzten Platz gefüllt. Anwesend waren der Reichswirtschaftsminister Dr. Mol denhauer, der preußische Handelsminister Dr. Schrei ber, Reichsbankpräsident Dr. Schacht, der General direktor der Reichsbahn Dr. Dorpmüller; unter den Ehrengästen bemerkte man Karl Friedrich von Sie mens, den früheren badischen Staatspräsidenten Dr. Hummel und Dr. Eckener. Die Begrüßungsrede hielt der Präsident Reichsverbandes Geheimrat Dr. Duisberg; gleichzeitig stellte Geheimrat Duisberg eine Reihe von Leitsätzen Mr die Tagung aus. Der deutschen Wirt schaft gehe es schlecht, seit der September-Hauptver sammlung in Düsseldorf sei es noch schlechter geworden, trotzdem lehne das Unternehmertum in seiner Gesamt heit jeden Zweckpessimismus genau so ab wie jede andere Katastrophenpolitik. Wenn die Industrie : trotzdem ihre warnende Stimme erhebe, so deshalb, j weil eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik in i den letzten Jahren viel Unheil angerichtet habe. Las Finanz- und Steuerprogramm der Regierung eröffne in zwölfter Stunde einen Lichtblick, es genüge aber nicht. Kompromisse könnten nicht mehr helfen, es müsse ganze Arbeit gemacht werden, der Kampf gehe ums System. Geheimrat Duisberg faßte seine Ausführungen über den Ernst der deutschen Wirtschaftslage kurz und bündig in die Worte zusammen: „Das Haus der Wirt schaft hat bereits angefangen zu brennen." Reichswirtschaftsminister Dr. Moldenhauer Mhrte in seiner Ansprache aus, der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands vor dem Kriege sei der ka pitalistischen Wirtschaftsordnung zu verdanken. Er teile nicht die Meinung, daß dieses System seinem Ende nahe sei, vielmehr glaube er, daß auch das kapitalistische System Deutschlands Gesundung mit her- beiMhren werde. Natürlich sei das System Wand lungen unterworfen, und zu diesen Wandlungen gehöre die Sozialpolitik. Das große Problem des Tages sei dis Finanzreform. Die Denkschrift der Industrie sei der Negierung wertvoll gewesen; sie habe viel brauch bares Material enthalten. Das Finanzprogramm möge unzulänglich sein, nur dürfe man es nicht im Keime ersticken. Es sei der ernste Wille der Reichsregie rung, dieses Programm in allen Teilen durchzufiihren und sich nicht etwa auf das Sofort Programm — das bekanntlich nur Lastenerhöhungen bringt — zu be schränken. Nur in der Zusammenarbeit aller sei der Aufstieg begründet. Als erster Hauptreferent sprach Georg Müller- Oerlinghausen über Fragen der Wirtschafts- und So zialpolitik; seine Ausführungen unterstrichen die Not wendigkeit eines schnellen Handelns. Stärkste Aufmerksamkeit fand Dr. Paul Silverberg, der in temperamentvoller Weise über die Finanz- und Steuerpolitik sprach. Dr. Silverberg ging davon aus, daß Industrie, Landwirtschaft und Handel ver- schuldet sind und Mangel an Betriebs- und Anlage kapital zu verzeichnen haben. Es sei deshalb uner läßlich, die Kapitalbildung durch eine sparsame Aus- gabenwirtschaft der öffentlichen Hand zu fördern. Wir bedürfen dringend einer grundlegenden Reform un, serer Verwaltung und Finanzwirtschaft. Die Be, steuerung müsse so sein, daß durch sie der Ver brauch eingeschränkt, die Kapitalbilvung in den Be trieben aber gefördert werde. Der Verbrauch ent behrlicher Genußmittel müsse in stärkerem Maße als bisher zum Steuerträger gemacht werden. Lie Finanzierung »er Landwirtschaft und ebenso die der Reichsbahn sei durch ein besonderes Gesetz sicherznstellen. Rotwendig sei ferner die Aufhebung aller Kapitalertragssteuern und die Beseitigung de, Steueraltzüge vom Lohn; die Gemeinden müßten Wiede, wie früher die Steuern bei den Steuerpflichtigen selbst erheben. Für Kürzung der Ansgaben um 5 v. H. Den Referaten folgte eine ausgedehnte Diskus sion, die Geheimrat Dr. Duisberg kurz einleitete. Fast sämtliche Redner unterstrichen Vie Notwendigkeit eine, gründlichen Reform dec Wirtschafts- und Finanzpolitik, : gleichgültig ob der Aoungplan angenommen oder ab« i gelehnt wird. Stärksten Beifall erhielten die Redner, ' die sich Mr eine sofortige Kürzung der öffentlichen Ausgaben kussprachon. So hatte Dr. Silverberg ein« Kürzung der Ausgaben in Reich, Ländern und Ge meinden (einschl. der Kirchen) um durchschnittlich g , vom Hundert gefordert, das bedeute eine Ersparnis von jährlich 800 Millionen Mark. l Reichsbankpräsidsnt Dr. Schacht war im Im i dustrieparlament mit starkem Beifall begrüßt worden. i Der Anschlutzgedanke lebt, Unterredung eines Franzosen mit Schober. — „Di« ' Wiederherstellung des großen Deutschen Reichs nur ! eine Frage der Zeit. Das „Echo de Paris" veröffentlicht einen be merkenswerten Artikel über die deutsch-österreichisch« Anschlußfrage, der sich zum Teil aus die Unterredung eines Mitarbeiters des Blattes mit dem österreichi schen Bundeskanzler Dr. Schober stützt; der darübe, hinausgehende Teil gibt die eigene Meinung der Zei, tung wieder. „Echo de Paris" schreibt, wenn man in Deutsch* ' Oesterreich einen Diplomaten oder einen Minister nach . dem Anschluß frage, lege er jedesmal den Finger auf - ; den Mund und antworte: „Wir wollen immer ! daran denken, aber nicht davon sprechen." ! Bundeskanzler Schober habe erklärt, er kenne die in« ! ternationalen Widerstände, die dem Anschluß entgegen« ; stünden. Die amtliche Politik achte die Verträge und - betrachte die Anschlußfrage im Augenblick als nicht - zeitgemäß. ! Trotzdem, so fährt der Artikel des „Echo de Paris" fort, sei nicht daran zu zweifeln, daß der Anschluß - moralisch bereits vollzogen sei. Besonders in letzter ! Zeit habe der Anschlutzgedanke Fortschritte gemacht. ! Mit der Beendigung der RheinlaudrSumung werde - Teutschland «ach und nach die Anschlnßfrage in den - Vordergrund schiebe». Lie Wiederherstellung des gro ßen Deutsche« Reiches, da» vom Baltikum bis an die Lonau, von der Etsch bis an den Belt reiche, sei nur noch eine Krage der Zeit. In Berlin und Wien sei man fest davon über-, zeugt, daß der internationale Widerstand gegen den ; Anschluß zu brechen ist. Die einzige Schwierigkeit be- i fürchte man von Italien, weil Italien Deutschland ' nicht bis an den Brenner Vordringen lassen wolle. Polen lege der Anschlußsrage nur noch geringe Bedeu- . tung bei und Südslawien würde den Anschluß sogar als ein Schnippchen gegen Italien begrüßen. Wer Vie ! Verhältnisse kenne, so meint das „Echo de Paris", - wisse, daß viele alliierte Kreise dem Anschluß schon i jetzt nicht mehr ablehnend gegenüberstünden und der , wisse auch, daß daran gedacht werde, der Anschluß forderung stattzugeben, wenn Deutschland dafür die , polnische Grenze garantiere. ' Soweit die französische Zeitung. Was das ; Tauschgeschäft betrifft, wird, vorausgesetzt, daß ' französische Politiker ernsthaft daran denken sollten, in Deutschland kaum jemand dafür Verständnis auf-- bringen. , - - Die Regierungserklärung. : Reichskanzler Müller erläutert das Finanz- 1 ! und Steuerprogramm. - Berlin, den 12. Dezember 1929. »-er Reichstag nahm heute die Regierungserklä rung zum Finanz- und Steuerprogramm entgegen. Am Regierungstisch hatten der Reichskanzler und die Mit glieder des Reichskabinetts Platz genommen. Die Ab- geordnetenbänke waren sämtlich gut besetzt; die Tri bünen waren überfüllt, ebenso gab es in der Diplo matenloge nur wenige Lücken. In seiner Rede entschuldigte der Reichskanzler den Mißstand, der darin liegt, daß der neue Reichs haushaltsplan, der an sich Anfang November dem Reichsrat vorliegen muß, in diesem Jahre erst ver- spätet vorgelegt werden kann. Im werteren Verlause seiner Ausführungen setzte sich der Kanzler mit der Denkschrift des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht aus einander, ferner äußerte er sich über die Gestaltung der deutschen Finanzen unter dem Aoungplan. Sehr betrüblich war die Feststellung, daß die durch den Aoungplan Mr 1929 eintretende Entlastung des Haus- ! Halts gerade ausreicht, um die Fehlbeträge aus 192S ! und 1929 zu decken! Der Schluß der Rede galt den ! Einzelheiten des Reformprogramms. ? Nach der Rede des Reichskanzlers vertagte sich > das Haus auf Freitag. Die Fraktionen hielten nach ! der Plenartagung nochmals Sitzungen ab, in deren Mittelpunkt wiederum das Finanzprogramm der RetchS- regierung stand. In seiner Rede führte Reichskanzler Müller aus. die Gestaltung des Haushaltsplans für 1930 häng« aufs engste mit der Frage zusammen, ob der Aoungplan von den beteiligten Regierungen angenommen werde ober nicht, eine Frage, die auf der Haager Konferenz entschieden werde. Die Reichsregierung habe schon vor Wochen den Beschluß gefaßt, den Reichstag grundsätzlich mit der Frage der Finanzreform noch vor Weihnachten zu befassen, und er habe bereits damals dem ReichStagSprästdenten als Ter min für eine solche Aussprache den 13. Dezember vor- geschlaaen. Den letzten Anstoß dazu, daß dies« Debatte nun schon einen Tag früher beginne, habe vaS letzte Memorandum des NeichS-ankPräsidente» Dr. Schacht gegeven. Nach Anerkennung der großen Verdienste des