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Beilage zur Weitzeritz-Zeilung Nr. 285 Montag, am S Dezember 1929 95. Jahren-o , > ——m' II V— ' — 1 !! I »WIM Chronik des Tages. - Reichspräsident von Hindenburg nahm eilten Vor trag des Reichskanzlers über die politische Lage entgegen. - Im Zusammenhang mit der RegierungseErung über das Reformprogramm finden am heutigen Montag neue Besprechungen mit den Fraktionsführern statt. — Am Sonntag fanden in Thüringen Landtags- und , in Bayern Gemetndewahlen statt. > - Der Verteidiger des Angeklagten Max Sklarek hat beantragt, seinen Mandaten auf seinen Geisteszu stand hin zu untersuchen. ' , — Das polnische Kabinett Switalski ersuchte den : Staatspräsidenten nach der Annahme des Mißtrauens- , antrages tm polnischen Landtag um die Genehmigung des Rücktritts. . - Der chinesische Staatspräsident Tschanakaischer wurde von mehreren führenden Generalen zum Rücktritt aufaofordert. - In der Akademie der Künste in Berlin wurde eine Gedächtnisausstelluna für den 1928 verstorbenen Leo- ' pold von Kalckreuth eröffnet. , — Das Opfer Tetzners ist wahrscheinlich eine 22- jährige Ktnokassiererin aus Regensburg. Krise oder Reformen? Entscheidende Tage im Reichstag. — Berlin, 9. Dezember. : Das deutsche Reformprogramm, von dem schon so lange die Rede ist, und dessen Notwendigkeit von keiner Seite in Zweifel gestellt wird, wird nunmehr am Mittwoch vom Reichskanzler im Reichstag ein gebracht werden. Wie die Rerchsregierung in ihrer Antwort aus die Denkschrift des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht feststellte, wird dieses Programm Maß nahmen zur Sanierung der Finanzen, zur Entlastung der Reichskassen und der Arbeitslosenversicherung so wie ein umfassendes Steuerprogramm enthalten. Wichtiger als die Auszählung dieser Kapitel ist natürlich ihr Inhalt. Wie man hört, ist aber eine Entscheidung über die Einzelheiten der Reformen noch nicht gefallen! Das Kabinett muß sich also in seiner Gesamtheit noch eingehend mit den Vorschlägen befassen, die in den voraufgegangenen Monaten oder Wochen von den einzelnen Ministerien ausgearbeitei worden sind. Die dafür zur Verfügung stehende Zeit ist sehr knapp bemessen. Die Hinauszögerung der Reformen ist von der Wirtschaft Übel vermerkt worden. Dabei wird nicht ' bestritten, daß anfangs Gründe für die Zweckmäßigkeit, das Reformprogramm gleichzeitig mit dem Noungplan im Reichstag einzubringen, angeführt werden konn ten. Bekanntlich vertrat auch der verstorbene Reichs außenminister Dr. Stresemann den Standpunkt, daß das Reformprogramm und der Avungplan gemeinschaft lich behandelt werden müßten. Aber, als man sich aus diese Taktik festlegte, war damit zu rechnen, daß die Haager Schlußkonferenz im Oktober über die Bühn« gehen würde. Inzwischen ist es jedoch Dezember ge worden! Drückend mutzte die Verzögerung der Reformen empfunden werden, weil nun weitere Monate erhöhte Lasten aufzubringcn waren. Das aber bedeutete nicht nur einen Verlust von Zeit, sondern auch einen ma teriellen Verlust und eine Schwächung des Pro- duktionskapitals der deutschen Wirtschaft. Gewiß kann die Wiederankurbelung der deutschen Wirtschafts maschine nicht vom Staat erhofft werden, aber an dererseits können alle Anstrengungen der Wirtschaft nichts fruchten, wenn nicht gleichzeitig vom Staat her Maßnahmen zur Entlastung der Wirtschaft und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze eingeleitet werden! Das muß jetzt erfolgen. Da die Regierung für ihr Reformprogramm die Bertraunsfrage stellen wird, sieht sich der Reichstag vor die Notwendigkeit gestellt, entweder die Grundzüge der Regierungsvorschläge zu billigen oder aber die Regierung zu stürzen. An Opposition gegen die Regierung fehlt es nicht, ob sie sich durchsetzen kann, ist freilich eine andere Sache. Da die Deutsch- nationalen gegenwärtig zu einem Eintritt in die Re gierung nicht bereit sind, fehlt es an der Möglich keit für eine anders orientierte Mehrheitsregierung. Somit dürste es diesmal trotz größter innenpolitischer Spannung nicht zu einer Weihnachtskrise kommen. Freilich kann das nur mit Vorbehalt gelten. Ueber- raschungen sind keineswegs ausgeschlossen. Die Stellungnahme des Reichstags zu den Re formvorschlägen der Reichsregierung ist letzten Endes aber von den Wegen abhängig» die die Regierung zur Sanierung der mißlichen deutschen Finanzen und zur Entlastung der Wirtschaft beschreiten will. Bis her hat man nur Teile des Neformprogramms ken nengelernt, das Programm in seiner Gesamtheit ist noch unbekannt. Welche Wirkungen der plötzlich zu Tage getretene Gegensatz zwischen Retchsregieruna und Reichsbank präsident haben wird, ist schwer zu beurteilen. Wenn Reichsbankpräsident Dr. Schacht Widerspruch gefunden hat, dann gilt dieser Widerspruch doch kaum dem positiven Teil der Denkschrift, dem Appell zur Fi nanzreform, sondern die Mehrheit des Kabinetts fühlt sich dadurch tm Gegensatz zu dem Reichsbankpräsi- denten, weil Dr. Schacht die angeblich schon lange vorbereitete Denkschrift wenig« Stunden vor dem Ka- btnettsrat veröffentlichte, der sich mit den Reformen befassen sollte. Auch soll die Denkschrift den Mi nistern erst später zugegangen sein als der Press«. Das Echo, das die Denkschrift des Reichsbank- prästdenten im Auslande gesunden hat, hört sich etwas eigenartig an. Man mag di« Form der Veröffent- ltchung der Schachtschen Denkschrift bekämpfen oder nicht mißbilligen, dartn wird jedermann Dr. Schacht zusttmmen, daß ausländische Regierungen zwischen den Konferenzen vielfach Zumutungen an Deutschland ge stellt haben, die ganz gewiß keinen ernsthaften Willen zur Liquidierung des Krieges bekunden! Praktische Folgen dürfte der Konflikt zwischen Regierung und Reichsbankpräsidenten kaum haben. Dr.'Schacht ist in seiner Stellung als Reichsbankpräsident unabhängig, auch ist er im vergangenen Jahr vom Verwaltungsrat der Reichsbank erneut im Amte bestätigt worden, und zwar bis zum Jahre 1932. Zweitägige Reform-Debatte. Für die Regierung sprechen der Reichskanzler nnd der Finanzminister. — Borverhandlnngen mit den Fraktionen. — Berlin, 9. Dezember. I« parlamentarischen Kreisen sieht man mit großer Spannung der Mittwoch-Tagung des Reichs tags entgegen. Am Dienstag steht die Beratung des Gesetzentwurfs über den S-Nhr-Ladenschluß am Heilig abend znr Beratung. Am Mittwoch wird Reichskanzler Hermann Müller die Finanzreform-Debatte einleiten. Die Einzelheiten des Reformprogramms selbst wird der Reichsminister der Finanzen, Dr. Hilferding, darlegen. Man nimmt an, daß sich di« Debatte über das Reform- Programm auf zwei Tage erstrecken wird. Am heutigen Montag wird das Reformprogramm noch mit Bertre» tern der die Regierung stützenden Fraktionen besprochen iverden. Bekanntlich plant der Reichsfinanzminister auch eine Erhöhung der Biersteuer, um über die Neparationseinsparungen hinaus Steuersenkungen vor nehmen zu können. Bisher hat die Bayrische Volks- Partei derartigen Plänen einen starken Widerstand entgegengesetzt. Wie verlautet, hofft man jetzt die Bayrische Volkspartei für diese Maßnahme gewinnen zu können, indem man das Aufkommen aus der Bier steuer dem bayrischen Staat beläßt. Ueber die Frage eines Tabakmonopols ist man im Kabinett noch zu keiner einheitlichen Auffassung gelangt. Was die Sanierung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung betrifft, soll diese Anstalt in Zukunft mehr nach kaufmännischen Ge sichtspunkten arbeiten, insbesondere soll dahin gewirkt werden, daß sie sich selbst erhalten kann. Di« SPitzeuverbSude der Arbeitgeber-Organisationen wenden sich in einer Eingabe an die Regierung noch mals dagegen, die Sanierung der Arbeitslosenversiche rung eventuell durch eine Hinauffetzung der Beiträge herbeizuführen. Eine Beitragserhöhung reiche einmal bei weitem nicht aus, die Fehlbeträge zu decken, außer dem sei sie für die Wirtschaft untragbar. Viel erörtert wird auch jetzt noch die Denkschrift des Reichsbankpräsidonten und die Erwiderung der Retchsregierung. Von zuständiger Stelle wird betont, die Bekanntgabe der Finanzreform sei nicht erst nach dem Vorstoß des Reichsbankpräsidenten beschlossen wor den. Es treffe auch nicht zu, daß die Antwort der Regierung nur von der Mehrheit des Kabinetts ge billigt worden sei, vielmehr sei im Kabinett vollkom mene Einmütigkeit über die Verlautbarung erzielt worden. Ueber die Beweggründe, die den Neichsbankprä- sidenten zur Veröffentlichung seiner Denkschrift be stimmt haben, wird in parlamentarischen Kreisen weiter gestritten. U. a. verweist man darauf, daß am 1. Ja nuar ein der Retchsregierung von der Reichsban kge- währter Kredit fällig ist, dessen Zurückzahlung der Re gierung schwer wird, weil die Kassen leer und die Steuern hinter den Einnahmeschätzungen zurückgeblie ben sind. Aus der dem Reiche im Zusammenhang mit dem Zündholzmonopol gewährten Ausländsanleihe fließen der Reichsregierung aber erst in den Sommer monaten Mittel zu. , Kanzlervortrag bei Hindenburg. Reichspräsident von Hindenburg empfing den Reichskanzler Hermann Müller zu einem längeren Bor trag über die politische Lage. Unsere Aufgabe in Europa. Teutschland muß Vorkämpfer sein für Freiheit, Frieden «nd Recht. Der Präsident des Deutschen Schutzbundes, Dr. v. Loesch, behandelte auf einer Veranstaltung des Deut schen Herrenklubs in längerer Rede den Kampf um Ge rechtigkeit für den Osten. Unter den Zuhörern be merkte man zahlreiche in- und ausländische Diplo maten, den früheren Reichskanzler Luther, den Reichs- Wehrminister a. D. Geßler, den Landbundpräsidenten Schiele, ferner Vertreter der Wirtschaft und der Wis senschaft. Ausgehend von der Unruhe in Europa betonte Dr. von Loesch, eine Befriedung der europäischen Völ ker sei erst dann zu erhoffen, wenn die Achtung vor dem ungeschriebenen Recht der Volkspersönlichkeit und der Staaten wieder gestiegen sei. Wie einst die Men schenrechte, so müßten jetzt die Völkerrechte anerkannt werden. Jedem Volk müsse das Recht aus einen eigenen Staat zustehen, soweit es geschlossene Siedlungsgebiete bewohne, während dem übrigen Volksteil, der in frem den Staaten zu leben gezwungen sei, vertraglich Selbstverivaltung gewährt werden müsse. Der Kampf für diese Rechtssätze sei di« eigentliche Aufgabe dec Deutschen, die ja in 21 von 31 europäischen Staaten lebten und die Mittellage im Erdteil inne hätten. Der Raum, der am stärksten nach Befriedung rufe, sei der der größten Völkermischung im nahon Osten Europas. Eine unzeitgemäße Stabilisierung der heu tigen ungerechten Verhältnisse sei gefährlich dem ge samten Erdteil, ja sogar den Staaten und Völkern gefährlich, die scheinbar Gewinne daraus zogen. Dr. von Loesch schloß seine Rede mit dem Appell: „Uns zeigt sich das, was de» Deutschen im letzte» Jahrhundert gefehlt hat, die europäische Aufgabe: ge, rechte Rechtssätze zu finden und ein Schrittmacher z» sein für bessere Zustände in diesem für die Menschheit so schicksalhaften Erdteil. Der Kampf ums Recht, nur darum kann es gehen, nicht um irgendwelchen Bölker- ! betrug. Der Kampf ums Recht, er ist eine deutsche, ! er ist eine europäische, er ist eine Menschheitsaufgabe. Lasse,» Sie uns dieses richtig begreifen «nd alS Ziel «ufereS ermüdeten und zerrissenen Bölkes hinstellen. Entrollen wir das Banner zum Kampf für einen wahreit Frieden in Freiheit." Deutschnationaler Aufruf- Kundgebung der Fraktiousvorsitzenden «nd Landes, verbattdsführer. Eine ganze Anzahl Führer der Deutschnattonalen Volkspartei erlassen einen Aufruf zu der Parteikrise. Darin wird ausgeführt, nie sei das deutsch« Volkstum, nie sei die deutsche Wirtschaft schwerer be droht gewesen, als im jetzigen Augenblick. Eine starke und geschlossene Rechte sei notwendiger als je. Ueber ein Dutzend Abgeordnete der deutschnattonalen Frak tionen hätten diese Aufgabe nicht erkannt; sie hätten die Kampffront verlassen. Das durch das Verhalten der Beteiligten selbst erzwungene Ausschlutzversahren sei nur der äußere Anlaß für den Austritt gewesen. Die Opposition hätte sich aus dem Kasseler Parteitag verantworten müssen. Der Aufruf schließt mit den Worten: * Nicht ,amf der Grundlage der heute gegebenen Ver hältnisse , sondern in ihrer Aeuderung liegen die Auf gaben der Gegenwart und Zickmrft. T« Dättschnationale Volkspartei wird in engem Zusammenwirken zwischen Par- teialiederunge« und Fraktionen ihren Weg scheu. Im Geiste Helfferichs wird sie zislbewutzt und 1» geschlosserwr Kraft den Kampf weiter sichren, der das deutsche Boll vor dem durch die Annahme des BomngplanS und di« Vorherr schaft des Marxismus zugeda«Wen Schicksal bewahren soll. Unterzeichnet ist die Kundgebung von dem Partei führer Hugenberg, ferner von de« Vorsitzenden einiger deutsch-nationaler Fraktionen und den Vorsitzenden der Wahlkreisverbände der Deutschnattonalen Volkspartei. Dankschreiben der Flüchtlinge. „Wir fühle» es. wir werden geliebt." Die an der Quarantänestatton Osternothafen bei Swinemünde untergebrachten deutsch-russischen Flücht linge, die dort wegen der Erkrankung ihrer Kinder vorläufig zuvückbehalten werden mußten, haben ein in seiner Schlichtheit rührendes Dankschreiben an das deutsche Volk und die Reichsregierung gerichtet. Darin heißt es: „Mit welchen Gefühlen wir den überaus herzlichen Empfang in Deutschland empfunden haben, ist in Worten schwer zu beschreiben. In Rußland wurden wir als Feinde, hier werden wir als Freund« und Brüder behandelt. Fließt doch auch in unseren Adern deutsches Blut. Wir suhlen es, wir werden geliebt, man sucht uns das Leben angenehm zu machen. Ja, wir sollen uns erholen 'von all den Unruhen und Äengsten, die wir in letzter Zeit durchlebt haben. Wir empfinden dankbar die Wohltat, die in unsere verwundeten Herzen und Gemüter träufelt wie linder Balsam in eine heiße Wunde. Darum können wir nichts anderes als mit bewegtem Herzen der deutsche« Regierung »nd de« Boktsgenossen, die so rührend an «nserem Geschick tetlnehme«, ««seren innigste« Dank zu sage« für das große Liebeswerl, das sie an «ns tnn. Wir sind ja zu arm, «m diese Wohltat belohne« z« können. Doch eins können wir t«n. Wir flehe« von Herze« den Segen des Allerhöchsten herab auf Deutschland und sein Boll. Friede« ««d Wohlstand möge dem deutschen Vaterland beschieden fei». Das Sprichwort „Wohlt«« bringt Zinsen", möge sich auch a« Deutschland erfülle«. Wir fühle« n«s glücklich hie« tu Swinemünde." Kolonialberatungen in Berlin. Tagung des Borstandes der Deutsche« Kolonial geselkschaft. Der Grohe Vorstand der Deutschen Kolonialge sellschaft trat unter dem Vorsitz des Präsidenten Dr. Seitz in Berlin unter starker Beteiligung von Dele- grerten aus allen Reichöteilen und aus Deutsch-Oester- rerch zu einer Tagung zusammen. Außer den früheren Gouverneuren der deutschen Kolonien wohnten den Be ratungen u. a. bei: Vertreter d<S Auswärtigen Amtes, Geheimrat Kastl vom Reichsverband der Deutschen In dustrie, Regierungspräsident z. D. Brauweiler von den Arbeitgeberverbänden, Dr. Jarres, der Vorsitzende des Vereins für das Deutschtum im Auslande, Frei herr von dem Bussche-Haddenhausen und als Vertreter des Deutschtums in Südwest Farmer Voigts. Gouverneur Dr. Seitz gab eine« Neberblick über die kolonialpolitische Lage und die ans ihr sich er- gebenden Forderungen. Gouverneur z. T. Dr. Schnee forderte anfS neue vo« der ReichSrcgiernng eine« i Einspruch gegen den mit der Bölkerbundssatznng i« ; Widerspruch stehende» Artikel 1« der Mandatsbestim- ! mnngen für Teutsch-Ostafrika, auf Grund dessen Eng land seine Nnnexionöpläne i« Ostafrika verfolgt. Go»- ' bcriieur a. D. Freiherr von Rechenberg unterstrich de« muh vom Völkerbund anerkannte« Charakter »es Man dats als eine vorübergehende Vormundschaft über «och nicht für die Selbstverwaltung reise Gebiete «nd die gleieherweise vom Völkerbund anerkannte Möglichkeit eines Wechsels in der Jnhaberschaft der Mandate. , Nach weiteren Referaten des Geheimrats Kastl,