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Nr. 276 Beilage zm? Weiheriy-Zeilung Donnerstag, am 28 November 1929 d5. Jahrgang Chronik des Tages. — In den deutsch-französischen Saarverhandlungen ist eine kleine Pause eingetreten. — Als Nachfolger des Abgeordneten Dr. Porsch dürfte der Zentrumsabgeordnetc Baumhoff zum Vizepräsidenten des Preussischen Landtags gewählt werden. — Der Reichstag, der am Mittwoch seine erste Sitzung nach den Ferien abhielt, wird sich am Freitag mit dem Volksbegehrgesetz befassen. — Mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Heeres- musik-Jnspiztenten ist der Obermusikmetster Schmidt vom !3. Batailloü des 10. Infanterie-Regiments aus Dresden beauftragt worden. ' — Bei einem Bankett des Aeroklubs für Deutschland Wurden die Preise an die deutschen erfolgreichen Teilnehmer am Europa-Rundflug verteilt. — Aus Antrag der Staatsanwaltschaft Prenzlau Ist von dem Amtsgericht Schwedt gegen den Schwedter Zahn arzt Dr. Fritz Gutmann, der im Verdacht steht, seine Frau ermordet zu haben, Haftbefehl erlassen worden. — In Frankfurt a. M. ist der Obergerichtsvollzieher Hugo Buchholz von seinem Amt suspendiert worden, da gegen ihn eine Anzeige wegen Unterschlagung vorliegt. Chitra ruft um Hilfe. — Berlin, 28. November. Der russisch-chinesische Konflikt ist in seinem fünf en oder sechsten Monat plötzlich wieder höchst aktuell geworden. China ruft um Hilfe, laut und vernehmlich. Verwirrend ist nur die Vielzahl der Instanzen, an tue es sich wendet. Durch Vermittlung der deutschen Di plomatie hat die chinesische Zentralreaierung in Nan king den Machthabern in Rußland Vorschläge zur Beilegung des Streitfalles überreichen lassen, gleich zeitig ist China in Gens vorstellig geworden und zum dritten verlautet von der Ermächtigung des Gouver neurs von Mulden zu direkten Verhandlungen mit Moskau. In der Note an Rußland beteuert China nochmals seine Friedensliebe und klagt dann Rußland an, be deutende Mtlitärmassen an die Grenze entsandt und mit Panzerwagen, Artillerie und Bombenflugzeugen die chine ischen Truppen angegriffen zu haben. Durch den russischen Vormarsch in die Mandschurei — die Russen stehen gegenwärtig 270 Kilometer vor Char din! — seien zahlreiche chinesische Städte zerstört und gewaltige Verluste an Menschenleben zu beklagen. Der positive Teil der chinesischen Note enthält drei Vorschläge: die insetzung einer russisch-chrne- sischen Kommission mit ..aem neutralen Vorsitzenden zur Feststellung der Schrudfraae in den Grenzkämpfen, 1 die Zurückziehung der russischen und der chinesischen j Truppen aus eine Entfernung von 30 Kilometern von ! der Grenze und drittens die Schlichtung des gesamten j Streitfalls durch eine neutrale und unparteiische Stelle, i Welche Antwort die Mächte China erteilen werden, - ist noch ungewiß. Sicher ist aber die Lage für China außerordentlich ungünstig. Schließlich dauert doch das Kriegs spiel in der Mandschurei schon einige Mo nate, ohne daß bisher weder Rußland noch China das Bedürfnis empfunden haben, die Mächte einzuschalten. Wenn jetzt China um Hilfe ruft, so nur deshalb, weil das Kriegsspiel nach dem russischen Pormarsch eine un günstige Wendung für China genommen hat. Die Ursache des ganzen Konflikts — und das sollte man nicht vergessen — liegt doch darin, daß die chinesischen Machthaber kurzerhand die ostchinesische Bahn, die bisher von Russen und Chinesen verwaltet wurde, völlig an sich gerissen haben. Rußland wollte sich damit natürlich nicht abfinden und forderte nun mit stillschweigender Billigung durch die Großmächte die Wiederherstellung des alten Zustandes vor dem Be ginn der Einigungsverhandlungen. Und dazu war China bisher nicht bereit. Immerhin war es für die Zuschauer sehr interessant, bet dieser Gelegenheit die Erfahrung machen zu können, daß selbst der Staat, der die Wegnahme des Privateigentums lehrt, sich selbst nichts wegnehmen lassen will! Wahrscheinlich werden nun die Mächte den Chi nesen abermals den Rat erteilen, sich direkt mit den Russen zu verständigen. Jedenfalls wäre der Weg der direkten Verhandlungen zwischen China und Rußland der beste und der kürzeste. Die größte Verlegenheit muß der chinesische Appell übrigens dem Völkerbund bereiten. Verfolgt China diese Aktion ernsthaft, dann muß der Völkerbundsrat sofort zusammentreten und in Ausführung des bisher »och niemals angewandten Artikels 17 seiner Satzun- ren die Aufforderung an Rußland richten, sich in dem vtreit mit einem Mitglied des Völkerbundes (China), den Bestimmungen der Artikel 12 bis 16 des Völker- dundsstatuts zu unterwerfen. . Lehnt Rußland diese Aufforderung ab, dann müßte der Völkerbund über die Verhängung der wirtschaftlichen und finanziellen s vlockade gegen Rußland und über militärische Maßnahmen gegen den Sowjetstaat Bes'b'ußfassen. Selbstverständlich denkt man in Genf an diese Konsequenzen nur mit Grauen. Bisher hat der Völ kerbund fast regelmäßig eine Abneigung gegen die Lö sung knifflicher Fragen gehabt, erst recht aber hat er sich gescheut, Artikel anzuwenden, die bisher nur aus dem Papier standen. Man kann es daher den Völker» bundspolitikern nachfühlen, wenn sie mit dem russisch chinesischen Konflikt am liebsten nichts zu schaffen haben und herzlich gern den anderen den Vortritt lassen möchten. Die Sympathien der Mächte sind ungeteilt weder bet China noch bei Rußland, vollends England hätte nichts dagegen, wenn sich alle beide totschlügen, die Russen und die Chinesen. Wenn somit die Lage im fernen Osten aeaen. wärttg sehr gespannt ist, so besteht immerhin" auch jetzt noch die Hoffnung, daß es fünf Minuten vor zwölf doch noch zu einer Einigung kommt. Denn rein militärisch gesehen ist Chinas Lage hoffnungs los! China hat zwar 1,6 Millionen Soldaten, doch steckt der größte Teil davon mit hungrigem Magen tn zerlumpten Uniformen. Die Begeisterung dieser Masse, sich für China zu schlagen, wird nicht sonder lich groß sein, haben doch viele längst jeden sittlichen Halt verloren. Selbstverständlich gibt es auch Elite- Truppen, vor allem im Norden, aber da ist sich Nan king vielfach wieder der Generale nicht sicher. Und wenn jetzt in immer bestimmterer Form Gerüchte um laufen, nach denen der chinesische Staatspräsident Tschangkaischek den Abbruch des Bürgerkriegs und seinen „Sieg" über die Rebellen nur dadurch erkauft hat, daß er seinen Widersachern Millionen von Dollar ausgezahlt hat, dann gilt auch für diese neue Freund schaft das Wort, daß ein versöhnter Feind eine schlechte Brücke ist. Rücktransport der Kolonisten. Tie lettliindische Grenze passiert. — Hilfsarbeit des Roten Kreuzes. — Riga, 28. November. Der erste Transport der deutschen Kolonisten aus Rußland hat Mittwoch abend die lettländische Grenze passiert. Nach den bei den hiesigen Stellen vorliegenden Nachrichten werden etwa 5000 Kolonisten über Riga nach Deutschland transportiert. Die Transporte- wer den durchschnittlich je 500 Personen umfassen. Von der russischen Grenze bis Riga werden die AuSwan- verer in lettländischen Wagen befördert werden. Auf vem Rigaer Bahnhof steigen sie dann in deutsche Wa gen um. Die sonst für Emigranten übliche Quarantäne wll für die deutschen Kolonisten nicht erfolgen. Die Transporte werden sofort über Litauen nach Deutsch land weiterbefördert werden. Die Beköstigung der deutschen Kolonisten auf lettländischem Gebiet hat das lettländische-Rote Kreuz übernommen; die Kosten wer den von Deutschland getragen. Das lettländische Rote kreuz entsendet einen SPezialsanitätSwagen mit meh reren Aerzten und Schwestern an die russische Grenze. Die Auswanderer sollen dort auf ansteckende Krank heiten untersucht werden. An der russischen Grenze and in Riga erhalten die Auswanderer durch Volks küchen warmes Essen und Tee. Die Bedürftigsten wer den aus Kosten der deutschen Gesandtschaft auch mit Schuhwerk und Kleidern versehen werden. * Evangelische Hilfe für die Rußland- deutsche«. Unter Beteiligung der großen evangelischen Ver bände ist in Berlin soeben ein evangelisch«: Hilfs- russchuß „Brüder in Not" ins Leben getreten. Die Geschäftsführung liegt beim Zentralausfchutz für innere Mission. Dieser evangelische Hilssausschuß, der in enger Fühlung mit dem Reichsausschuß „Brüder in Not" arbeitet, wird die Sammlung für Geld und Sachspenden durch Mobilmachung der evangelischen Volkskreise unterstützen. Ferner wird er der Frage der seelsorgerlichen Hilfe für die nach Deutschland kom menden Nutzlandbauern sowie gegebenenfalls der be sonderen Betreuung der Kinder, Jugendlichen und Alten seine Aufmerksamkeit zuwenden. Die europäische Zentralstelle für kirchlich« Hilfs, Mionen in Genf, deren Bollzugsausschuß der Prä- : sident des Deutsch«« Evaug«lischen KirchenauSschusseS 0. Dr. Kapler, ««gehört, hat die evangelisch« Welt diesseits und jenseits des Ozeans zur Hilfeleistung für die evangelischen Rnßlandbauern aufgerufen. Polendebatte im Auswärtigen Ausschuß. ! In Anwesenheit des dents. .« Gesandten in Warschau - Dr. Rauscher. Der Auswärtige Ausschuß des Reichstags setzte am Mittwoch die Verhandlungen über die Polenfrage fort. Reichsautzenminister Dr. Curtius erstattete einen ausführlichen Bericht über die deutsch-volnischen Be sprechungen der letzten Zeit. Die Diskussion eröff neten der Zentrumsabgeordnete Ulitzka und der Außen politiker der Deutschnationalen, Prof. Dr. Hoetzsch. Außer dem Neichsauhenminister wohnten den Verhand lungen auch Reichsfinanzminister Dr. Hilferding und der deutsche Gesandte in Warschau Rauscher bei. Die Debatte, in der starke Kritik an dem bisherigen Er gebnis der Verhandlungen zum Ausdruck kam, konnte noch nicht zum Abschluß gebracht werden. Die Fort« setzung wurde auf Donnerstag vertagt. - - Aufstieg oder Niedergang? Eine Denkschrift des Reichsverbandes der Deutsche« Industrie. Das Präsidium des Reichsverbandes der Deut schen Industrie hat eine „Aufstieg oder Niedergang?" betitelte Denkschrift zur deutschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik fertiggestellt, die am kommenden Mon tag veröffentlicht werden wird. Die Denkschrift for dert tn einer Reihe von Leitsätzen die sofortige Um stellung der deutschen Wirtschaftspolitik und begrün det-die Dringlichkeit dieser Forderungen im einzelnen. Als das Kernproblem der deutschen Wirtschaft im gegenwärtigen Augenblick wird die Kapitalbildnng nnd die Wiederherstellung der Rentabilität des Eigenkapi- talS der Unternehmungen bezeichnet. Nm diesen Leit gedanken gruppioren sich die Borschläge, die nament lich aus sinanz- nnd steuerpolitischem Gebiete von ein schneidender Bedeutung sind. Die Denkschrift schließt! mit einem Ausruf zur Sammlung aller ausbauendent Kräfte. Der Anschluß ist unvermeidlich«, Unterredung des demokratischen Parteiführers Koch, Weser mit einem Franzose«. Der Führer der Deutschen Dsmokratlschen PoW^ Reichsminister a. D. Koch-Weser, betonte in einer ÜnA terredung mit einem französischen Journalisten, Europa» sei verloren, wenn die Völker sich nicht fänden, inSs besondere» wenn Deutschland und Frankreich nicht zu einer Verständigung gelangten. Koch-Weser bekannt« sich dann als Anhänger dw europäischen Wirtschafts- Vereinigung, gab dabei jedoch deutlich zu verstehen, oaßl eine solche Vereinigung niemals die Pflege der natio nalen Kultur und erst recht nicht den Anschluß Deutsch- Oesterreichs an Deutschland ausschließen dürfe. Di« Welt müsse sich daran gewöhnen, daß der Anschluß! unabwendbar und unvermeidbar sei. Thüringen verhandelt mit Preuße«. Meinungsaustausch über di« Bereinfachung der Ber» waltung. Unter dem Vorsitz des preußischen Ministerprä sidenten und in Anwesenheit der thüringischen und preußischen Staatsminister sand in Berlin ein Met« nungsaustausch über die Frage statt, wie durch Nil-, düng von Verwaltungsgemeinschasten eine Vereinfa chung der Staatsverwaltung unter besonderer Berück sichtigung von Ersparnismöglichkeiten herbeigeführt werden könne. Es wurde sestgestellt, daß es eine Reihe von Sachgebieten gibt, aus denen die Bildung solcher Verwaltungsgemeinschasten möglich ist, und daß es wün schenswert sei, in gemeinsamer Arbeit geeignete Pläne aufzustellen. Di« Verhandlung«« sollen nunmehr in weiteren Beratungen durch Beauftragte mit dem Ziel fortgeführt iverden, den Regierungen gemeinsam« nähere Borschläge zur Beschlußfassung zu unterbreite«. Der Auftakt lm Reichstag. Eine kurze Sitzung. — Erledigung kleinerer Vorlage«. Am Freitag Beratung des BolkSbegehrgesetze«. — Berlin, den 27. November 1929. Die erste Sitzung des Reichstags nach den Herbst- ferien war nur von kurzer Dauer. Präsident Löbe gab zunächst noch nachträglich etngegangene Beileids- telegramme zum Tode des Retchsaußenmtnisters Dr. Stresemann bekannt und teilte ferner mit, daß in vier Fällen um die Aufhebung der Immunität des na tionalsozialistischen Abgeordneten Goebbels ersucht wor den sei. Danach erledigte das Haus die einzelnen Punkte der übrigens nicht umfangreichen Tagesord nung. Eine« sogenannten großen Dag wird öS am Frei tag im Reichstag geben, weil dann das Bolksbegehr- Gesetz zur Beratung steht. Die Regierungsparteien wollen jedoch auf keine« Fall ein« außenpolitische De batte Massen. Das Ergebnis der ersten Reichstagssitzung war die ckeberweisung kleiner außen- und innenpolitischer Vorlagen in die zuständigen Ausschüsse. Darunter befinden sich veutsch-persische Freundschafts- und Wirtschaftsverträge, ein Abkommen mit der Türket und der Freundschaftsvertraa mit »em Hedjas. Der Gesetzentwurf über die Ausfuhr von Kunst, "eske?, die geltende Regelung bis zum 31. De zember 1931 verlängert werden soll, ging nach kurzer Aus- Prache an den Ausschuß, desgleichen der Gesetzentwurf lber die Bergmannssiedlungen. Bek der Beratung des Gesetzentwurfs über Zuschüsse aus ReichSmittoln für die Ansiedlung von Landarbeiter» wies Abg. BehreuS (Dntl.) darauf hin, daß die Sperre der Mittel aus der werteschaffenden Erwerbskosenfursorg« für den Bau von Landarbeitereigenheimen sich kata strophal ausgewtrkt hätte. Reichsarbeitsmintster Wissekl erwidert«, die im Etat vorhandenen Mittel hätten nicht ausgereicht, um den För- derungSanträgen zu entsprechet:. Er habe schon einen Vor griff auf die Mittel des nächsten Etats tun müssen, um die dringendsten Anträge auf Förderung von Eigenheimen zu berücksichtigen. Seit 1921 bis zum 1. Oktober dieses Jahres seien 55 330 Landarbeiterwohnungen errichtet wor den mit einem Kostenaufwand von 160 Millionen. Die Vorlage ging an den Siedlungsausschuß. Abg. Gväf-DreSden (Komm.) begründete dann eim« Anttag auf Gewährung von Winterbeihttfen a« Erwerbs lose, Sozial» und Meinrentner. Reichsarbeitsminister Wisse« wies darauf hin. daß der Anttag 170—180 Millionen erfordere. Man habe be reits im vorigen Jahre von einmaligen Beihilfen abgesehen und es für richtiger gehalten, auf dem Wege dauernd« Erhöhungen der Unterstützungen und Renten zu helfen. Er bitte daher, den Anttag abzulehnen. Lärm bei den ^"""Der^ommunistische Anttag wurde gegen die Anttag- ab gelehnt st» auf Donnerstag: Kleine« VorlZA - Am FÄtag soll die erst« Lesung des FrÄ- heitsgesetzes erfolgen. Neichsausfchuß gegen de« 22. Dezember. Verschiebung auf di« zweite Jauuarhälfte beantragt. Das Präsidium des Reichsausschusses für das Volksbegehren erhebt in einer Erklärung Einspruch gegen di« Festsetzung des Volksentscheids aus den gok denen Adventssonntag, weil diese Terminsestsetznng dem