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Dienstag, am 29. Oktober 1929 Nr. 253 Beilage zur Weiheritz-Zeilung 95. Jahrgang Abschluß des Volksbegehrens. Eintragungssrist läuft ab. — Ein Ber- längerungSantrag abgelehnt. Ler Reichsausschuß für das Volksbegehren er. suchte de» Reichsminister des Innern in einem An- trag, die am heutigen Tieustag ablausende Frist für die Eintragungen zum Volksbegehren in der Art zu ver längern, datz die Listen erst in angemessener Zeit nach der Verkündung des Urteils des Staatsgerichtshoss in der schwebenden Klage, geschlossen werden. Reichs minister Severing hat die Eingabe jedoch abgelehnt, so datz damit die Einzeichuungsfrist am heutigen Tiens» tag abläuft. Chronik -es Tages. — Die sterblichen Ueberreste des in Rom verstorbenen früheren deutschen Reichskanzlers, Fürst v. Bülow, werden nach Hamburg-Flottbek übergeführt. ttm-U-ung-er Neichsregierung? Vorverhandlungen im Gange. — Unterredung des Kanzlers mit Brüning. — Berlin, 29. Oktober. Einige Zeitungen des In- und Auslandes bringen in sensationeller Aufmachung Mitteilungen über eine bevorstehende Umbildung der Reichsregierung. Wie wir dazu von gut unterrichteter Seite erfahren, handelt es sich hierbei um bloße Mutmaßungen, die die Tat sachen weit hinter sich zürücklasssn. Stärkung -er Wirtschaft. Ein Erfordernis der Wiederherstellung unserer Unab hängigkeit. — Stegerwald an die Gewerkschaften. , — Köln, 29. Oktober. I Aus Anlaß ihres dreißigjährigen Bestehens ver anstalteten die christlichen Gewerkschaften im großen Saale des Gürzenichs eine Kundgebung, in deren Ver lauf auch Reichsverkehrsminister Tr. Stegrrwald das Wort nahm. Minister Tr. Stegerwald vertrat den Standpunkt, daß gegenwärtig drei Schicksalsfragen der deutschen Wirtschaft im Vordergrund stehen: Wie kann die Kapitalflucht aus dem kapitalarmen Deutschland aufgehalten und Neubildung von Kapital begünstigt werden; wie kommen wir zu einer einheitlichen Wirt schaftsgesinnung und wie kann der Gedanke der Selbst hilfe neu belebt werden? In der Beantwortung dieser Fragen betonte Reichsvcrkehrsminister Tr. Stegerwald: Solange wir der deutsche« Kapitalflucht nicht ernsthaft begegnen und die Neukapitalbildung stark be günstigen, ist es ausgeschlossen, daß wir einmal nach außen hi» wieder größere Freiheit gegenüber den fremd ländischen Kapitalmächten erlangen, und daß wir wei terhin im Innern des Arbeitslosenproblems und auch weitgehend des Wohnungsproblems Herr werden. Rot, wendig ist eine gründliche Rationalisierung, Verein fachung und Verbilligung unserer öffentlich-rechtlichen Verwaltung, di- Herstellung der Rentabilität d^ veut" fch"' Landwirtschaft, eine gründliche Rationalisierung der Guterverteilnng und daneben eine Volkswirtschaft, lich gut durchgearbeitete Steuerreform. Redner legte dann dar, daß es uns nichts nütze, wenn wir aus dem Papier die gerechteste und sozialste Einkommensteuer haben, wenn gleichzeitig wegen dieser deutscher Seite fortwährend Holding-Ge sellschaften - sogenannte Dachgesellschaften — im Aus lande gebildet würden, weil dort weniger Steuern zu zahlen wären. Kapitalarmut bedinge hohe Zinssätze, Richtig ist nur, daß Reichskanzler Müller dieser Tage mit dem Zentrumsabgeordneten Brüning ein« Unterredung über die Frage der Umbildung der Reichs regierung hatte, die indessen rein privater Ratnr war und keinen amtliche» Charakter trug. Tabei ist die Frage erörtert worden, ob es möglich sei, eine» koa- tttionspolitische« Ausgleich in der Weise vorzuneh me», daß die Teutsche BolkSpartei da» Außenmini sterium und das Ministerium der Justiz, das Zen trum die Ministerien der Wirtschaft und des Verkehrs erhalt. . Bestimmte Vorschläge sind bei dieser Gelegen heit aber nicht gemacht und erst recht sind keine Per sonenfragen erörtert worden. Nach der Unterredung mit dem Abgeordneten Brüning unterrichtete der Reichskanzler auch den stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen BolkSpartei über seine private Be > --- Der Bürgermeister Stimming in Berlin-Lichtenberg, . von dem behauptet wurde, er sei auffallend billig zu einem Grundstück gekommen, hat gegen sich «in Diszipli narverfahren veäntkagt. 0- -7- Der wegen Totschlags an seinem Vater zu schwerer Kerkerstrafe verurteilte Student Philipp Halsmann befindet sich seit 10 Tagen im Hungerstreik. Das Gericht hat be schlossen, zur künstlichen Ernährung mit der Magensonde überzugehen. — Beim Bahnhof St. Leonard bei Sitten in der , Schweiz wurde ein Auto von dem Schnellzug Lausanne— 1 Mailand erfaßt und zertrümmert. Die fünf im Auto befindlichen Insassen wurden getötet. sprechung. Nachrichten, wonach bereits die und die Per sonen für das und das Ministerium in Aussicht ge nommen seien, werden als irreführend bezeichnet. Wie ungeklärt die Lage noch ist, ergibt sich schon daraus, daß für das Reichswirtschaftsministerium, — das ja in folge der zu erwartenden endgültigen Ernennung des bisherigen Reichswirtschaftsministers Tr. Curtius zum Nachfolger Stresemanns, bestimmt freiwerden dürfte — gleichzeitig ein Zentrumsabgeordneter, ferner der frü- here badische Staatspräsident und jetzige demokratische Reichstagsabgeordnete Tr. Hummel sowie die Volks- parteiler Generaldirektor Morecht und Geheimrat Zapf als .aussichtsreiche Kandidaten" genannt werden. BesichtigungSreise des Ausschusses für Kriegs beschädigten fragen. Ter ReichSausschutz für Kriegsbeschädigtenfragen trat am heutigen Dienstag eine Bestchtigungsreise an, bet der eine ganze Anzahl von LersorgungSämtern besucht werden sollen. Tie Rundfahrt endet am Sonn abend in Bad Kissingen. Tie Gesamtzahl der rentenberechtigten Kriegsbe schädigten beläuft sich gegenwärtig auf etwa 775 000» Wie verlautet, ist es in diesem Jahre angesichts der katastrophalen Kassenlage nicht möglich, Winterhilfs matznahmen nach Art der des Vorjahres vorzubereiten. Die badische» Wahle». — Karlsruhe, 29. Oktober. Am Sonntag fanden in Baden Neuwahlen zum Landtag statt. Nun sind Varlamentswahlen zu den einzelnen deutschen Abgeordnetenhäusern an sich ja kein Ereignis, das für oas gesamte Reichsgebiet von Bedeutung ist. Es ist für Ostpreußen, Schlesien oder die Nordmark ziemlich gleichgültig, wer in der Süd- westecke des Reiches das Rennen gewinnt oder verliert. Diesmal gilt das jedoch nur mit einer Einschrän kung. Tie badischen Wahlen 1929 haben insofern eine besondere Bedeutung, als Baden als erstes Land zu den Kleinwahlkreisen zurückg^khrt ist! Statt bisher sieben, gab es diesmal in Baven 22 Wahl kreise. Der Sinn dieser Neueistteilung war der, eins engere Verbindung zwischen Wählern und Kandidaten herzustellen. Der Wähler soll wieder in die Lage käm men, statt für eine Liste seine Stimme für Per sonen abzugeben, die er kennt und die er rÄxn ge hört hat. Man erhofft von einer solchen Reform den Rückgang der Wahlmüdigkeit und eine Erhöhung der Bedeutung der Wahlen als politische Willensbildung. Wie hat sich nun die Wiedereinführung der Klein wahlkreise in Baden praktisch ausgewtrkt? ES ist fest- zustellen, datz die Wahlbeteiligung trotz des im wesentlichen ruhig geführten Wahlkampfes größer war, als bei der Landtagswahl im Jahre 1925. Die Zahl der Abgeordneten hat sich dementsprechend erhöht. Ter alte badische Landtag setzte sich aus 76 Abgeordneten zusammen, dem neuen werden 88 angehören. Das ist eine erfreuliche Steigerung, doch ist die „Partei der Nichtwähler" trotzdem noch immer die stärkste Partei! Tie durchschnittliche Wahlbeteiligung liegt zwischen 66 und 65 v. H., so daß also in Baden trotz der Klein- wahlkreise noch immer 35 v. H. ihr Wahlrecht in den Wind geschlagen haben! In einzelnen Orten war die Wahlbeteiligung zwar erheblich höher, dafür haben in anderen Gemeinden wiederum kaum die Hälfte de, Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Politische Folgen werden die Wahlen in Baden nicht haben. Tie Parteien der Weimarer Koa- lition, — d. s. Zentrum, Demokraten und Sozial- demokraten — die, abgesehen von einer kurzen Unter- brechung 1925/26, sert zehn Jahren im Lande re gieren, haben auch im neuen Parlament ihre Mehr- heit behauptet. Im alten Landtag gehörten von ins gesamt 76 Abgeordneten 50 den Regierungsparteien an, im neuen sind es 58 von 88. Tie Frage der Regierungsneubildung wird unter diesen Umständen ohne Schwierigkeiten gelöst werden können. Formelle Beschlüsse in dieser Frage wird der Landtag bei seinem Zusammentritt in etwa neun Tagen zu fassen haben. Wenn der Wahlausfall somit für das Land in seiner Gesamtheit alles beim alten läßt, haben die Hauptquartiere der einzelnen Parteien bedeutsame Ver änderungen zu verzeichnen. Tas Zentrum gewann 59 456 Stimmen und sechs Mandate und hat jetzt mehr als ein Trittel sämtlicher Landtagsmandate inne. Schlimm erging es der Deutschnationalen BolkSpartei, deren Wählerzahl von 93727 auf 34 081 und deren Mandate von 9 aus 3 zurückge gangen sind. Was die Teutschnationalen verloren ha ben, haben die Nationalsozialisten gewonnen; bet den Wahlen im Jahre 1925 hatten die National sozialisten 8896 Stimmen erhalten, ein Mandat jedoch überhaupt nicht, bei den Neuwahlen dagegen ist die Zahl der nationalsozialistischen Stimmen aus 65106 hinaufgeschnellt, so daß dem neuen Landtag erstmals sechs Nationalsozialisten angehören werden. Ein ansehnlicher Teil deutschnationaler Wähler scheint ferner zu der badischen Bauernpartei und zu dem Evan gelischen Volksdtenst abgeschwenkt zu sein. Gegenüber den Gewinnen des Zentrums sowie der Nationalsozialisten und den Verlusten der Teutsch nationalen sind Vie übrigen Ergebnisse der badischen Wahlen ohne größere Bedeutung. Temokraten und DeuWe Volkspartei haben ihre Mandate behauptet, die Wirtschaftspartei gewann einen Sitz, Sozialdemo katen und Kommunisten eroberten je zwei neue Man date. Neu in den Landtag ziehen außer den National sozialisten je drei Abgeordnete des Evangelischen Volks dienstes und der Badischen Bauernpartei. — Reichskanzler Müller hatte mit dem Zentrumsabge ordnete» Brüning eine Unterredung über die Frage der Umbildung der Reichsregierung. — Am heutigen Dienstag läuft die Frist für die Eintragungen zum Volksbegehren ab. > : — Die Sklareks protestieren gegen die Versteigerung , ihrer Rennpferde mit der Begründung, es sei unsachgemäß . und formwidrig durchgeführt worden. i und hohe Zinssätze wiederum verteuerten Vie -Prodü^ tion und vermehrten die Arbeitslosigkeit. Zu einer einheitlichen Wtrtschaftsgesinnung könn ten wir nur dann gelangen, wenn der Arbeiter gleich berechtigt in den Wirtschaftsorganismus eingegliedert werde. Wer den Klassenkamps von unten nicht wolle, müsse mit dem Kastengeist von oben gründlich aus räumen. Zum Schluß seiner Rede verwies Minister Pe. Stegerwald auf Amerika. Wenn man die Ber einigten Staaten bereise, falle dem Datschen ein Dop peltes auf: die Regsamkeit des Amerikaners auf allen Gebieten und das stark entwickelte Selbftbe- wußtsein. Ohne starke Regsamkeit und ohne «in ausgeprägtes Selbstbewußtsain könne sich aber auch Deutschland aus der gegenwärtigen Lage nicht befreien, es gehe nicht mehr an, in dent Gedanken zu leben: „Staat hilf." Fortschritte 1« der Räumung. Türe» größtenteils, Jülich völlig gerS»mt. — Esch weiler wird -iS zum s. November frei. Wie aus Düren gemeldet wird, hat soeben der Kommandeur der Garnison, Oberst Lamoureux, mit dem größten Teil der Besatzungstruppen die Stabt ver lassen. Bis Ende November bleibt eine Truppenab teilung von 150 Mann unter dem Befahl des Ka pitäns Pretet in Düren. Die vollständige Räumung wird am 30. November vollzogen sein. Dis für den 26. Oktober vorgesehene Räumung des französischen Lazaretts ist auf den 26. November verschoben wor den. Eine größere Anzahl Wohnungen in Reichs gebäuden und Privathäusern ist von der Besatzung frei- gegeben. Gleichzeitig verließ der Rest der belgisch«» Besatzung in Jülich in Stärke von 13 Offizieren. 60 Unterofftzieren und 374 Mann des 4. Genie-Regi ments die Stadt, die damit vollständig von fremder Besatzung frei ist. Die Kasernen befinden sich bereits wieder in deutscher Verwaltung. Eschweiler wird spätestens am 5. November von den Franzosen ae- qäumt sein. Am gleich«: Tage wird auch Vie Ka serne wieder in die Verwaltung der Stadt zurück gegeben. Bis zum 30. Oktober werden alle privaten cerchseigenen Wohnungen gevämpt und zurückgegeben sein, ebenso der von der Kavallerie bemrtzte Exer zierplatz. Bülows letzte Stnn-en. »eberführung der sterblichen Ueberreste des Fürste» »ach Leutschland. — Teilnahme des Kanzlers a» der Ver letzung. — Rom, 29. Oktober. Rach langem, heftigem Todeskampf starb in Non« Fürst von Bülow, der frühere deutsche Reichskanzler. Tie sterblichen Ueberreste des Staatsmannes werden nach einer stillen Einsegnung in Nom «ach Groß? Flottbek bei Hambnrg übergeführt werden. Ter Reichspräsident von Hindenburg und Reichs kanzler Hermann Müller haben an den Bruder des verstorbenen Fürsten von Bülow herzliche Beileids telegramme gerichtet. Ueber die letzten Stunden des Fürsten von Bülow erfahren wir noch folgende Einzelheiten: Sonntag abend hatte Fürst von Bülow für kurze Augenblicke sein klares Bewußtsein wiedergeftmden. Er war sich über seinen Zustand völlig im klare» und erbat das Abendmahl. Montag früh zehn Minute» vor sieben Uhr stand sein Herz still. An seine« Sterbe lager standen sein treuer Tiener BereS nud die Diako nissin. Seine Verwandten hatte der Fürst gebeten, nicht an das Sterbelager zu trete«, damit ihnen der traurige Anblick seines schwere« Kampfes mit dem Tode erspart bleibe. Nach dem Bekanntwerden der Todesnachricht in Rom eilten zahlreiche Mitglieder der deutschen Kolonie, in der sich der Fürst großer Beliebtheit erfreute, in die Villa Malta, um sich in das ausgelegte Buch ernzutragen. Im Sterbehause weilten die Schwägerin des Fürsten, Maria von Bülow, sowie der Sohn des Bruders des Fürsten, Legationssekretär Tankwarth von Bülow von der deutschen Botschaft in Rom. Tie Ueberführung der sterblichen Ueberreste des Fürsten von Rom nach Groß-Flottbek bei Hamburg dürfte am Donnerstag erfolgen. Die Leiche wird in dem Erbbegräbnis auf dem Friedhof in Nienstedten an der Seite der dort vor einigen Monaten bcigesetzten Fürstin von Bülow zur letzten Ruhe bestattet werden. ", , ^Au den Beisetzungsfeierlichkeite» wird sich die Reichsregierung wahrscheinlich durch eine» Vertreter des Reichspräsidenten, durch de»t Reichskanzler, fE es sein Gesundheitszustand erlaubt, und vielleicht »».«» durch den stellvertretenden Außenminister Tr. Lurtins beteiligen. Tas Auswärtige Amt wird am heutigen Dienstag des verstorbenen Altteichskanzlers in einer besonderen Feier gedenken. , ^ie Veröffentlichung der Lebenserinnerunge«. Fürst von Bülow hat seit dem Jahre 1921 an der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen gearbeitet! und hat gerade noch vor wenigen Wochen den letzten Band druckfcrtig in Verwahrung gegeben. Letzwillig hat er bestimmt, daß frühestens zwölf Wochen nach seinem Tode mit der Veröffentlichung begonnen wer den darf.