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vo/r. l«. sn,«»»«.) Sie nimmt Charlottes Arm und führt sie unter gleichmütigem Geplauder vom Bahnsteig fort. „Hast du nur die Handtasche oder sonst noch Gepäck, nein? Mso komm, wir nehmen ein Auto und fahren erst ! einmal zu Tante Lina." j Hier bleibt Charlotte mit erschrecktem Ruck jäh- I lingS stehen. Sie wird rot und wieder blaß. „Tante ! Lina," stammelt sie ganz verwirrt, „hat sie dir meinen ' Brief schon gezeigt? Wie kommt es überhaupt, ! daß du in Berlin bist rief sie dich?" „Warum sollte sie mich rufen?" fragt Marie ! scheinbar erstaunt, und zieht die Freundin mit sich ; fort. Im Fluge überlegt sie, es sei besser, den Brief ! an die alte Dame abKuleugnen. Ueberhaupt muß man , diese Gebirgstour wie einen harmlos abenteuerlichen ! Streich behandeln. So lange es geht, wenn möglich für - immer. Damit wird Charlotte viel Peinliches erspart, - und das ist für ihre Nervenberuhigung nötig. So fährt sie, während sie in der Bahnhofshalle vom Schutzmann ? eine Automarke cntgcgennimmt, gelassen fort: „Daß ! Tante Lina von dir schon einen Brief hatte, glaube - ich nicht; sie hätte es mir doch sicher gesagt. Deine ! Eltern in Cziczwicz scheinen ja freilich in Unruhe um dich zu sein. Sie schrieben, du seiest heimlich ab- ; gereist, du kleiner Nichtsnutz, und habest nicht einmal / hinterlassen, wohin." ! „Allerdings," murmelt Charlotte, tief aufatmend und mit dunklem Erröten. Dann beharrt sie: „Und Tante Lina rief dich wirklich nicht nach Berlin?" i „Nein, Charlotte. Ich bin mit meinem Mann und den Jungen hier, um Vicki in seine Pension zu ' Oberlehrer Köster zu bringen. Als wir demer Tante i Besuch machten, lud sie freilich in ihrer gastfreien Weise mich und die Kinder ein, bei ihr zu bleiben. Viltor i wohnt im Hotel. — Aber da kommt unser Auto, steig ; ein, mein Herz." Sie fahren daun eine Weile schweigend in dem ge- ' schlossencn Wagen. Leise schaukelt er in seinen Federn. ' Charlotte hat den Kops ermüdet gegen die Polster ge lehnt, aber ihre Gedanken arbeiten rastlos. Hans Tönnes Zustand Maries unerwartetes Hiersein — — der Brief an Tante Lina, den sie jetzt gar zu gern ungeschrieben sähe alles wirbelt verwirrend und schmerzend durch ihr gepeinigtes Hirn. Leiss tastend hebt sie wieder an: „Sie muß aber doch meinen Brief bekommen haben. Ich schrieb schon vor einigen Tagen." „Wo hast du ihn denn eingesteckt?" „Eingesteckt? — — Ich gab ihn einem Boten- gänger mit? Marte lacht. „Dann wird der ihn wohl ver bummelt haben." „Meinst du?" Charlotte hebt schnell den Kops und sieht ihre Begleiterin hoffnungsvoll an. Er leichtert fährt sie fort: „Nun sage mir bloß noch, Marie, wer hat dich zum Bahnhof geschickt?" „Ist das eine Frage kleines Dummchen du. Mein Vetter Hans Tönne natürlich. Du hattest ihm doch eine Ansichtskarte geschickt. Und — — er tele graphierte. Damit dich nun jemand empfängt und du dir auch über seine Krankheit nicht schwarze Gedanken machst, bat er mich, dich vom Zuge abzuholen. Also, ich hoffe, nun ist dir alles klar?" Vorbeugend fügt sie noch bei: „Und ich denke, du wirst in Ruh« abwarten, bis er uns besuchen kann. Vor aUen Dingen erhole dich von der Reise." Es scheint wirklich, als habe sich Charlotte be ruhigt; und so ist wenigstens Zeit gewonnen. Indessen grübelt Marie über eine Möglichkeit nach, bei der Ankunft am Schöneberger Ufer Tante Lina erst allein zu sprechen. Denn auch sie muß unbedingt den Briel ableugnen und darf keine Erschütterung zeigen. MS das Auto am Hause hält, biegt sich Berta aus dein Fenster, zum Glück. Marie winkt sie herab und über läßt es ihr, Charlotte nach oben zu geleiten, während sie selbst vorauseilt. So gelingt das Vorhaben. Das Wiedersehen zwischen Tante und Nichte isl dennoch tief ergreifend. Tante Lina bewahrt nur mit äußerster Anstrengung ihre Fassung. Charlotte aber starrt auf die schneeweiß gewordenen Locken, und wirft sich dann aufweinend der mütterlichen Freundin ar den Hals. An Viktor ins Riesengebirge und vor allem naH Cziczwicz fliegen bald hernach Telegramme, die di« glückliche Heimkehr der Verlorenen melden. Auch vor Beringers Reise darf Charlotte natürlich nichts wissen Es ist für Tante Lina und Marie eine schwere Auf gabe, alle Klippen zu umschiffen. Aber je mehr si< erkennen, wie die Arme körperlich und geistig elent geworden ist, um so nötiger erscheint ihnen die Scho nung. Und eine Schonung, eine Nervenbeschwichtigunz ist es tatsächlich für Charlotte, daß sie annehmen kann, ihre Selbstvernichtungspläne seien keinem bekannt ge worden. Dennoch ist dieser Nachmittag für alle von einem heimlichen Fieber durchglüht. Immer wieder fragt Charlotte nach Hans Marie muß Ausreden er sinnen. Es ist eine Pein. Und als der nächste Tag auch nichts Besseres bringt, da bricht Charlottes ganz« quälende Angst hervor. „Marie, du sagtest, er sei wieder wohl, heut« könne er ausgehen. Warum kommt er nicht? Um Gotteswillen — — warum?" „Er wird wohl noch kommen, Charlotte." „Ich bin jetzt über vierundzwanzig Stunden in Berlin. Es ist bald wieder Abend. Warum kam er nicht diesen ganzen langen Tag, da er mich doch telegraphisch gerufen hat?" Marie geht erregt in dem großen Kaminzimmer hin und her. Sie wagt eS nicht, Charlotte, die beim Fenster steht, ins Gesicht zu sehen. Tante Lina lehni müde, zusammengesunken in einer Sosaecke. „Liebes Eharlottchen, du fragst mich immer das selbe. Was soll ich dir denn noch antworten? Viel leicht fühlt er sich wieder schlechter und schiebt deshalb seinen Besuch bis morgen hinaus." „Morgen?" fährt Charlotte auf. „Marte, nun kommst du mit morgen?" Tante Lina ringt heimlich die Hände. „Beruhige dich doch," bittet Marie mit zittern der Stimme. Aber Charlotte stürzt auf sie zu und packt sie I an beiden Händen. Ihre Augen glühen im schmalen, verzerrten Gesicht. „Gib mir eine Antwort, Marie!" Tante Lina erhebt sich vom Sofa und geht leise hinaus. j „Er ist tot — — —" schreit die Gequälte auf und schlägt die Hände vors Gesicht „er ist doch tot und ihr sagt mir's nicht ihr lügt belügt mich alle. — — O — — — Gott — Marie fängt die Wankende in ihren Armen auf. Sie ist leichenblaß und sieht keinen Ausweg mehr. Uebcr die halb Bewußtlose gebeugt flüstert sie nur: „Du irrst nein, nein, Charlotte er ist nicht tot er er " Sie stockt, zusammenzuckend, denn.draußen geht die Flurglocke. Auch Charlotte rafft sich empor. Einer Augenblick lauschen die beiden atemlos und vernehme» Hans Tönnes Stimme: „Ist Fräulein Charlotte vor Wiesenthal gekommen?" Berta antwortet: „Ja, bitte, wen darf ich melden?" „Doktor Tönne. Führen Sie mich nur gleich hinein." Marie will Charlotte von sich schieben, dem Kom menden entgeaenstürzen, zu warnen, um Schonung zu flehen da geht auch schon die Türe aus. Hans Tönne steht auf der Schwelle. Charlotte aber gleitet mit einem tiefen Aufseufzen aus Maries Armen in einen Ässel. Ihre Füße tragen sie nicht mehr. Aber sie haucht überwältigt Por sich hin: „Doch er lebt — — er lebt und kommt doch " Dann tritt Hans zu ihr und faßt ihre beiden Hände, die sie ihm zitternd, mit schwachem Lächeln entgegenstreckt. Marie steht daneben mit schlaff her abhängenden Armen und hoffnungslosem Gesicht. Hans hat sie nur mit flüchtigem Nicken begrüßt. Ihre angst vollen Blicke, ihre heimlichen Zeichen beachtet er gar nicht. Gsttsitzlliva kotai.) IrmrWe u.-külten.'. C. Zehne