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Beilage zur Weitzeritz-Zeitung Nr. 230 Mitttwoch, am 2. Oktober 1929 88. Jahrgang Chronik des Tages. — Reichspräsident v. Hindenburg spricht in einem Erlaß den Wunsch aus, daß das Reichsgericht an der Festtgung des StaatsgedankenS Mitwirken möge. — Dem Reichskabinett liegt der Entwurf eines Pro gramms zur Finanz- und Steuerreform vor. — Zu Ehren des griechischen Ministerpräsidenten Dr< Venizelos gab Reichskanzler Müller ein Abendessen. — Als Nachfolger des verstorbenen japanischen Staats mannes Tanaka übernahm der frühere UnterrichtSnrinister Jnukai die Führung der Seihukai-Partei. — Das Luftschiff „Graf Zeppelin" hat am Diens tag eine Fahrt über Süddeutschland ausgeführt. — Der Berliner „Zoo" soll noch in diesem Monat um etwa 4000 Geviertmeter vergrößert werden. — In Darmstadt ist der ordentliche Professor an der dortigen Technischen Hochschule, Professor Eberle, ein berühmter Wärmefachmann, gestorben, r, . , ————. Jubelfeier im Reichsgericht — Leipzig, 2. Oktober 1929. Der höchste deutsche Gerichtshof, das Reichsgericht in Leipzig, das berufen ist, zu seinem Teile den brau senden Strom der Entwicklung in die Bahnen des Rechtes zu lenken, feierte gestern sein fünfzigjäh riges Bestehen. Blickt man zurück aus das erste halbe Jahrhundert dieser Institution dann zeigt sich immer wieder, daß die mit der Errichtung des Reichs gerichts am 1. Oktober 1879 vollendete Rechtseinheit Deutschlands zu einem der stärksten Grundpfeiler der deutschen Reichseinheit geworden ist. Bismarck selbst gab der Errichtung des Reichs gerichts symbolische Bedeutung, berief er doch den Mann an die Spitze des Reichsgerichts, der die Kai serdeputationen von 1849 und 1870 geführt hatte! Eduard Simson. Die Gedenkfeier fand in der großen Halle des Reichsgerichts statt. Als Vertreter des Reichspräsi denten und der Reichsregierung hatte sich Justizmini ster von Guörard eingesunden; der Reichstag war durch den Nestor der deutschen Rechtswissenschaft ver treten: den 80jährigen Vorsitzenden des Strafrechts ausschusses des Reichstags Pros. Tr. Kahl; der Reichs rat hatte den Staatssekretär Weismann entsandt, die sächsische Regierung den Ministerpräsidenten Dr. Bün ger. Ferner nahmen die Richter und Anwälte des Reichsgerichts in ihren roten Roben an der Feier teil; auch Vertreter der Wissenschaft fehlten nicht. Nach musikalischen Darbietungen überbrachte Reichsjustizminister von GuSrard die Grüße und Glückwünsche des Reichspräsidenten von Hindenburg und der Reichsregierung. Der Minister bezeichnete die Schaffung des Reichsgerichts als einen Markstein der deutschen Rechtsgeschichte. Tie Arbeit des Reichsgerichts sei durch die tiefgreifenden Umformungen des Lebens und des Denkens des Volkes erschwert worden. Un bestechlicher Wille nach Gerechtigkeit habe jedoch stets das Reichsgericht geleitet. Möge es immer gelingen, die besten unter den deutschen Juristen für das Reichs gericht zu gewinnen, dann werde es dem Reichsgericht möglich sein, zu wirken für des Volkes Glück, für des Reiches Ehre, für die Festigkeit und die Zukunft der deutschen Republik. Ter Präsident des Reichsgerichts, Dr. Bumke, feierte das Reichsgericht als den berufenen Hüter der deutschen Reichseinheit. Tas Reichsgericht habe sich als Lehrer und Förderer des Rechts bewährt, darüber hinaus sei es züm Träger der lebendigen Rechtsent wicklung und zu einem Grundpfeiler der deutschen Reichseinheit geworden. Große Aufmerksamkeit fand die Rede Dr. Kahls. Prof. Dr. Kahl führte aus, der Ehrentag des Reichs gerichts sei nicht allein ein Tag der Juristen, sondern er sei ein Tag des ganzen Volkes. Wessen persönliche Erinnerung wie die seine zurückreiche zum 1. Oktober 1879, wo er als junger Ordinarius der Rostocker Furistensakultät der Errichtung des Reichsgerichts bei- aewohnt habe, der habe diesen Tag als vaterländi- lches Erlebnis in der Seele behalten. Was in diesen 50 Jahren das Reichsgericht ge leistet habe, liege in Hunderten von Bänden seiner Entscheidungen äußerlich erkennbar vor Augen. Un sichtbar im Hintergrund stehe das Riesenmaß der geisti gen Arbeitsleistung der Persönlichkeiten, seiner ge wesenen und lebenden Richter. Die Hingebung dieser Persönlichkeiten, der Wille zur Gerechtigkeit, sei das Höchste, sei Dienst am Volk! Prof. Tr. Kahl behandelte dann die Kritik, die sie Entscheidungen des Reichsgerichts wiederholt ge sunden haben und stellte fest, Kritik — auch scharfe Kririk — sei unentbehrlich auf dem Wege zur Wahrheit. Man müsse aber die Quellen und die Ursachen solchen Zwiespalts auffinden. Eine allgemeine Ursache liege in dem gegenwärtigen Kurst! sstand des Rechtes über haupt. Kaum ein Kulturgut habe durch die .Kata strophen der Zett so gelitten, wie das Recht. Ler Glaube an das Recht, der Respekt vor dem Recht, sei vielfach gesunken. Tie besonderen und engeren Ur sachen des Zwiespalts lägen in Mängeln, Rückständig keiten und unzeitgemäßen Normen der bestehenden Ge setzgebung. Und hier lägen die Aufgaben für die Zu kunft! Pflicht des Reichstags werde es sein, ein aus der Tiefe der Volksseele geschöpftes, dem Volksbe wußtsein verständliches und harmonisches Recht zu prägen. Volkstümliches Recht sei die Grundlage und Voraussetzung volkstümlicher Rechtspflege. Redner beendete seine Ansprache mit dem Wunsch, daß das Reichsgericht allezeit sein und bleiben möge der Felsenhort des Rechts und der Gereckttakeit. — > Zum Schluß der Feier sprachen noch der sächsische Mi- ' nisterprasident Tr. Bünger, Prof. Dr. Schmidt von der Universität Leipzig und ein Vertreter der Stadt verwaltung. * Hindenburg an das Reichsgericht Lst Mission des Reichsgerichts: Festigung des Staats- ! gedankeuS und Förderung der Volksgemeinschaft. Reichspräsident von Hindenburg gab aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Reichsgerichts folgenden . Erlaß bekannt: ' An dem Tage, an dem das Reichsgericht aus ein ' fünfzigjähriges Nestchen zurückblickt, gedenke ich mit dem Gefühl des Dankes und der Anerkennung alles dessen, was es für das Vaterland geleistet hat. Tas deutsche Recht in seiner Einheit zu wahren und le bendig sortzuentwickeln, ist die hohe Aufgabe des obersten Gerichtshofes. Unter diesem Leitstern hat die Tätigkeit des Reichsgerichts allezeit gestanden, in den Jahrzehnten einer ruhigen, glücklichen Entwick lung wie in den Zetten der Not und Wirrnis, die die Rechtspflege vor Aufgaben von nie geahnter Größe und Schwierigkeit gestellt haben. Tie Wünsche, Vie ich am heutigen Tage dem Reichsgericht für sein weiteres Wirken darbiete, sind getragen von der Sorg« nm die Zukunft unseres Böl kes. An der Festigung des Staatsgedankens und des Geistes einer wahren Volksgemeinschaft mitzuwirken, ist die Rechtsprechung des höchsten Gerichtshofes in be sonderem Maße berufen. Ihr fällt die große Auf gabe zu, den Glauben au das Recht und das Gefiihl innerster Verbundenheit mit der staatlichen Rechtsord nung in unserem Bölke nen zu beleben und wach zu erhalten. Möge es dem Reichsgericht beschieden sein, diese Mission zu erfüllen zum Wohle unseres Bater- landesr Glückwunschtelegramme sandten der Reichskanzler und die Regierungen der deutschen Länder. Reformprogramm im Werden. Seine Hauptpunkte: Senkung der Einkommen- und »er Realsteuern. — Neuregelung der Bermögens- und der Kapitalertragssteuer. — Berlin, 2. Oktober 1929. Reichskanzler Müller empfing gestern die Frak- tionsfühver der Regierungsparteien und unterbreitete ihnen den Vorschlag, jetzt nur die Hauptvorlage und die befristete Sondervorlage zur Reform der Arbeits losenversicherung zu verabschieden, die Frage der Bei tragserhöhung aber auf etwa zwei Monate — bis zur Finanzresorm — zu vertagen. Bei der Erörterung dieses Vorschlags ergaben sich Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Vertagung der Beitragserhöhung gleichbedeutend sei mit der vorherigen Bindung der Volkspartei, der Erhöhung, wenn sie wieder zur Debatte steht, zuzu stimmen. Gegen eine solche Bindung wehrten sich die volksparteilichen Abgeordneten entschieden, während die Sozialdemokraten eine Sicherheit dafür haben wollten, daß die augenblickliche Krise sich nicht in zwei Mo naten wiederholt. Wie verlautet, gab der Reichskanzler unzweideutig zu verstehen, die Regierung werde Folger,rügen ziehen, wenn der Reichstag das sogenannte Hauptgesch nnd »je Sondervorlage zur Bersicherungsreform nicht in diesen Tagen verabschiede. Im Anschluß an den Empfang beim R^chskanzler traten die Fraktionen zu Sitzungen zusammen. Tie Volkspartei lehnte gleich zu Beginn der Sitzung eine verbindliche Erklärung über eine spätere An nahme der Beitragserhöhung ab. In der neuen Be sprechung beim Reichskanzler, die dann in den Nach mittagsstunden stattfand, soll man übereingekommen sein, eine Krise unbedingt zu vermeiden und die Frage der Beitragserhöhung im Zusammenhang mit der not wendigen Finanzreform zu entscheiden. Tie Finanzresorm ist in ihren Grundzügen fer tiggestellt. Ter Entwurf des Reichsfinanzministers liegt bereits dem Kabinett vor, wenn Erörterungen über die Vorlage im Kabinett oder mit den Parteiführern auch noch nicht stattgefunden haben. Ter größte Teil dieses unverbindlichen Entwurfs betrifft die Neuregelung des Finanzausgleichs; im übrigen sollen auch gewisse Steuermilderungen vorgesehen sein. Die Einzelheiten der Finanzresorm. Im Bereiche der Einkommensteuer soll der steuer freie Betrag für Ledige auf 1800 Mark erhöht werden; ein Familienvater mit zwei Kindern soll bis 3000 Mark steuerfrei sei». Tie Rsalsteuern sollen durchweg um 10 v. H. gesenkt werden; als Ersatz für den damit verbundenen Einnahmeausfall sott den Gemeinden ein« Kopsstener gewährt werden. Tie Kapitalertragssteuer soll bei festverzinslichen Werten für Nenausgaben be- scitigt werden; von der Vermögenssteuer sollen Ver mögen bis zu 20 000 Mark freibleiben; eine Er. i Höhung sott die Biersteuer erfahren. Weiter ist di« ! Aushebung der Reutenbaukzinsfchuld der Landwirt- schäft »nd der stufenweise Abban der Jndnftriebela- < stung vorgesehen. j . Inwieweit alle diese Angaben zutreffen, war bis- ! h?r nicht in Erfahrung zu bringen. Eine kritische Wür- ! digung der einzelnen Punkte des Finanzprogramms ! zunächst, da es sich um unverbindliche Vorschläge handelt und wesentliche Abänderungen mit Sicyerhelt vorauSzuschen sind. Fünfjährige Durchführuugsfrist? Insbesondere wird es in parlamentarischen Kvqt- i«n als ein Nachteil empfunden, daß sich die Durch führung sämtlicher Steuerreformen aus einen Zeitraum von fünf Jahren erstrecken soll. Man ist ver Auf fassung, und das mit Recht, daß die Reform, weW sie einen volkswirtschaftlichen Rutzen habenstA, in der Hälfte der Zeit verwtMicht werden mutz. Vom Reichsfinanzministerinm wird z« den Var» öffentlichungen mitgeteilt, daß si« im wesentliche« zu» träfen. ES handel« sich aber «« PAM, über die d« letzte Wort noch nicht gesprochen sei. Im Rahmen d«s Finanzprogramms sei auch die Frag« einest Ta» vakmonopols erörtert worden. Politische Rundschau. — Berlin, den 2. Oktober 1939. — Der Generaldirektor der preußischen Staatsarchive. Geheimrat Professor Dr. Kehr, ist nach Erreichung der Altersgrenze in den Ruhestand getreten. :: Ter Rentnerbund verweist in einer Zuschrift auf die trostlose Lage der Rentner und erklärt, die Fürforgeleistungen würden dauernd geringer, die Hand habung rigoroser. Der Reichstag müsse sich unbedingt abermals mit der Notlage der Rentner befassen uns den Staatsgläubigern durch entsprechende Beschlüsse die Weiterexistenz ermöglichen. :: Ter Auswärtige Ausschuß d«S Reichstags tritt am Freitag zusammen, um Anen Bericht des RsichS- autzenministers über die Haager Konftrenz entgegen- zunehmen. Am Donnerstag findet in Berlin siM Konferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Län der statt, die gleichfalls dem Uoungplan gewidmet ist. :: Als Nachfolger des verstorbenen Abgeordneten Kulenkampff tritt der Volksparteiler, SÄatSMnister a. D. Rammelt-Dessau, in den ReichSWA, :: Amerikas Präsident empfängt BerRW Ober» bürgermeister. Ter Oberbürgermeister der ReichShappt- stadt, Tr. Böß, der augenblicklich in Amerika wnlt, wurde in WaWngton vom Präsidenten Hoover emp fangen. Rundschau im Auslande. ; Der beim Photographieren aus dem Schlachtfeld« von Kolin von den Tschechen als „Spion" verhaftete deutsch« Schwerkriegsbeschädigte Gröschl ist trotz aller deutschen Vor stellungen noch nicht wieder freigelassen worden. ; Zu Ehren des mit einem Pilaerzug in Rom weilen den Bischofs von Trier veranstaltete der deutsche Botschafter beim Vatikan einen Empfang. ; Persische Regierungstruppen unternahmen wegen der Zerstörung eines Zollhauses eine Strafexpedition; 60 Per sonen wurden gefangengenommen; 20 von ihnen wurden hingerichtet. Verzicht Seipels auf politische Betätigung? k Der frühere Bundeskanzler Deutsch-Oesterreichs, Prä lat Dr. Seipel, unternimmt wegen seines unbefriedigenden Gesundheitszustandes eine längere Urlaubsreife. Infolge dessen wird er auch nicht an der Beratung der Verfassungs- reform teilnehmen. Man rechnet damit, daß Dr. Seipel auch das Amt des Führers der Christlich-Sozialen Partei niederlegen wird. Zweite Lesung im Reichstag. Debatte über die Bersicherungsreform vor fast leerem Haust. — Berlin, den 1. Oktober 1929. Ter Reichstag begann heute die zweite Lesung der Vorlagen zur Reform der Arbeitslosenversicherung, nach dem die erste Lesung Ler Entwürfe noch gestern zu Ende geführt werden konnte. Das Schwergewicht der Verhand lungen lag jedoch in den Parteiführerbesprechungen beim Kanzler; dte Debatte im Reichstag spielte sich vor fast leeren Bänken ab. . . Zu Beginn der Setzung gedachte Vizepräsident Graef des Jubiläums des Reichsgerichts. Dann berichtete Abg. Nie feuer (Ztr.) über die Ausschutzverhandlungen zur Ver- ilcherungsreform. Abg. Jaecker (Soz.) äußerte, Mißbräuche der Bestimmungen seien mehr bei den Arbeitgebern als bei den Arbeitnehmern vorgekommen. Die Konimunisten, Frau Abg. Arendsee und Abg. Schumann, brachten Beschwerden vor. Abg. Stöhr (Nat.-Soz.) erklärte, der Uoungplan müsse zu ernem weiteren Abbau der Sozialpolitik führen. Er befürchte, daß die Zahl Ler Arbeitslosen im Winter die ^Millionengrenze erreichen werde. Abg. Dr. Agena tDntl.) sührte aus, auf dem Lande fehlten überall Arbeitskräfte, man habe daher auf dem Lande kein Verständnis sürdi« Verzögerung der Reform. Eine Erhöhung der Beiwage sei untragbar. Abg. Behrens (Dntl.) kritisierte die UnNar- heiten vieler Bestimmungen und befürchtete Mißbräuche. Abg. Litte (Soz.) beantragte die Herabsetzung der Sperr- frist von sechs auf drei Monate. Graf Westarp (Dntl.) protestierte entschle^n Men das bei der Versicherungsreform angewandte Erfahren k^Ait»nfgrsörae 'ggo Millionen Mark belastet werde. > b" Erlach (Soz.) äußerte, die Vorlage sei nicht ! id^' aZer tch'imme Folgen werde sie nicht haben. b Nc^sf-nunzminister Dr. Hilferding verwies auf di» irübercu Erläuterun^ Die finanziellen Wirkungen Vv« Aenderungsanträzen können erst berechnet werden, wenn diese angenommen sind. Abg. Frau Leusch (Ztr.) wies kommunistische An griffe geaeu die produktive Erwerbslofenfürforge in Köln zurück.