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Er öffneie die Tür und — stieß einen dumpfen Lam aus. Ein Laut ves Schreckens oder der Freude? Auf dem Boden des kleinen Kämmerchens ausgestreckt lag die Grete und schlief. Sie hatte den Arm unter den Kopf gelegt und schlief ruhig und friedlich. Aus einer alten Matratze, einer Wolldecke, die sie zury Kopfpolster zusammenrollte, hatte sie sich ein bequemes Lager her gerichtet und im übrigen sich eingerichtet wie zu einer Be lagerung. Ein halber Laib Brot, der auf einer Kiste in der Ecke lag, ein Teller mit einer nicht geringen Anzahl von Aepfel, ein Töpfchen mit eingemachten Himbeeren, ein schönes Stück Rosinenbackwerk, ver Rest eines ganzen Schinkens, ein fast geleertes Glas Milch bildeten zusammen ein niedliches Stilleben und zeugten ebensosehr von Gretes praktischem Sinn, als ihrem guten Willen, die Feste nicht sogleich zu übergeben. Auch zwei dicke Bücher aus einer Leihbibliothek wiesen darauf hin, daß die Grete ihre Oppo sition erheblich auszudehnen gedachte. Allerdings mochte ihre Festigkeit nicht soweit her sein. Vermutlich hatte sie die ganze Nacht unter Tränen ge wacht; denn nunmehr schlief sie so fest, daß sie nicht einmal hörte, wie der Meister die Tür aufstieß. Die Augenlider. unter den langseidenen Wimpern waren gerötet und ge schwollen. Jetzt aber lag ein süßes Lächeln um ihren Mund und verklärte das trotzige Gesichtchen. Mit einem Male vergaß Lienhart, welche schreckliche Ab sicht ihn hierhergeführt hatte. Auf einen Augenblick vergaß er selbst sein Elend, vergaß seinen Zorn über die un gehorsame Tochter, vergaß alle seine Vorsätze über die Züchtigung, die er ihr zugedacht hatte. Sein einziger Gedanke war: die Grete! Sie lebt! Sie ^ist wieder da! Und dieser Gedanke klang wieder in dem - Ton, mit dem er jetzt ihren Namen ries. Die Schläferin öffnete sogleich die Augen, und ein traumhafter, sonnenheller Glanz lag in diesen Augen, wie ein Abglanz von Liebe und stillem Glück. Dann aber flog ein Zug komischer Verwirrung über das junge Mädchen« gesicht und eine glühende Röte stieg in ihm auf. Sie sprang aus die Füße. „Vater!- stammelte sie. „O Vater!" Und sie wich furchtsam zurück in die Ecke des Kämmer chens, und hielt schützend die beiden Hände vor, als fürchte sie, er könnte sie schlagen. Aber Lienhart dachte nicht daran. Nun sich die Auf wallung der Freude über fein wiedergesundenes Kind ge legt hatte, kam die Erinnerung seines Unglücks und das Bewußtsein seiner elenden Lage mit doppelter Macht zurück. Heftig zuckte es in seinem gealterten, fahlen Gesicht. Er wandte sich ab, und zwei Tränen perlten wieder über seine Wangen. Das Mädchen erschrak zu Tode. Ihr erster Gedanke galt der Mutter. „Vater", rief sie entsetzt, „was ist geschehen? Vater, warum weinst du? Sag', was ist es?" Er suchte sich zu ermannen; aber es gelang ihm nicht. Seine Stimme erstickte iüi verhaltenen Leid. „Alles ist dahin! Alles ist verloren... Das Geld ist fort; sie haben es mir genommen. Und was wir gehabt haben, haben uns andere genommen, alle unsere Sachen! Und ich selbst bin ein Betrüger, nichts als ein elender Be trüger. Ein falsches Los habe ich dem Essinger verkauft, ein altes, wertloses Los... Und das Geld kann ich ihm nicht mehr zurückgeben; denn sie haben es mir gestohlen. Aber glauben wird es mir niemand, und bis morgen holen sie mich auch, wie sie meine Möbel geholt haben, und stecken mich ins Zuchthaus!... Wenn ich noch lebe!" setzte er wie in Gedanken hinzu. Nun erst sah Grete, was der Vater in der Hand hielt. Mit seltsam-vergrößerten Augen sah sie es. Wie ein Blitz das nächtliche Dunkel erhellt, so kam ihr plötzlich die Er kenntnis. Ihr Herzschlag, ihr Puls stockten. Sie schrie auf, schrill, in furchtbarer Angst. „Vater!... Vater!. -, Vater!. i. Was willst du tun?" Und sie stürzte sich aus ihn, um ihm die Schlinge zu entreißen, die er, in trotziger Verzweiflung sich abkehrend, ihr vorzuenthalten suchte. Kurze Zeit entspann sich ein heftiges Ringen, ein Ringen zwischen Vater und Tochter. Dann gab Lienhart matt und müde den Kampf aus. Willenlos ließ er sich von ihr führen, und nun saß er neben ihr in dem kleinen Kämmerchen hoch oben unter dem Dache, und sie schlang ihre Arme um den Hals des Vaters, schluchzte, weinte, bai und flehte. Sie liebkoste, tröstete und schmeichelte ihn, wie es ihr gerade einsiel. „Du hast doch mich noch. Und du hast die Mutter! Sieh, Vater, wie stark ich bin. Was ich für starke Arme habe! Tu glaubst nicht, wie ich schäften kann. Aber du sollst es sehen! Niemand dars vir etwas tun, niemand! Ich tue alles für dich, weil ich dich so lieb habe!" Dann huschte ein verschämtes, reizendes Lächeln über ihr geängstigtes, verweintes Gesichtchen. „Und der Stephan ist auch noch da! Wir helfen alle zusammen!" Die grauen, schweren Wolken jagten am Himmel dahin. Aber sie zerteilten sich, ein kleiner schmaler Streifen tief blauen Himmels lugte hervor. Und jetzt fiel plötzlich ein einzelner schwacher Sonnenstrahl durch das offene Fenster und übergoldete das ärmliche Dachkämmerchen. Es war still geworden in diesen engen vier Wänden. Grete hielt noch immer den Vater umschlungen und küßte ihn auf die Stirn; sie strich ihm sanft mit der Hand durch das wirre, graue Haar. So fand Mutter Lienhart die beiden. Schon breitete der Abend seine Fittiche über die Stadt. Oben, wo zwischen den hohen Giebelhäusern das bißchen Himmel sichtbar war, war es noch hell geworden; denn vie Wolken hatten sich verzogen und der reine, klare Aether schimmerte in leichtem, bläulichem Grau, und im Westen funkelte es feurig und golden von der scheidenden Sonne. Aber tief unten in den Gassen wurde es dunkler und immer dunkler. In der Vorstadt wurden die kleinen Läden geschlossen; es wurde ruhiger und einsamer. In diesem Quartier gingen die Leute bald zu Bett oder sie waren weggelockt von dem glänzenden, in Hellem künstlichen Licht erstrahlenden Zentrum, in dem das Leben jetzt erst recht zu pulsieren begann und die Menschen sich nach des Tages Arbeit umhertrieben, daß es wimmelte, wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Auch Stephan war noch unterwegs. Aber er vermied das geräuschvolle Pflaster der inneren Stadt. Einmal störte ihn die frohe Heiterkeit dieses geschäftigen Lebens; wie ein Ausgestoßener kam er sich vor mit seinem kranken Herzen. Sodann blieb er hartnäckig an dem Gedanken hängen, daß er die Grete nicht dort zu suchen habe, wo die vielen Menschen waren, sontzcrn daß sie sich heimlich, mit bekümmerten Herzen, ver Gegend zuwenden werde, in der die elterliche Wohnung lag. Schon zum fünften Male kam er jetzt durch die Lütticher Straße, er sah hinauf zu dem Hause, nach dem Fenster, aus dem sie ihm in jenen Zeiten des Glücks, die ihm schon so wett zurückzuliegen schienen, des Morgens den ersten Gruß zuwinkte. Ein Zeichen, ein glückliches Zeichen! Aber er sah nichts. Ruhig und still lag das Haus Lienharts hatten Licht an- gebrannt, sie saßen wohl in ver Stube unv weinten und härmten sich um vie verlorene Grete und um das ver lorene Glück. Als Stephan durch die Nabengasse in den Herings markt einbog, vernahm er in ver Ferne vas Rollen eines Wagens. Es fiel ihm aus. vrnn in diesem Teile der Stadt und zu dieser Stunk, war vas etwas Seltenes. (Schluß folgt.)