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Beilage zur Wettzerttz Zeitung Nr. 175 Dienstag, am 30. Juli 1929 95. Jahrgang — ——- — ! — Der Chef der Heeresleitung, General Heye, be- grüßte den gegenwärtig in Deutschland weilenden General- inspekteur der chilenischen Armee, General Diaz. — Der Senatspräsident am Reichsfinanzhof, Dr. Ge org Strutz, ist gestorben. — Im Alter von 70 Jahren starb die Begründerin des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Margarete Behm. — Briand hat das alte PoincarS-Kabinett unverändert übernommen und dem Staatspräsidenten die Wiederbestäti gung der bisherigen Minister voraeschlaaen. — In England ist ein« halbe Million Baumwvll- arbeiter ausgesperrt worden. — Bei einer Revolte im Zuchthaus zu Auburn im Staat« New York wurden sechs Personen getötet, 18 schwer und 2ö leicht verletzt. Die Konferenz im Haag. — Lond on, 30. Juli. In den Kreisen der englischen Regierung erwartet man die letzte Entscheidung über den Zeitpunkt des Konferenzbeginns im Haag für die nächsten Stunden. Eine Verschiebung der Eröffnungssitzung um acht bis vierzehn Tage gilt als möglich, doch rechnet man an dererseits auch noch mit dem 6. August als Datum der Konferenz. Zwingende Gründe für eine Verschiebung der Kon ferenz sind eigentlich nirgends gegeben. Wenn man bisher davon sprach, das neue französische Kabinett müsse einige Tage Zeit für die Uebernahme der Amts geschäfte haben, dann ist dieser Einwand inzwischen dadurch erledigt worden, daß sich das neue sranzösisiche Kabinett als das alte PoincarS-Kabinett vorstellte. Die einzige Veränderung besteht darin, daß Briand nun mehr neben dem Amt des Außenministers auch das des Ministerpräsidenten bekleidet! Da die Regierungskonferenz geraume Zeit in An spruch zu nehmen verspricht, werden die Staatsmänner gut tun, wenn sie sich auf das früheste Datum einigen. Auch in diesem Falle noch wird man große Mühe haben die Arbeiten vor der nächsten Völker bundstagung zum Abschluß zu bringen. Ob Ministerpräsident Macdonald die Führung der englischen Delegation übernehmen wird, ist heute noch ungewiß. Vielleicht wird Macdonald nur einige Tage im Haag verbringen, um dann die Führung der Dele gation dem Außenminister Henderson zu überlassen. Ueber die Haltung der britischen Konferenzabord nung steht nach Mitteilungen von gutunterrichteter Seite soviel fest, daß Großbritannien entgegen der ur sprünglichen Absicht, sich nicht mehr damit begnügen wird, den Uoungplan in seiner gegenwärtigen Form unter einem formellen Widerspruch anzunehmen, son dern aus Abänderungen in wesentlichen Punkten bestehen wird. Das ist insofern bemerkens wert, als dieser Entschluß zeigt, daß die Nachteile des AoungPIans als so groß angesehen werden, daß sie auch nicht durch politische Zugeständnisse, etwa Frank reichs, wettgemacht werden könnten, womit früher ernst haft gerechnet werden konnte. Gegenwärtig liegen die Dinge so, daß Schatzkanzler Snowden unter allen Um ständen in einigen Punkten seine Auffassung durch setzen will und sich durch mehr formale Zugeständ nisse, wie etwa die Verlegung des Sitzes der internatio nalen Bank nach London, hiervon nicht abbringen lassen wird. Man kann, das ist wohl anzunehmen, der Konferenz einen schwierigen Verlauf Voraussagen. Sache der deutschen Delegation ist es, Vorkehrungen dagegen zu treffen, daß die Beseitigung der Differenzen auf , Kosten Deutschlands erfolgt. Und es darf dabei keinem Zweifel unterliegen, daß Deutschland die Kosten auch dann zu tragen hätte, wenn die Frist für die Inkraft setzung des Aoungplanes vom 1. September aus den I 31. Dezember zuvückverlogt würde mit der Maßgabe, i daß Deutschland weitere vier Monate die Besatzungs- j kosten und die höheren Daweszahlungen aufzubringen hätte. In der Räumungssrage liegen die Dinge für Deutschland keineswegs ungünstig. Es besteht viel mehr der Eindruck, daß es gelingen wird, in dieser , Hinsicht die Franzosen zum Nachgeben zu bewegen. Womit aber nicht gesagt sein soll, daß die Räumung schon am 1. September beginnt. Ter englischen Abordnung sollte das Festbleiben in der Räumungsfrage nicht schwer fallen. Die ge samte Presse ist Gegner der Besetzung. Bedeutsam ist ferner das vom Rechtsberater der britischen Krone für die konservative Regierung Baldwin angesertigte Gutachten, nach dem der Versailler Vertrag eine ge meinsame Besetzung, aber keine gemeinsame Besetzungs- Verpflichtung Vorsicht, so daß die etwaige Sonder- ' Zurückziehung der englischen Truppen ohne eine Ver letzung des Versailler Vertrages möglich ist. Zm Schatte« PoinearSs! < Die Erweiterung der Regierung nach links gescheitert. Briand übernimmt das alte Kabinett. - Paris, 30. Juli. Briands Plan, die bisherige Regierungsmehrheit durch Aufnahme der — RadikalsozialiHn genannten — - bürgerlichen Demokraten in das Kabinett nach links ! zu erweitern, ist gescheitert. Briand war zwar bereit, der großen radikalsozialistischen Partei zwei Minister j ohne Portefeuille zuzugestehen, er weigerte fick aber, s den Radikalsozialisten bestimmte Fachministerien zu § übertragen, weil er dann zwei rechtsstehende Minister - hätte preisgeben müssen. § Rach dem Scheitern seines Plaues entschloß sich i Briand, mit dem alte« Kabinett PoinearS vor die Kam- c «er zu treten. Er unterbreitete dem Staatspräsidenten die Ministerliste PoincarLs zur Wiederbestätigung, mit dem einzige« Unterschied, daß der Ministerpräsident statt PoinearS fortan Briand heißt. Die Leitung deS Außenministeriums behielt Briand bei. Briands dreizehntes Ministerium ist somit das alte PoincarS-Kabinett mit einem neuen Vorsitzenden. Wie die verantwortlichen Männer die gleichen geblieben sind, so wird sich auch der Kurs der neuen Regierung nicht ändern. Fraglich ist nur,ob Briand seine Minister präsidentenschaft für die Dauer beibehalten will oder s ob er sie als ein Provisorium betrachtet und bereit ist, - das Amt des Ministerpräsidenten in einigen Monaten dem gesunden PoinearS wieder zur Verfügung zu j stellen. ! Wenn Briand als Statthalter PoincarSs den Vorsitz führen will, dann muh er sich als Außen minister sehr gehemmt fühlen. Eine eigene Politik ist dann von ihm nicht zu erwarten. Es wird weder zur Gründung der utopischen „Vereinigten Staaten von Europa" kommen, «och wird Briand de» berech tigte» deutschen Ansprüche» auf Räumung des Rheiu- laudes und Freigabe des Saargebietes früher ent sprechen als PoinearS. Es muß immer wieder fest- gestellt werden, daß Briand gegenüber dem Mißtrauen der rechtsstehenden Regierungsparteien viel Vorsicht tiger sei» muß als PoinearS, der „Netter Frankreichs aus der Inflation." Für Deutschland hat somit der Regierungswechsel in Frankreich keine neue Lage geschaffen. S» bleibt alles beim alten! PoinearS achört Mar dem neuen Kabinett nicht an, dafür muh das Kabinett aber im Schatten PotnoarSs arbeiten. Fortführung der Konferenz in Genf? Wie verlautet, will sich Briand mit seinem chltest Kabinett der Kammer am Donnerstag vorstellsn. Bleibt es dabei, dann stünde nichts dem im Wege, dah Briandt am Sonntag mit einer Blankovollmacht nach dem Haag fährt. Erfährt die Regierungsvorstellung in der Kam mer eine Verzögerung, dann muh man sich aus eins Hinausschiebung der RqgierungSkonserenz gefaßt machen« In den Hauptstädten spricht man übrigens bereit« von der Möglichkeit, daß im Haag die Hauptarbeit von dem Organisationsausschuß zu lenten ist, und die Ver handlungen über di« Frage der Rüetnlandräumung unv der Saarfreigabe erst in Genf aoschliehend behandelt werden. Deutschenverfolgung in Pole«. Strafverfahren gegen Mitglieder des ehemaligen Dentschtumbundes. Aus Polen werden abermals Deutfchenverfolgun-- gen gemeldet. Der StaaÄanwalt des WpsllattonS- gerichts in Thorn bat die Wiederaufnahme eines Straf verfahrens gegen den ehemaligen Deutschtumbund in Bromberg angeordnet, der im Jahre 1923 von de« polnischen Regierung aufgelöst wurde. Die Wiederauf nahme des Verfahrens ist um so erstaunlicher, als die polnischen Behörden sich längst davon hätten überzeugen können, daß der Deutschtumbund keinerlei staatsfeind liche Ziele verfolgte. Das setzt eingeleitete Untersuchungsverfahren wirft sieben Mitgliedern des Deutschtumbundes vor, Spionage zugunsten Deutschlands getrieben und Nachrichten ge sammelt zu haben, die im Interesse des polnischen Staats geheimzuhalten waren. Ihnen wird ferner vor geworfen, Listen über die ehemaligen deutschen Heeves- angehörigen geführt zu haben, um diese im Falle eines deutsch-Polnischen Krieges gegen Polen zu ver wenden. Der Geschäftsführer des Deutschen Bureaus in Bromberg, Studienrat Heidel, wurde nach einem drei stündigen Verhör unter Polizeiaufsicht gestellt, Masseirauflösung ukrainischer Berei««. - Warschau, 30. Juli. In Oflgalizien hat die Lemberger Wojewodschaft in zahlreichen Ortschaften dis Ukrainischen Turnvereine und die ukrainischen frei willigen Feuerwehrorganisationen aufgelöst. Bon Pol nischer Seite wird als Grund für diese Massenauflösung die Ueberschreitung der Vereinssatzungen angegeben. Von ukrainischer Seite wird dagegen erklärt, daß dis Auflösung rechtlich völlig unbegründet sei und nur im Zusammenhang mit der Unterdrückungspolitik gegen die Minderheiten zu verstehen sei. Rheinlandkontrolle entehrend! Eine Ansprache Wirths in Trier. — „Ter kritische Angenblick im Ringen um die Freiheit am Rhein ist gekommen." Ter Reichsminister für die besetzten Gebiete, Dr. Wirth, wohnte in Trier dem 45. rheinischen Hand- werkertag bei. Nach der Begrüßungsansprache des Prä sidenten des rheinischen Handwerkerbundes, Esser, sprach Minister Dr. Wirth über das Thema: Die U benssragen der westlichen Grenzgebiete. Arnold Merten's Mode« Roman von Anna Fink ( ^op^iigkt bx I'iau Luv» Unk, Dresäen-I/LubsgLst, Lralnsrstr. 81 (SS. Fortsetzung) „Wann war das?" fragte Herr Thorwaldt atemlos / „Heute früh so um sieben Uhr", war die Antwort. ! „Mach' doch den Brief auf", drängte Tante Amalie. Der Dienstmann sah sich fragend um, ob er noch etwas solle, sah aber nur drei vollkommen entgeisterte Gesichter. Da verzog er sich. „Bet denen scheint auch 'ne Schraube zu fehlen", meinte er bet sich, als er das Thorwaldtsche Haus verließ. „Vielleicht war das eine kleine Freundin von dem Herrn, weil sie alle gar so dämlich aussahen?" Bei diesem Gedanken beruhigte er sich und ging in die nächste Kneipe, um einen zu genehmigen. Es war kalt und Las Fräulein heute morgen hatte ihn ein gutes Trinkgel gegeben. — Indessen hatte man sich -rinnen soweit gesammelt, daß Thorwaldt den Brief öffnen und lesen konnte. Er war Lenkbar kurz. „Lieber Vater! Ich umß in einer dringenden Än- , gelegenhett verreise». Es ist eine Sache, Lie ich ganz allein machen muß. Vielleicht wer-et Ihr eine Zett- slang nichts von mir hören. Macht Euch keine Sorge 'deshalb. AVer forscht mir nicht nach, sonst gibt eS ein Unglück. Eure Gertrud." Frau Thorwaldt bekam einen Weinkrampf, -er diesmal wenigstens echt war. Herr Thorwaldt schüttelte bloß Leu Kopf. Er verstand das alles nicht. -Ich würde sie mit derPoltzei »«rückholen laßen!" rief Tante Amalte sehr ensxgtsch. - ' „Und ich wünsche nicht, daß irgend etwas unternommen wird", erklärte Herr Thorwaldt mit eisiger Ruhe. Er nahm den Brief und schloß sich damit bis zum Abend in sein Zimmer ein. „Und ich sage, diese Raupen hat nur Merten dem Mädel in den Kopf gesetzt", sagte Tante Amalte energisch. „Ich war immer Lagegen. Ich hab's Euch immer gesagt!" Frau Thorwaldt vermochte nur zu wimmern. Echten Kummer hatte sie bislang noch nicht erlitten. Wütend und ratlos stampfte Lie Tante zur Türe hinaus und platzte Labet fast mit Eduard zusammen. „Du hast eine feine Schwester", rief sie ihm zu. „Die ist Euch heute üurchgegangen." _ > Fassungslos starrte er Lie Tante an. „Gertrud ist fort?" fragte er. ) „Allerdings!" erwiderte sie. „O, diese moderne Jugend! Das ist fürchterlich! In meiner Jugend kam fo etwas nie vor!"' Sie schnaubte vor Entrüstung, zog sich an und ver schwand. Wenn Tante Amalie sich keinen Rat mehr wüßte, tobte sie immer am schlimmsten. Denn das ging ihr ans Herz. Eduard zog sich kopfschüttelnd aus. Was bloß mit Gertrud los sein mochte! Er konnte sich gar nicht Lenken, weshalb seine Schwester fort war. Er wollt« zur Mutter und Liese um Aufklärung bitten. Sie lag im Bett und stöhnt« nur leise. Antwort gab sie Über haupt nicht. Er ging zu dem Zimmer seines Vaters. Dies war fest verschlossen und alles Klopfen nützte nur so viel, Laß Herr Thorwaldt mit Stentorstimme schrie: „Meine Ruhe will ich haben! Ich bin vorläufig für niemanden zu sprechen!" — — Etwas kleinlaut zog Eduard ab. Schließlich, — «s war -och immerhin seine eigene Schwester, um die es sich handelte. Da wollte er wenigstens wissen, was los war. Er ging zu Martha, der Küchenfee. Diese rumorte mit ihre» Töpfen und Tiegeln aufgeregt herum und sagte > immerfort dazwischen: „Nee, so was habe ich auch noch ntch» erlebt!" Wenn sie eine Sache geistig nicht gleich bewältigen konnte, fing sie immer an, mit sich selber zu re-en. „Hast wohl Hunger, Du armer Kerl", sagte sie mttletöig, als sie Len Jungen sah. „Na, heute geht auch alles durch einander!" „Ich habe keinen Hunger. Aber Du sollst mir sagen, was mit der Gertrud passiert ist." „Weißt Du denn Las noch nicht?" fragte das treue Mädchen erstaunt und fügte auf sein Kopfschütteln hinzu: „Nein, es ist Loch merkwürdig, was die feinen Leute für Ansichten haben. Da hat ihm nun kein Mensch gesagt, was passiert ist!" Und dann erzählte sie ihm, was sie selber wußte und be richtete auch getreulich Tante Amalie's Ansicht über den Fall. Wie ekn Blitz schlug es in Eduarü's Hirn ein. Kinder haben oftmals eine erstaunliche Gabe, etwas ein fach und schlagend aus den Umständen abzuleiten. Sie finden in aller Einfachheit Zusammenhänge, an die kein Er> wachsener in seiner Aufregung gedacht hat. So auch hier. Eduard rannte auf einmal wie ein Besessener aus ö n Türe. Martha hörte noch, wie er seine Sachen vom Gar- -erobohaken riß und Sie Türe Sinter sich »«knallte, -aß es Lurch LaS HauS dröhnte. „Gott bewahre mich, nun hat er noch nicht einmal was gegessen. Der ist auch schon üvergeschnappt. Die sind ja alle- samt nicht ganz bet sich", »acht« -te treue Seele entsetzt. „Wo -aS wohl noch alles enden soll!" Eduard aber lief, was ihn seine Beine tragen konnte« dorthin, wo er Peter Looser vermutete. * * * - - 'Aortsetznng folgt)