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Beilage zur Weitzeriy-Zeitung Nr. 207 Donnerstag, am 5. September 1929 95. Jahrgang WS»«— Chronik des Tages. — Der Reichspräsident, die Reichsregterung und dl« deutschen Länder Haben aus Anlaß der Rückkehr des „Gras «eppelin" Glückwunschtelegramme nach Friedrichshafen ge sandt. — England hat zunächst von weiteren Liquidationen deutschen Eigentums Abstand genommen. — Am Mittwoch fanden in Berlin neue Besprechungen Über die Reform der Arbeitslosenversicherung statt. — In Berlin wird die dreizehnjährige Schülerin Gerda Bork seit dem vergangenen Donnerstag vermißt. — In den nächsten Tagen wird das Gutachten des Professors Schulze in Göttingen über den Geisteszustand des Grafen Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode in Hirschberg eintreffen. — Bei Limburg wurden drei Arbeiter von herabstür zenden Tonmassen erschlagen. — Beim Baden im Waal bet Leeuwen ertranken di« beiden Töchter des Kapitäns Douy aus Duisburg und Gr Vater, der sie retten wollte. Der Mann und das Werk. Macdonald in Genf. -- Gens, 5. September. Englands weißhaariger Ministerpräsident Mac donald hat die Generalaussprache im Genfer Resor- mattonssaal mit einer sehr bedeutsamen Rede eröffnet. Sachlich mag der Premier kaum etwas gesagt haben, was neu ist, oder doch unerwartet käme. Man wußte, daß Macdonald von der Notwendigkeit der Ab rüstung und von der Durchführung der allgemeinen Schiedsgerichtsbarkeit überzeugt und zu Schrit ten in dieser Richtung hin bereit ist. Ein Ereignis wurde die Rede dadurch, daß wäh rend der Ausführungen Macdonalds jedermann im Resormationssaale spürte, daß da ein Mann vor dem Mikrophon sprach, der gewillt ist, das Steuer Herum zureißen. Als Macdonald seine Ausführungen beendet hatte, zollte ihm die Versammlung Beifall; als erster gab Staatssekretär Schubert von der deutschen Delegation dem britischen Ministerpräsidenten die Hand. Schwei gend verharrten lediglich die Franzosen; ihr Unbehagen war offensichtlich! Macdonald hatte sich dazu bekannt, daß Sicherheit nur durch Abrüstung gewonnen werden kann und er hatte darauf hingewiesen, daß freiwillige Verträge mehr Sicherheit gewähren als Soldaten. Tie französischen Zeitungen quittieren Mac donalds Rede damit, daß sie ihren Berichten die Ueber- schrift geben: die Entente cordial« ist tot! Nun, das ist eine Uebertreibung und eine Unwahr heit. Auch die englische Arbeiterfmrtei hat nicht di« Absicht, aus dem englisch-französischen Freundschafts verhältnis ein Feindschaftsverhältnis zu machen. Mac donald will nicht den Bruch mit Frankreich, er erstrebt lediglich Unabhängigkeit von Frankreich. Er will nicht, wie der „Franzosennarr" Chamberlain, gratis Frank reichs Geschäfte besorgen, sondern er will auch Frank reich gegenüber stets das Interesse Großbritanniens wahren. Im Zusammenhang mit dem Kurswechsel in Lon don ist es in der Weltpolitik seit langem lebendig ge worden; es bilden sich neue Gruppierungen her aus. Töricht aber wäre es, wollte man sich in Deutsch land nun der Hoffnung hingeben, England werde sich Voit Frankreich ab- und Deutschland zuwenden. Das hieße den Sinn der neuen Entwicklung gründlich miß? verstehen! England will in Zukunft in Europa lediglich eigene Wege gehen. Tas ist alles, und wer mehr zu sagen weiß, der Phantasiert. Tie deutsche Außenpolitik gewinnt durch das neue Verhältnis Englands zu Frankreich eine gewisse Bewegungsfreiheit. Für uns ist schon viel ge wonnen, wenn England eigene Europa-Politik macht und wenn den Engländern der Vorteil ihres Landes mehr am Herzen liegt, als die Pflege der Waffen brüderschaft. Unterstützung findet Macdonald für seine Politik weit über die Kreise seiner Partei hinaus. Und schließ lich hat Macdonald, der sich vom Ackerknecht zum Ministerpräsidenten des britischen Weltreiches empor gearbeitet hat, auch in den früheren Jahren bereits Proben seiner Charakterstärke gegeben. 1914, als Eng land vom Kriegstaumel ergriffen wurde, als der Neid über Deutschlands Flottenentwicklung die Geister irre- sührte, brachte es Macdonald immerhin fertig, einen Ministerposten abzulehnen und sich gegen die Mehrheit seines Volkes zu stellen, weil er überzeugt war, daß Englands Interesse die Neutralität erfordere. Lange Jahre hindurch war Macdonald dann ver- semt, heute aber ist er zum zweiten Male Minister präsident, kann er neue Wege wandeln, weil inzwischen auch der Turchschnittsengländer eingesehen hat, daß England im Weltkriege mehr verloren als gewonnen hat! Tie deutsche Kriegsflotte der Vorkriegszeit ruht zwar aus dem Meeresgründe, die deutsche Handels flotte ist jedoch wiedererstanden, und wmn die Eng länder vor dem Kriege über die deutsche Konkurrenz klagten, dann besitzt Deutschland auch heute noch eine erstaunliche Wirtschaftskraft, gleichzeitig ist den Eng ländern aber in Amerika ein Rivale erwachsen, der größer und mächtiger ist, als alle früheren Gegner des englischen Weltreiches. An Prestige verloren hat England ferner dadurch ,datz in Europa Frankreich das Wort führt und England keine Gelegenheit mehr hat, den Ausschlag zu geben. Man kann eS also verstehen, wenn Macdonald einen neuen Kurs steuert, und man kann es auch ver stehen, wenn die Franzosen in Genf verschnupft sind. SS ist ihnen unangenehm, daß die Abrüstung das Ba^omter der Befriedung werden soll. Das „Vlhv ve Paris" klagt bereits, kaum seien ächt Tage I seit dem Verzicht auf die Räumung vergangen, „und I schon gebe es in Genf einen Vorstoß großen Stils gegen alle Ideen, die die Seele der französischen Politik feien. Macdonald entwickele ein Programm der deut schen Revanche". Können ernsthafte Menschen derartiges Zeug schreiben? Macdonald hat kein „Programm der deut schen Revanche" entwickelt, sondern er hat lediglich einer Politik den Kamps angesagt, gegen die Deutsch land seit Jahren im Felde steht, nämlich der Politik der tönenden Phrasen und der kleinen Taten! Das Kabinett über Haag einig. 2er Verlauf der Sitzung. — Der Reichskanzler dankt der Delegation. lieber die der Haager Konferenz gewidmete Sitzung des Reichskabinetts wird ein amtlicher Bericht veröffentlicht, in dem es heißt: Den Vorsitz führte in Vertretung des Reichs kanzlers, der zu seiner völligen Wiederherstellung vor aussichtlich noch für drei Wochen in Bühlerhöhe weilt, der Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann. Ter Reichsautzenminister gedachte vor Eintritt in die Tagesordnung des Hinscheidens der Schwester deS Reichspräsidenten und gab dem in dem gestrigen Bei leidstelegramm des Reichskanzlers bereits bekundeter Mitgefühl des Reichskabinetts erneut herzliche« Ausdruck. 2er ReichSaußenminister erstattete alSdanu all , Führer der deutschen Delegation eine« Bericht übet ! den Ablauf der Konferenz, der durch weitere Einzel- berichte der Reichsminister 2r. Hilferding, Dr. Curtin« § und Dr. Wirth ergänzt wnrde. Der Reichskanzler, de« , am Sonntag durch Staatssekretär Dr. Pünder 1« ! Bühlerhöhe eingehender Vortrag gehalten worden waq - ließ in der heutigen Kabinettssitznng durch den StaatS- sekretär erklären, daß er der deutschen Delegatton seine« aufrichtigsten Dank und seine Anerkennung auSspreche Es sei daS Verdienst der deutschen Delegation, dii ! Graftlage für eine erhebliche, sich alsbald artSwirkend« - Minderung unserer Laste« für die Ankunft geschafft« und die Wiederherstellung deutscher Staatshoheit «ach innen rmd außen zn einem nahen Dermin sichergestelli zn haben. Die überwältigende Mehrheit des deutsche« Volkes werde die endgültige Festsetzung der RSmnnnk mit dem Gefühl herzlicher Freude begrüße«. Tas Reichskabinett pflichtete nach eingehender Aus. spräche dieser Auffassung des Reichskanzlers einstim mig bei und gab insbesondere der Genugtuung darüber Ausdruck, datz das Sehnen des besetzten Gebietes nach Anbruch der Freiheitsstunde seine Erfüllung findet. Frattionsbesprechnngen in Berlin Mittwoch traten im Reichstag die Fraktionen de, Sozialdemokraten, der Demokraten und der Deutscher Volkspartei zusammen. Sie beschäftigten sich sowohl mit den Fragen der Arbeitslosenversicherung wie mit dem Ergebnis der Haager Konferenz, über das in dei volksparteilichen Fraktion Reichswirtschastsminister Dr ' Curtius berichtete. Tie für Mittwochnachmittag geplante Plenar sitzung des Reichsrats wurde auf Donnerstag ver schoben. Ferner fand eine gemeinsame Besprechung der Koalitionsparteien mit den Ministern statt. * Keine Liquidationen in England mehr. Tie englische Regierung hat in Berlin wissen lassen, daß sie während der Dauer der schwebenden Sonderverhandlungen über die Liquidation deutschen Eigentums keine weiteren Liquidattonen vornehmen wird. Es wird auch versucht werden, die englischen Dominions zu einer ähnlichen Stellungnahme zu ver anlassen. Auf der Spur der Attentäter. ! Der Chauffeur meldet sich. — Wichtig« . Aussagen. Bei der politischen Polizei der Reichshauptstadt hat sich am Mittwoch ei« Chauffeur gemeldet, der aus- fagtc, er habe i« der Nacht zum Sonntag zwei Männer in die Gegend des Reichstagsgebäudes gefahren. Di« beiden hätten seine Kraftdroschke in der Kurfürsten- ! stratze angerufen und sich zunächst znr Ecke Nürn berger Stratze fahren lassen. Dprt sei einer von ihnen ausgestiegen nnd nach zehn Minuten mit einer Akten mappe unter dem Arm zurückgekehrt. Als nächstes ! Ziel sei ihm dann der Reichstag aufgegebeu worde«. § Dort angclangt, seien seine Fahrgäste auSgeftiegc«. Vom Reichstag fuhr der Chauffeur dann nach ! seinem Standplatz in Moabit. Als er 1Vs Stunden später erneut am Reichstag vorüberkam, war er ver- > wundert, feine beiden Fahrgäste noch dort zu sehen. Tie Polizei ist jetzt damit beschäftigt, dieser neuen . Spur weiter nachzugehen. Politische Rundschau. — Berlin, den 5. September 1929. , — Die spanische Zerstürerflottllle hat die Jadestädte wieder verlassen. Dre Schiffe fahren zunächst nach Ant werpen. :: Staatspräsident a. 2^. Dr. Hummel gab auf oem Parteitag des WahlkreiSverbandes Magdeburg- Anhalt der Deutschen Demokratischen Partei einen Ueberblick über die Entwicklung der Reparattonsfrage. Haag habe uns aus dem Weg zur Ueberwindung des KriegSsolgen ein Stück vorwärts gebracht; die völlige Liquidation des Krieges habe diese Konferenz jedoch nicht gebracht. :: Mitglieder des Bundes »er Ausländsdeutschen begaben sich in Fortsetzung der Heimattammg «ach Magdeburg, wo der Magistrat zu ihren Ehren einen Empfang veranstaltete. Aus den Ansprachen der aus landsdeutschen Vertreter klang immer wieder die An hänglichkeit und Treue zur Heimat und das sefk Ver sprechen heraus im AuSlande für die deutschen In teressen einzutreten. Rundschau tM AuSlande. j Der Führer der Schinwart, eines der bedeutendsten Stämme Afghanistans, ist nacht» im Schlaf ermordet worden. * Palästina-Untersuchungsausschuß eingesetzt. ! Auf die Bitte des OberkommtssarS für Palä stina hat der englische Kblonialmtnister einen Unter suchungsausschuß für Palästina ernannt, dessen Vorsitz der frühere Oberrichter der Straits Settlements. Sir Waller Shaw, übernehmen wird. In der Kommission sind die drei parlamentarischen Parteien du--^ Mitglied vertreten. * Der Direktor der Ehiantiner Filiale der Bank von Florenz wurde wegen Unterschlagung von 300000 Lire uM seinen Helfershelfern, zum Teil Verwandten oder Mtt- angestellten, verhaftet. Amerika und Oberammergau. Falsche Nachrichten über die Passionsspiele. Unter der Ueberschrift „Amerika kauft Oberammer gau auf" verbreitete eine Berliner Zeitung die Mel dung, datz von amerikanischer Seite sämtliche Eintritts karten für die Oberammergauer Passionsspiele des nächsten Jahres übernommen worden seien. Diese Nachricht ist, wie die „Münchener Neunten Nachrich ten" nach eingezogener Erkundigung in Oberammergau erfahren, falsch . ES stimmt lediglich, vatz die drei amtlichen Ver treter der Aestspielleittmg, die in der Wett die Karte« für die Passionsspiele verkaufe«, nämlich das amt liche bayerische Reiseburean, das Reiseburea« Cool «uv Sohn sowie die American Expreß Couch., schon sehr viele Bestellungen angenommen haben, da vo« den im nächsten Jahre «ach E»rcha kommende« Ameri kanern sehr viel« die Spiele besuche« wolle«. ES ist übrigens beabsichtigt, für die ettihetmtsth« Bevölkerung und die nächste Umgebuug verbilliA« Spiele abzuhalten, und zwar insbesondere in den Monaten Mai, Juni und September. Das neue Theater ist nahezu fertig und faßt 5000 Personen. Da im ganzen 32 Hauptspiele und die gleiche Anzahl Nachspiele geplant sind, so ist bei immer ausverkaustem Theater mit einer Besucherzahl von etwa 320 00Ü zu rechnen. «cvcnkGge für den S. September. 1729 * Der Philosoph Motzs Mendelssohn in Dessau " 1788) - 1767 * Der französische Staatsmann Mari« Lseph Marquis de Lafayette in Lhavagnae tf 18S4). Sonne: Aufgang 5,20; Untergang 18,LL Mond: Aufgang 8,47; Untergang 16^)2. Meine Zeitung. Die Zeitung, der tägliche Hausfreund, Lehrer, Berater und Informator, das elastische Konversations lexikon der Gegenwart, wird noch immer nicht so von den Lesern benutzt, wie sie es verdient. Meist be ttachtet man sie nur als Eintagsfliege, als vorüber gehenden Plauderer, der beiseite geworfen wird, wenn er seine Neuigkeiten ausgekramt hat. Taran tut man nicht recht. Tie Zeitung in ihrer gegenwärtigen Gestalt und in ihrer Vollendung ist eine wertvolle Chronik alles Neuen nicht nur, sondern auch alles Wissenswerten geworden. Sie kann uns nicht nur ein Nachschlagebuch ersetzen, an dem es aus manchen Gebieten ohnehin mangelt, oder das wir teuer bezahlen müssen, sondern sie erspart uns bei richtiger Benutzung die Anschaffung einer Reihe von Spezialwerken. Es gibt ja fast nichts von Interesse, was nicht in den Spalten der Zeitung notiert wird. Man hat weiter nichts zu tun, als das, was für uns von besonderem Interesse ist, zu sammeln und auszubewahren. Wer sich ein humoristisches Werk anlegen will, sammelt dre besten Anekdoten und humoristischen Gedichte, wer slch Mr Naturwissenschaft interessiert, die daraus be züglichen Artikel, ein anderer die Gerichts-Entschei dungen, ein vierter die wertvollsten Feuilletons, ein fünfter die literarischen Aufsätze usw. Man muß aber, wenn die betreffende Sammlung eine: wirklichen Wert für uns bedeuten soll, dieser auch etwas Sorgfalt widmen, indem man sich entweder eine entsprechende Mappe oder einige Mappen .'«legt, in die man die Ausschnitte, die möglichst sauber eA nommen werden müssen, einklebt. Oder man NA sie aus lose Bogen auf, die man sich nach einer g^orfs«« Zeit zum regelrechten Buche binden läßt, nachdem man ein übersichtliches Register angelegt hat. Wer so verfährt, wird wirkliche Freude uuo großen Nutzen von seiner Zeittmg NtNen^^ mekch als einige Minuten auswenden zu müssen^