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BMage zur Wettzeny Zettung Nr. 209 Sonnabend, am 7. September 1929 98. Jahrgang Chronik des Tages. - .Die Zahl der Sprengstoffanschlüge ist durch der, neuen Anschlag in Lüneburg auf 11 gestiegen. — Der in Deutschland verhaftete Führer der Man ischen Emigranten wird mit seinen Genossen wegen Ver gehens gegen das Sprengstoffgesetz zur Verantwortung ge zogen werden. — Der britische Ministerpräsident Macdonald ist von Genf nach London zurückgerehrt. — Als Mörder des vor einigen Wochen in Arlberg ermordeten Berliner RechnunaSrates Karb Vendt wurde in Laibach in Südslawien der tschechoslowakische Militärflücht ling Alfred Kröller verhaftet. — Im Rahmen der Tausendjahrfeier fand in Lenzen in der Mark vor der St. Katharinenkirche die feierliche Uebergabe des Kirchenschlüssels durch den Generalsuper intendenten v. Dibelius statt. — In Prag stießen bei den Schlußübungen der zwei ten und fünften Infanteriedivision ein Jagdflugzeug und ein Beobachtungsflugzeug zusammen. Beide Flugzeuge stürz ten ab. Drei Flieger wurden getötet. — In Paris brach in den Militärdepots, die am Quak de Tokio mitten in der Stadt gelegen sind, ein großes Feuer aus, das ständig an Umfang zunimmt. Die aus allen Teilen der Stadt herbetgerufenen Feuerwehren sind fieber haft bemüht, des Feuers Herr zu werden. Von Woche z« Woche. Randbemerkungen zur Zeitgeschichte. Zum ersten Male seit Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund verhandeln die führenden euro päischen Außenminister in Genf, ohne daß die Fragen der Rheinlandräumung und der Repara tionen zur Debatte stehen. Es wird zwar in den Parlamenten noch leidenschaftliche Auseinandersetzun gen über den Aoungplan und die Haager Abkommen geben, doch ändert das nichts daran, daß die Rhein landfrage für die Auswärtigen Aemter endgültig ge regelt ist und die der Reparationen zumindest für einige Jahre. Tie Diplomatie ist somit durch den Abschluß der Haager Konferenz erheblich entlastet worden; die Außen minister haben die Hände für neue Werke frei. Weit geringer sind dagegen die Auswirkungen der Einigung über Räumung und Reparationen auf das deutsch französische Verhältnis. Als man vor einigen Jahren den Franzosen den Rat gab das Rheinland so schnell wie möglich zu räumen, dachte man in Deutschland an ein Wort des französischen Dichters Victor Hugo, der 1871 in der Nationalversammlung zu Bordeaux ausries, ein mal werde auch an Frankreich wieder die Reihe des Siegens kommen, und dann werde Frankreich zum letzten Male das Rheinland erobern, um es dem deut schen Volke als Morgengabe ewiger Freundschaft zu rückzugeben. Von diesem Geist war die Politik, die Frank reich in der Rheinlandfrage verfolgte, leider nicht ein- gegebcn. Briand hat den Termin verpaßt, an dem die Aufhebung der Besetzung noch geistige Wirkungen auslösen konnte! Gewiß, jedermann in Deutschland freut sich, daß die Franzosen in einigen Monaten ab- ztehen, aber niemand hat vergessen, wie sehr Deutsch land um die Durchsetzung seines Rechtsanspruchs hat kämpfen müssen und welche Kämpfe uns noch be vorstehen. So kennzeichnete denn auch Reichspräsident von Hindenburg nach der Entgegennahme des Haag- Berichtes die Haager Konferenz sehr richtig als eine Etappe, von der aus die volle Wiederherstellung der deutschen Staatshoheit erkämpft werden muß. Frankreichs Ministerpräsident Briand hat im Haag und in Genf den Verlust an Ansehen, den er dadurch erlitten hat, daß er nach berauschenden Worten selbst vor kleinen Taten zurückwich, nicht wieder wett machen können. Tie Absicht, kräftig wiederaufzuholcn, hat Briand ohne Zweifel gehabt, aber die Engländer haben ihm das Konzept verdorben! Briand ist nach dem Haag gegangen mit dem Willen, dort günstig in der Räumungsfrage abzu schneiden, um dann in Genf das Programm der Ver einigten Staaten von Europa zu entwerfen. Statt dessen schob Snowden im Haag die materiellen Fra gen in den Vordergrund, wodurch Briand in die un angenehme Lage kam, mehrmals sein Wort nicht ein lösen zu können. Ten zweiten Streich spielte Eng lands Außenminister Hendersonden Franzosen, der, noch ehe Briand zu einer Räumungsgeste Gelegenheit hatte, jedem, der es hören wollte, versicherte, England werde auf alle Fälle räumen. Und in Genf fand Mac donald nicht ein einziges ermunterndes Wort für . den Paneuropagedankcn. Es gewinnt den Anschein, als habe Macdonald in Gens zn früh gesprochen. Es bestehen noch Diffe renzen zwischen England und Amerika über das Pro gramm der Flottenabrüstung. Man hat sich über 17 von 20 Punkten verständigt, doch sind die restlichen drei die schwierigsten. Abgesehen davon muß Präsident , Hoover noch die Häupter des Parlaments für den ; Akkord gewinnen, wenn nicht später der Kongreß wieder i verwerfen soll, was der Präsident in die Wege geleitet - hat. WilsonS Beispiel schreckt ab! s Ten Franzosen ist es bei alledem nicht wohl. England hat im Haag und in Genf selbständig und aktiv in die europäische Politik eingegrisfen, ohne sich zuvor, wie unter Chamberlain, in Paris das Stichwort zu holen. Verstimmt ist Paris ferner dar über, daß England jetzt mit Amerika Sonderverhanv- Umgen führt, um nachher Frankreich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Schließlich ist das, was jetzt Mac donald ünd TaweS tun, doch dasselbe, was vor Jahres frist Chamberlain und Briand taten. Nur die Vor zeichen sind andere geworden. Damals wollten sich England und Frankreich gegen Amerika einigen, heute versucht England, mit Amerika ins Reine zu kommen. Frankreich und England erstreben zwei grund verschiedene Tinge: England will Ausgaben für Rüstungen sparen, um seine alte wirtschaftliche Macht stellung zurückzuerobern, Frankreich dagegen will Europa „einigen", um die jetzigen Machtverhältnisse zu versteinern. Deutschland verfolgt ein drittes Ziel: die Ver teidigung und Durchsetzung des Rechtes aus Entwick lungsfreiheit! Hoffentlich gelingt es, in einer außenpolitisch so bewegten Zeit Innenpolitik mit Zurückhaltung zu machen. Ueberraschungen in dieser Hinsicht kann es im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags geben, dann nämlich, wenn auch die zweite Lesung des Gesetz entwurfs über die Reform der Arbeitslosenver sicherung mit einem Mißerfolg endet. Neuer Anschlag in Lüneburg. Bomdenexplosion im Regicrungsgcbäude. — Erheb liche Berwüstungen. — Lie Later unbekannt. — Lüneburg, 7. September. In der Nacht zum Freitag explodierte in Lüne burg abermals eine Bombe, diesmal neben dem Haupt eingang zum Regierungsgebäude. Tie Explosion wurde von einem gewaltigen Knall begleitet. Tie Spreng wirkung der Bombe war groß, die Berwüstungen an den Gebäuden sind verheerend. Personen sind glück licherweise nicht verletzt worden. Bon den Tätern fehlt bisher jede Spur; au den Nachforschungen der Polizei nehmen auch zwei Berliner Kriminalbeamte teil. Ueber den Hergang des Sprengstofsanschlags wer den noch folgende Einzelheiten berichtet: Ein Pfeiler des Kellerfensters, in das die Bombe hineingelegt worden war, wurde herausgerissen. Tie Bruchstücke flogen 2S Meter weit an die gegenüber liegende Rathauswand «nd hinterließen dort deutlich sichtbare Spuren. Fast sämtliche Fenster des Rat hauses, des Regierungsgebäudes sowie zahllose Fenster anderer benachbarter Gebäude wurden zertrümmert. Teilweise wurden die Fensterrahmen durch den Luft druck eingedrückt. Tie Wirkung der Bombe ging «ach oben und durchschlug das KellergewSlbe. In dem dar über liegenden Burean des Bezirksausschusses wurden starke Berwüstungen angerichtet. Ein Schreibtisch ver sank halb in der klaffenden Fußbodeuöffnung. Tie meterhoch mit Akten angefüllten Regale sind wüst durcheinander geworfen. Ta die Lüneburger Regierung seit einigen Tagen Äamit beschäftigt ist, in einen Neubau umzuziehen, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß sich Unbefugte bei dem Umzug der Regierung unter die Transport arbeiter gemischt haben und zu gegebener Zeit die Bombe im Keller anbrachten. Interessant ist auch eine Wahrnehmung des Regierungspräsidenten, daß sein kleiner Hund gegen 20 Uhr das am meisten durch die Explosion in Mitleidenschaft gezogene Fenster ver bellt hat. Einer späteren Meldung zufolge ist der Anschlag auf das Rcgicrungsgebäude in genau der gleichen Weise inszeniert worden, wie seinerzeit der Anschlag ans das Hans des Rechtsanwalts Strauß. Durch die Ex plosion sind zahlreiche Wasserlcitungörohre im Re- gier«ngsg«bä»lde beschädigt worden, so daß mehrere Räume überschwemmt wurden. Ter Regierungspräsident aus dem Bett geschleudert. , Regierungspräsident Herbst erzählt, daß er und seine Familie in tiefstem Schlaf lagen, als eine starke Detonation erfolgte. Von dem Luftdruck wurden nicht ! nur die Fensterscheiben in seiner Wohnung und auch , in feinem Schlafzimmer eingedrückt, sondern er selber § wurde aus dem Bette geschleudert. Ter amtlich« Bericht über den Sprengstoffanschlag teilt noch mit, die Zu sammensetzung der Sprengstoffladung ähnele der der bei den vorhergehenden Anschlägen verwendeten Bom ben. Es wird die Vermutung ausgesprochen, daß die Attentäter es auf die im ersten Stock befindliche Woh- ' nung des Regierungspräsidenten Tr. Herbst abgesehen hatten. Ueber die Wirkung der Explosion wird amtlich noch mitgeteilt, daß die Decke des Kohlenkellers zer trümmert ist. Unmittelbar nach der Explosion wurde der Tat ort abgesperrt. Polizeipräsident Wentkcr leitete di« Ermittlungen persönlich. Man alarmierte sämtliche Polizei- und Landjägerstatione« und ordnete die Neber- wachung der Elbübergänge an. * Ter Anschlag auf das Regierungsgebäude in Lüneburg ist, wenn man die Sprengstoffanschläge aus den letzten Wochen des Jahres 1928 hinzuzählt, der elfte seiner Art. Wer immer auch die Täter seien, die gleichmäßige Art der Ausführung dieser Anschläge spricht dafür, baß man es in allen Fällen mit ein und derselben — sicher sehr kleinen — Gruppe zu tun hat. Harmlos sind diese als Demonstrationen gedachte Aktionen nicht, wenn es auch bisher ohne Verluste an Menschenleben abging. Deutschland kommt durch die Mtentats-„Bewegung" in einen ähnlichen Ruf, j wie die LänLer in der Vorkriegszeit, in denen nM Thnannt Politik gemacht wurde. Verficherungsreforrn ist dringlich. Der Präsident der Reichsanstalt mahnt, di« New- regel««« z« beschleunigen. Die Verzögerung der Reform der Arbeitslosen- Versicherung hat den Präsidenten der Reichsanstalt Dr. Syrup veranlaßt, bet allen zuständigen Stellen auf eine schnelle Durchführung der Neuregelung zu drängen. Jeder weitere Zeitverlust erschwere die Lage der Reichs anstalt in finanzieller und verwaltungsmäßiger Hin sicht. Es bestehe die Gefahr, daß die ReichsanstaU im Winter wiederum erhebliche Darlehen aufnehmen müsse. Es sei auch zu bedenken, daß mit dem 30. Sep tember die gesetzliche Regelung für die berufsüb liche Arbeitslosigkeit, die im letzten Winter der ReichS- anstalt eine Ausgabenverminderung um rund 130 Mil lionen ermöglichte, automatisch außer Kraft tritt. Schon jetzt aber beginne die Kurve der Arbeitslosigkeit ihren saisonmäßigen Anstieg zu nehmen. Kirchenführer auf der Wartburg« Ter Reichsinnenminister begrüßt die KirchenkonferevK — Ansprache deS StaatSministers Paulßen. Anläßlich der internationalen Kirchenkonferenz in Eisenach fand in der Wartburgkapelle ein Gottesdienst statt. Tie Predigt hielt der sächsische Landesbischof v. Ihmels, der die heilige Verpflichtung des Christen tums betonte, an der Durchdringung auch des öffent lichen und wirtschaftlichen Lebens und des Lebens der Völker mit den Kräften des Christentums zu arbeiten« An den Gottesdienst der von Gesängen der Eise nacher Kurrende umrahmt war, schloß sich ein ge selliges Beisammensein in den Wartburggaststätten. Namens der thüringischen Staatsregierung begrüßte Staatsminister Dr. Paulßen „auf der heiligsten Stätte Thüringens" die Gäste. In bedeutsamen Aus führungen wies er darauf hin, daß die Trennung von Staat und Kirche nicht bedeute, daß der Staal nun neben der Kirche lebe und gleichgültig gegen ihr Schicksal sei. Ter Staat müsse vielmehr größten Werl daraus legen, daß die Kirche auch in der neuen Zeit ihm Freundin und Helferin bleibe. Mit warmen Wor ten bekannte sich der Minister zu dem Ziel der Wett- konsevenz für praktisches Christentum. Den Gruß der Wartburg-Stiftung und der Wart burgstadt überbrachte Oberbürgermeister Dr. Jans son. Den Dank der Kirchenkonferenz brachte der frühere Vorsitzende des amerikanischen Kirchenbundes v. Cadman-New York zum Ausdruck. Er wies darauf .hin, daß Deutschlands Gabe an die Welt nicht allein in Burgen bestehe, sondern in den unvergleichlich geistigen Gaben, an die die Wartburgstadt durch die Namen Luther und Johann Sebastian Bach erinnere. Am Abend nahm der Fortsetzungsausschuß der Weltkonserenz, die große siebziggltederige Körperschaft, die mit der Wetterführung des Einigungswerkes be auftragt ist, unter dem Vorsitz v. Cadmans seine Be ratungen auf. Ter Reichsminister des Innern, Severing, und das Auswärtige Amt sandten der Kirchenkonferenz Be grüßungsschreiben. Der durch Krankheit serngehaltens schwedische Erzbischof Soederblom hatte in einem Te legramm feine Anteilnahme an den Beratungen zum Ausdruck gebracht. Deutschland im Haag. Rundfunkrede des Reichswirtschaftsministers Tr. CurtiuS. Reichswirtschaftsminister Tr. Curtius, der der Deutschen Volkspartei angehört, sprach im Rundfunk über das Ergebnis der. Haager Konferenz. Die deutsche Delegation, so führte der Minister aus, habe im Haag die Räumung des Rheinlandes und die Ersetzung des Tawesplans durch den Youngplan erreichen wollen. Minister Tr. Curtius fuhr fort: Das einzige Zugeständnis, die Veränderung in der Staffelung der ungeschützten An- nuität, erhöht weder unsere jährlichen Leistungen auch nur um emen Pfennig, noch setzt es den Durchschnittsbettag der ungeschützten Annuität herauf. Mit der Inkraftsetzung Noungplanes werden die bestehenden Kontrollen "^gültig beseitigt. Die Reparationskommission wird endgültig ihrer Rechte über Deutschland enthoben. Die Summen, di« Deutschland jährlich zu leisten haben wird, werden durch den Aoungplan um ein« halbe Milliarda und darüber in den ersten 5 Jahren um über 700 Mil- Nonen herabgesetzt. Diese Beträge werden in erhebüchem Matze zur allgemeinen Erleichterung der Wirtschaft dienen. Daneben wird es voraussichtlich möglich U"' die Land Wirtschaft votl der ihr durch den Dawe^lan au^ erlegten besonderen Last der Tilgung der Rentenmarkschelns zu befreien. Die wirtschaftliche MreiuM des deutschen Volkes wird gekrönt durch di« spätestes Ende Ium 19-10 durchzuführende völlige und endgültig« Erlösung beS M-inlandeS Rhetnlann"troll«^aAuwehren? und"äiüerlei Uber den Locarnovertraa hinaus zu über« nchmen^^ Verhandlungen über einezeiflgere Rückgllederuno des Sa ar gebiet« s iverden mit Frankreich mit Be- eine Vereinbarung, di« es der deutschen Regierung wieder schleunigung aufgenommen werdem. Die GrrmdLagen für ermöglich«" wird, mit freiem Boll aus fteft« Grund »u stehen, s nd im Haag aelegt worden. Ihre Vollendung werden sie im Oktober der der Fortführung der Konferenz erfahren. ...