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zu gehen. Der Doktor empfing sie selbst. Untersuchung war nicht nötig. Er wußte alles. Sein Bruder hatte ihm alles berichtet. Ruhe hatte sie nötig für ihre gemarterte Seele, weiter nichts. Er wies ihr selbst das Zimmer an, in welchem sie wohnen sollte. Ein Zimmer mit großem Balkon, nach dem Park zu gelegen. Ida fühlte, hier war die ersehnte Ruhe... Nach Schluß der Gerichtsferien sollte die Schwur gerichtsverhandlung gegen Westphal beginnen. Nun war man schon mitten im Herbst, und sie stand noch aus. Es war nun aber jeden Tag mit der Festsetzung des Ter mins zu rechnen. Lotte dachte mit viel Sorge daran, daß man Ida als Zeugin laden würde. Das würde sie wieder aus ihrer Ruhe reißen. Auf den zwanzigsten Oktober wurde der erste Verhandlungstag festgesetzt. Es kam aber nicht zur Verhandlung, denn Westphal, aus Furcht vor der weltlichen Strase, floh zu seinem gött lichen Richter... Lotte fuhr nach Blankenburg, um Ida den Tod West phals mitzuteilen. Es war an einem warmen stillen Herbstnachmittag, als sie in Blankenburg eintraf. Doktor Goldmann holte sie von der Bahn ab. Aus dem Wege von der Bahn zum Sanatorium fragte sie ihn, ob er von dem Selbstmord Westphals in der Zeitung gelesen habe? Er bejahte es. „Weiß meine Schwester davon?" „Nein, ich habe es ihr nicht gesagt, und Zeitungen be kommt sie noch nicht zu lesen. Sie sind gewiß gekommen, um ihr die Nachricht zu bringen, Frau Geyer?" „Ja, Herr Doktor." „Bitte bringen Sie sie ihr möglichst schonend bei. Aus eine heftige Gemütsbewegung können wir uns bei ihr gefaßt machen." Lotte versprach, sehr vorsichtig zu sein. Doktor Gold mann bezeichnete ihr den Platz, an dem sich Ida in den Nachmittagsstunden aufzuhalten pflegte. Sie war schon ziemlich bis zu diesem Platz vor gedrungen, als Ida sie gewahrte. Mit einem leisen Freudenschrei eilte sie Lotte entgegen. Aber gleich kam ein angstvoll forschender Ausdruck in ihre Augen. „Es ist doch nichts Schlimmes passiert, Lotte?" „Nein, Ida — nichts Schlimmes." Sie setzten sich nebeneinander aus die Bank, die tief im Grünen stand. Ida schob ihren Arm durch den Lottes. „Ist es hier nicht schön?" fragte sie leise. „Sehr schön, Ida." „Und daß du bei mir bist, Lotte, ist schönI" Sie preßte Lottes Arm fest an sich. Lotte sollte von Hause erzählen. Da war nicht viel zu erzählen. Der Mutter ging es gut, sie und Anna Bruck arbeiteten fleißig. Trostlos war das, was Lotte durchgemacht hatte, trost los war das Schicksal Idas; trostlos das der kleinen Nora, deren Mutter, nachdem alle Versuche, zu ihrem Geld zu gelangen, gescheitert waren, mit einem reichen Ruffen, den sie in einem Pensionat kennengelernt hatte, auf Reisen gegangen war, ohne nach i^rem Kinde zu fragen. Aber wie alles vorübergehl, ging auch diese Trostlosig keit vorüber. Ida, die bis zum Winter im Goldmannschen Sanatorium gelebt, war zu der alten Frau Goldmann ge zogen, in deren Hause sie einen Platz als Stütze gefunden hatte. Sie fühlte sich geborgen in der Nähe der alten warmherzigen Dame. Nora lebte im Hause Lottes. Und Lotte selbst versuchte in angestrengter Arbeit zu vergessen, was das Leben ihr an Schwerem gebracht. Sie war jetzt täglich im Geschäft, hielt das Personal gut im Zuge und hatte Kopf und Hände überall. Die Angestellten nannten sie unter sich noch immer „Lotte Menkin", aber sie -^zollten ihr viel Achtung. Fräulein Krögel sagte, so oft man es hören wollte, von ihr: „Das muß man der Lotte Menkin lassen, tüchtig ist sie und gerecht ist sie auch. Und was sie gar nicht ist: nach tragend. Ich habe sie einmal tüchtig schikaniert, wie ich bemerkte, daß Geyer ein Auge auf sie hatte. Als ich sah, daß die Sache ernst wurde, sagte ich mir: Wird die GeyerS Frau, dann fliegst du, Berta Krögel. Sie ist Geyers Frau geworden, ich bin nicht geflogen. Daran könnt ihr sehen, daß Lotte Menkin einen anständigen Charakter hat." Davon waren alle längst überzeugt. Man begegnete ihr respektvoll wegen ihrer Tüchtigkeit; ihre stete Güte und Nachsicht machten sie beliebt. Zuweilen geschah es, daß das Geyersche Kindersräulein mit der kleinen Rosa ins Ge schäft kam, damit die Mutter ihr Kind nicht den ganzen langen Tag entbehren sollte. Dann wurde das kleine blonde Mädel, das mit seinen großen blauen Augen jeden anlachte, von allen gehätschelt und verwöhnt. Ein schönes Kind, darüber waren alle nur einer Meinung, der Mutter Ebenbild; so ein schönes, kluges Kind gab es nicht sobald. Rosa ging ins fünfte Jahr. Schade, daß der Vater es nicht erleben durfte, es so zu sehen. Schade, daß daS Kind ohne Vater aufwuchs! Einige behaupteten: Es wird gewiß nicht ohne Vater bleiben. Lotte Menkin war noch jung, erst siebenundzwanzig! Und viel schöner war sie geworden in den letzten sechs Jahren! Als sie Jakob Geyers Frau wurde, war sie hübsch. Hübsch wie viele Mädchen. Heute war sie eine schöne Frau... * , * Der Kontordiener trat an den großen Doppelschretb- tisch, an dem Lotte Geyer und Goldmann arbeiteten, um zu melden, daß Frau Professor Donat und Frau Doktor John Frau Geyer zu sprechen wünschten. Lotte glaubte nicht recht zu hören. „Wo warten die Damen?" „Im Privatkontor." „Gut. Sagen Sie ihnen, ich käme gleich." Lotte sah zu Goldmann hin. „Was sagen Sie zu dem Besuch? Ich habe meine Schwägerinnen seit Jahr und Tag nicht mehr gesehen?" Goldmanns Blick ruhte auf ihrem Gesicht. „Sie werden mit einem Anliegen zu Ihnen kommen." Lotte nickte. Ihr Blick ging ins Leere. „Jetzt wird Hanna die Nora von mir zurückfordrrn", sagte sie, und ihre Stimme bebte. „Darauf müßten Sie doch vorbereitet sein, Frau Geher." „Ich habe mir gesagt, daß der Augenblick kommen muß. Nun er da ist, findet er mich nicht bereit." Goldmann begriff nicht. Sie hatte ein eigenes Kind, was konnte ihr das fremde sein? „Ich habe das Kind lieb und mich daran gewöhnt; eS wird mir schwer, es herzugeben." „Soll ich mit Frau Donat darüber sprechen, vielleicht, daß sie es Ihnen überläßt." „Ich weiß nicht", sagte sie zögernd, „es ist vielleicht ein Unrecht, was ich will. Das Kind gehört zu der Mutter." „Bei Ihnen aber wäre es besser aufgehoben. Frau Donats Verhältnisse sind nicht glänzend, daS Kind wird viel entbehren müssen." „Woher wissen Sie?" Er zog die Schultern hoch. „Nun, man hört doch. Auch den Johns geht es nicht gut." Lotte erhob sich. Ihr Gesicht zeigte aus einmal einen entschlossenen Ausdruck. Jakobs Schwestern sollten nicht Not leiden. Hanna und Eva erhoben sich, als Lotte das Zimmer betrat. „Wir haben lange nichts voneinander gehört", sagjs Hanna, „man braucht dich nicht fragen, wie es dir geht. Glänzend natürlich — man steht es dir an."