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Vellage zur Weitzeritz-Zeitung Nr. ISS Donnerstag, am 22. August 1929 98. Jahrgang Chronik des Tages. — Neichsarbeitsmtntster Wtssell begründete im Sozial politischen Ausschuß die Regierungsvorlage zur Soztal- f — Im Haag fand am Mittwoch eine Sechs-Mächte- Besprechung statt. — Der „Graf Zeppelin" hat auf der dritten Etappe seines Weltfluges einen Weg von annähernd 10 000 Kilo meter zurückzulegen. — Sven Hedin, der sich seit einigen Tagen in Stock holm befindet, wird Anfang September in der Berliner Funkstunde von Stockholm aus einen Vortrag über seine Expedition im Inneren Astens halten. Es ist dies di« erste Uebertragung eines Radiovortrages von Stockholm nach Berlm. Familienstreit in Elchingen in Württem berg erstach der Stallschweizer Weber seinen Schwager Jos. Dürr. Dessen Bruder Vinzenz Dürr wurde von Weber schwer verletzt. — Der 65 jährige deutsche Arzt Dr. Schiff hat von Kap Grisnez den Versuch unternommen, den Kanal zu durchschwimmen. Dr. Schiff hatte bererts rn den .letzten beiden Jahren vergeblich versucht, den Kanal zu durch- queren. — Aus Verzweiflung wegen des Todes seiner Frau hat in Kopenhagen ein Arbeiter sich und sein« drei Kinder durch Leuchtgas vergiftet. — Die Grafschaft Glatz ist von neuen schweren Un wettern heimgesucht worden. Deutschlands Vorstoß. Sechs-Mächte-Zusammenkunft. — Haag, 21. August. Tie Lage der Haager Konferenz ist in der letzten Woche immer verworrener geworden. Ein Tag nach dem andern verstrich, ohne daß es zu Entscheidungen in den Fragen kam, zu deren Lösung die Konferenz ein berufen worden ist. Tas große Ministertreffen hat sich in zankende Unterausschüsse und in Privatbespre chungen der Gläubiger aufgelöst, so daß die Haupt fragen darüber zu kurz gekommen sind. Nach dem Gutachten der Sachverständigen soll am 1. September der Tawesplan durch den Uoung- plan ersetzt werden. Im Zusammenhang damit greifen wesentliche Aenderungen hinsichtlich der Form und der Höhe der Reparationen.sowie des Reparations systems Platz. Heute trennen uns nur noch wenige Tage von diesem Termin, und doch war das Schicksal des Doungplans niemals so ungewiß, wie gerade wäh rend der kläglichen Beratungen im Haag! Unsicherheit kennzeichnete die Stunde. Aber Un sicherheit ist immer die größte Gefahr. Und deshalb hat endlich die deutsche Delegation im Haag einen Vorstoß unternommen, um Klarheit zu erzwingen. Es wurde eine Besprechung der sechs Mächte gefordert, die die Konferenz einberufen haben, und die sich nun über das Schicksal dieser höchst unerfreulichen Konferenz schlüssig werden müssen. Mit dem Beginn dieser Sechs-Mächte-Be- sprechung am Mittwochabend war die Konferenz an ihrem entscheidenden Wendepunkt angelangt. Tie Fragen, die unsere Delegation den anderen zur Beantwortung vorlegte, lauteten: Fällt der Doung- plan oder wird er durchgesührt? Was geschieht, wenn der Uoungplan nicht angenommen wird? Soll eine Zwischenlösung getroffen werden und wie soll sie aus sehen? Wie soll die Konferenz fortgesetzt werden und wie verhält es sich mit der Rheinlandräumung? Ein Weg ist für Deutschland nicht gangbar: der YoungPIan darf nicht provisorisch in Kraft gesetzt wer den, während die politischen Fragen offen bleiben. Ohne die Räumung des Rheinlandes kann es auch keine deutsche Zustimmung zu einem „proviso rischen" Uoungplan geben. In diesem Falle müßten wir dann zwar die höheren Taweszahlungen aufbrin gen, doch kann es uns schließlich niemand verwehren, wenn wir, falls Gefahr im Verzüge ist, einen Antrag aus Zahlungsaufschub stellen. Zu Vorleistungen, auch wenn sie das Gewand vorläufiger Zustimmungen tragen, hat in Deutschland jedenfalls niemand mehr Neigung, und das auch schon deswegen nicht, weil Briand noch während der Haager Konferenz Ver sprechungen gegeben hat, die nicht eingehalten wurden Tie fest versprochene offizielle Bekanntgabe des Räu mungstermins ist zweimal ausgeblieben. Taran ändert sich auch dann nichts, wenn man als wahr unterstellt, daß Briand Stresemann gegenüber vertrauliche Mit teilungen über den Räumungstermin gemacht hat. Darauf, daß die Gesamtliquidierung des Krieges im Haag zu Ende geführt würde, hat nach dem Verlauf der ganzen Konferenz seit Tagen niemand mehr hoffen können. Es handelte sich nur noch darum, einen Weg" zu finden, der die erfolgreiche Fortsetzung der Konferenz nach einer kurzen Pause ermöglicht. Tie Verantwortung für die letzte Entwick lung fällt ausschließlich auf die französische Re gierung zurück. Frankreich hatte es in der Hand, durch materiell geringfügige Zugeständnisse England zu be friedigen und damit eine Voraussetzung für erfolg reiche Verhandlungen zu schaffen. So wenig glücklich Snowden zuweilen in der Wahl seiner Worte war, da von, daß er den Uoungplan torpedieren wollte, sollte kein ernsthafter Mensch reden. England forderte ledig lich Verbesserungen, die vielleicht begründet waren, jedenfalls aber innerhalb des Doungplans und ohne eine Neubelastung T--^fchlands hätten durchgeführt werden können. Tie französische Delegation dagegen hat die Räumungsverhandlungen offensichtlich und mit den nichtigsten Vorwänden verschleppt! Tas zur Frage der Verantwortlichkeit auf dieser Konferenz unseres Mißvergnügens. Lie Lage, die sich für Deutschland ergab, war ernst. In Erkenntnis der Gefahren dieser Situation glaubte die deutsche Delegation, in letzter Minute einen Versuch zur Rettung der Konferenz unbedingt machen zu müssen; sie konnte dabei den Trumps ausspielen, daß Englqnd unbedingt seine Truppen aus dem Rhein land zurückztehen wird. England gegen die französische Stimmungsmache. Die englische Delegation im Haag stellt in einer öffentlichen Erklärung fest, Schatzkanzler Snowden habe niemals die Absicht gehabt, den Uoungplan zu tor pedieren und den Dawesplan wiederherzustellen. Eng land habe lediglich um gewisse Abänderungen im Rah men des Doungplans gekämpft. Grundzüge der Sozialreform. Ler Kreis der Nnterstützungsberechtigten. — Elastische Sperrfristen. — Verschärfte Kontrolle. — Einfügung von Strafvorschriften. — Berlin, 22. August. Der sozialpolitische Ausschuß des Reichstags setzte die Beratung der Regierungsvorlage zur Reform der Arbeitslosenversicherung fort und nahm ein Referat des Retchsarbeitsministers Wissell über die Grund, züge der Reform entgegen. Ter neue Gesetzentwurf, der inzwischen im Wort laut veröffentlicht ist, will Mißbräuche in Zukunft unter anderem dadurch ausschließen, daß er den Be griff der Arbeitslosigkeit eindeutig klärt. Da durch soll verhindert werden, daß Personen Arbeits losenunterstützung bekommen, die in Wirklichkeit gar keine Arbeitnehmer sind. Geringfügige Beschäftigun gen sollen künftig nur dann versicherungspflichtig sein, wenn sie von Personen, die überwiegend als Arbeit nehmer tätig zu sein Pflegen, berufsmäßig ausgeübt werden. Für unständig Beschäftigte, sowie für Haus gewerbetreibende und Heimarbeiter sollen Sondervor- schrtften erlassen werden, die den besonders gearteten Arbeitsverhältnissen der Gruppen Rechnung tragen. Tie Sperrfristen sollen künftighin nicht starr aus vier Wochen festgesetzt werden, sondern elastisch sein und zwei bis acht Wochen betragen. Tas Verfahren für die Gewährung der Unterstützung wird verbessert. Für den Fall, daß die Voraussetzungen zum Bezug der Arbeitslosenunterstützung nicht vorgelegen haben, kann die Unterstützung von Amts wegen entzogen werden. Lie Kontrolle wird durch das neue Gesetz ver schärft. So mutz sich der Arbeitnehmer anch während der Sperr- nnd Wartefrist beim Arbeitsamt melden. Arbeitgeber, die vorsätzlich oder fahrlässig in einer Be scheinigung falsche Angaben über das Beschäftigungs- Verhältnis machen, können bestraft und für die Er setzung des Schadens in Anspruch genommen werden. Die Entlastung der Neichsanftalt. Eine Entlastung der Reichsanstalt sollen in der Hauptsache die Vorschriften über die Wartezeit und die berussübliche Arbeitslosigkeit bringen. Lie Wartezeit soN künftig nicht im allgemeinen sieben Tage betragen, sondern nach dem Familienstände gestaltet sein, so datz Arbeitslose ohne zuschlagsberech- tigte Ungehörige eine Wartezeit von 14 Tagen, solch« mit ein, zwei oder drei Angehörigen eine Wartezeit von sieben Tagen und solche mit vier oder mehr An gehörigen eine Wartezeit von drei Tagen zurückzulegen habe«. Tie Arbeitslosen der Lohnklassen VII bis XI sollen während einer berufsüblichen Arbeitslosigkeit die volle Unterstützung nur dann erhalten, wenn sie in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung mehr als 52 Wochen in einem Zusammenhang gear beitet haben, der durch die Unterstützung nicht unter brochen war. Wartegelder nnd Ruhegehälter sollen in Zukunft anf die Arbeitslosenuuterstütznng angerechnet werden. Ebenso in gewissem Umfange die Renten der Sozial versicherung. Tie Beiträge zur Krankenversicherung der Arbeitslosen, die die Reichsanstalt bestreiten mutz, werden herabgesetzt. Trotzdem schwierige Ausbalancierung. ? Tie übrigen Bestimmungen des neuen Entwurfs ind bekannt. So z. B. die Erhöhung der Beiträge : rm '/s Prozent und die Befristung der Gültigkeit der ! öeitragserhöhung bis zum 31. März 1931. Kritik vird an dem Entwurf von rechts und links geübt, erner ist zu beachten, datz der Etat der Arbeitslosen- , lersicherung auch durch die Regierungsvorlage noch ! nicht ins Gleichgewicht gebracht wird; es fehlt vtel- nehr noch Deckung für Ausgaben in Höhe von 47 Mil- ' lionen Mark. Ta sich ferner die Reform erst nach § and nach auswirkt, wird befürchtet, datz die Ärbeits- i losenversicherung im kommenden Winter auf jeden Fall noch einen Fehlbetrag von 100 bis 110 Millionen ! Mark zu verbuchen haben wird. ' ' Beginn der Städtetagung. Tie «nd kulturellen Aufgaben der Klein- und Mittelstädte. j Nach einem festlichen Begrützungsabend wurden ; am Donnerstag in Kiel die sachlichen Beratungen ' der Mitgliederversammlung des Reichsstädtebundes, der - Spitzenorganisation der deutschen Klein- und Mittel- 1 städte, mit einer Begrüßungsansprache des Bundes- ! Präsidenten Oberbürgermeister Dr. Belian eröffnet. ' Unter Hinweis auf die Umgemeindungen im Westen ! betonte Dr. Belian, der Reichsstädtebund benutze die Tagung, um einen Appell an das ganze deutsche Volk zu richten für die im Interesse des allgemeinen VolkS- wohlS gelegene Erhaltung der Selbstverwal- tung der Klein- und Mittelstädte. TaS erste Referat über: „Die sozialen Auf gaben der Gemeinden", hielt Erster Bürger meister Stoll-Fürstenwalde. Redner führte aus, dis öffentlich-rechtliche WohlfahrtSplege sei schon der Kon trolle wegen gegenüber der privaten das überlegens Prinzip. Ter Vorwurf, daß die gemeindliche Wohl fahrtspflege zu schematisch sei, treffe für die Mittel und Kleinstädte, in denen sich die Menschen persönlich kennen, nicht zu. Redner unterbreitete dann Vorschläge zum Ausbau der Wohlfahrtseinrichtungen und setzte sich unter Ablehnung der Mietskaserne für die tat kräftige Förderung des Wohnungsbaues ein. Ueber die kulturellen Aufgaben der Gemeinden sprach Landtagsabgeordneter Steffen. Er erklärte, die mittleren und kleinen Städte hätten durch ihrs Leistungen, besonders für das Schulwesen, dem Staat viele Aufgaben abgenommen und seien für das um liegende Gebiet zu kleinen Kulturzentren geworden. Wirtschaftspolitik und Kulturpolitik seien nicht Gegen sätze, sondern zwei Seiten derselben Äusbaupolitik. Nun bei dauernder Entwicklung unserer geistig-sittlichen Kräfte könne die Wirtschaft blühen und Deutschland wieder zur Weltgeltung emporsteigen, die selbstver waltende Tätigkeit der Städte nicht so beschränkt wer den, daß ihnen die Freude an ihrem Schulwesen unh da»»>t die produktive Initiative verloren gehe. Artilleriekampf in Ostasten« Ei« russischer Panzerzug bombardiert Mandschurin. China räumt Grenzstationen. Tie englische Presse gibt Berichte des amerika nischen Konsuls in Charbin wieder, denen zufolge die chinesischen Truppen verschiedene Grenzstationen we gen der ständigen Uebergrisfe russischer Vorhuten ge räumt haben. Ferner ist von einem russischen Vor marsch die Rede. Russisches Militär soll an verschie denen Stellen den Amurflüß überschritten und chine sisches Gebiet besetzt haben. Einer späteren Meldung zufolge näherte sich ei» russischer Panzerzug iu langsamer Fahrt der Grenz station Mandschurin bis anf einige 400 Meter «nd er öffnete dann ans seinen Feldgeschützen das Feuer gegen die chinesisch« Stellung. Infanterie- nnd Ma schinengewehrabteilungen schwärmten ans dem Zug nach beiden Seiten auS und beschossen daS Stations gebäude «nd die Stadt. Lie chinesische Artillerie er widerte das Feuer und beschädigte den Panzerzug. Tas Feuergefecht dauerte etwa zweieinhalb Stunden, wonach der russische Panzerzug zurückfuhr. Tie chi nesischen Truppen, die unter Deckung ihrer Artillerie einen Vorstoß gegen den Panzerzug unternahmen, wol len einige Maschinengewehre erbeutet haben. Bon chinesischer Seite werden Nachrichten ver breitet, die von Zwischenfällen auch in anderen Grenz abschnitten berichten. So soll es in der Nähe von Dailat Nor zu mehrstündigen Gefechten gekommen sein, bei denen zwei chinesische Offiziere und 25 Mann ge tötet wurden. In Tokio beurteilt man die Zwischenfälle im Grenzgebiet ruhig. Man verweist darauf, daß sich gegenwärtig in der Mandschurei zahlreiche dunkle Exi stenzen herumtreiben und meint, unter diesen Umstän den dürfe man Feuergefechte an der Grenze meist nicht tragisch nehmen. In der Hauptsache handele es sich wohl um Bandenkämpfe. Politische Rundschau. - Berlin, den 22. August 1929. :: Wiesbaden gegen neue Besetzung. Mit Rück sicht auf verschiedene, die Bevölkerung stark beunruhi gende Presse-Meldungen, denen zufolge nach Abzug der englischen Besatzung Wiesbaden eine neue Be setzung durch belgische Truppen erhalten soll, hat der Magistrat Wiesbadens sich an den Reichsaußenminister Dr. Stresemann mit der dringenden Bitte gewandt, die ohnehin schon sehr stark geschädigte Kurstadt vor dieser Verlängerung der Besatzung, die eine neue wirt schaftliche Katastrophe bedeuten würde, zu bewahren. * Der tschechische Ministerrat hat die Verlandung der Bündnisverträge der Kleinen Entente gebilligt. * Der Wilnaer Emigrant AlsauSkas, der eine Höllen maschine über die Grenze schmuggeln wallte, wurde tu Litauen zum Tode verurteilt und erschossen. Macdonald für eine allgemeine Abrüstungskonferenz. * Der englische Ministerpräsident hat den Zeitungen eine kurze Erklärung über die verschiedenen Besprechungen gegeben, die er in diesen Tagen wieder mit dem amerttan^ schen Botschafter Dawes in seinem Heimatödorf Loß emouth Seeabrüstungskonferenz. Allianz übernimmt Frankfurter. «eine Gefahr mehr für die Versicherten. — Gründung einer neuen GefeNschast. Die Verhandlungen zwischen dem Allianz-Konzern und der in Schwierigkeiten geratenen Frankfurter AN-