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Nun tat er ihr doch leid. Sie sah seine Angst, sie ahnte, daß etwas nicht in Ordnung war. Westphal ging im Zimmer auf und nieder. Er war nun allein. Die Mutter war in ihrer Wohnung. Ida hatte er weggeschickt, auch der Bote war nicht mehr da. Wenn er diese Gelegenheit wahr nahm, um aller Not ein Ende zu bereiten? Er besaß einen Browning; aber wo war dieser? Irgendwo in einem Kasten mußte er liegen. Er ging ins Schlafzimmer, ritz hintereinander alle Schubladen, Waschkommode und Nacht tische auf, und wühlte sie durch, ohne ihn zu finden. End lich entdeckte er ihn auf Idas Nachttisch. So aufgeregt war er, daß er den Revolver, der ganz offen dalag, übersehen hatte. Er fragte sich nun nicht mehr, ob er es tun sollte; er war fest entschlossen dazu. Als er aber eben das Magazin öffnete, um zu sehen, ob das Ding geladen sei, trat Ida ins Zimmer. Sie hatte die Korridortür so lautlos auf geschlossen, daß Westphal sie nicht gehört hatte. Er er schrak heftig, als sie so plötzlich vor ihm stand. Auf seiner aschfahlen Stirn stand der Schweiß. Ohne Widerstand lietz er es geschehen, daß Ida ihm den Revolver abnahm. Während sie diesen im Schubkasten der Kommode ver schloß, sagte sie ruhig: „Geyer erwartet dich; er muß eines Geschäfts wegen nach Oberschlesien reisen und will, daß du ihn begleitest." „Wie — was?" fragte er, und hielt die Lehne eines Stuhles gepackt, als suche er an dieser Halt. Auf seinem Gesicht wechselten Röte und Blässe. War es denn möglich: er sollte mit Geyer auf die Reise gehen? Es war nichts geschehen — noch nichts geschehen? Er konnte noch gar nicht daran glauben. „So geh' doch, Geyer wartet", trieb Ida ihn an. Er mußte sich umkleiden. Hastig und mit unsicheren Händen tat er es. Die Angst in ihm meldete sich wieder. Vielleicht war das nur eine Falle! Wenn er kam, standen vielleicht schon die Kriminal beamten da, um ihn in Empfang zu nehmen. Geyer hatte einmal zu ihm gesagt: „In geschäftlichen Dingen nehme ich es sehr genau, gegen unzuverlässige Angestellte bin ich unnachsichtig." Er dachte jetzt daran. Aber sich jetzt damit zu quälen, war töricht. Kam es zum Aeußersten, so konnte er ja noch immer tun, woran Ida ihn eben gehindert. Lotte bekam telephonischen Bescheid, daß sie nicht vor Abend ans ihre» Mann warten.solle, er und Westphal hätten viel im Geschäft zu tun. Am Nachmittag kam Herr Goldmann in die Geyersche Wohnung. Er traf Mutter Menkin und Ida bei Lotte. Die Frauen, die ihn vom Geschäft her kannten, wollten gehen, um ihm nicht zu be gegnen, aber sie liefen ihm gerade in die Arme, als sie aus dem Zimmer hinaus und er und Lotte hinein wollten. „Nun ich komme, werden Sie doch nicht fortgehen?" Lotte bat auch, daß die Mutter und Schwester blieben. Nora war noch immer in ihrem Hause und Lotte zitterte vor dem Augenblick, da man sie abholen würde. Sie Wollte dann nicht allein sein. Sie gingen alle ins Zimmer, wo der Teetisch gedeckt stand. Goldmann war ost in diesem Zimmer gewesen, aber so traulich wie heute war es ihm nie erschienen. „Sie haben es hier behaglich, Frau Geyer — es war hier nicht immer so." Mutter Menkin freute das Lob, das er Lotte zollte. Lotte selbst beachtete es kaum. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Von jeher hatte sie Goldmann geschätzt. Immer hatten sich Fäden tiefer Sympathie von ihr zu ihm gesponnen. Aber heute war ihr seine Anwesenheit nicht bequem. Sie wäre gern mit Mutter und Schwester allein geblieben. Goldmann erzählte den Frauen vom Geschäft. Ida staunte im stillen, wie gut er im Geschäft Bescheid wußte, und beim Personal der Firma galt er nichts. Ob man Goldmann nicht unterschätzte? Noch eins staunte sie an: daß man ihn immer den Alten nannte, der war doch noch Fast eine Stunde zu früh waren Geyers auf dem Schlesischen Bahnhof eingetroffen. Nun saßen sie in dem Wartesaal zweiter Klasse, und Geyer fiel in der Oede deS Wartens immer Neues ein, daS er seiner Frau auftrug. Das war beinahe so, als wollte er für alle Zukunst Be stimmungen treffen. gar nicht so alt? Gewiß war er nichi Stter als Geyer. Und ein sehr liebenswürdiger freundlicher Mensch war er. Die im Geschäft kannten ihn gewiß gar nicht. Sie sah ihn auch heute erst im rechten Licht. Soldmann wendete feine Aufmerksamkeit ihr zu. Er richtete öfter das Wort an sie. Was zwischen ihnen ge sprochen wurde, betraf das Geschäft. Ida dachte: warum fragt er mich nicht nach meinem Mann, er kennt ihn doch? Sie fand das verdächtig. Gewiß hielt Goldmann nicht- von ihm. Einmal sah er sie mit einem Blick an, der Be sorgnis verriet. „Mir scheint, seit wir uns das letzte Mal sahen, find Sie schmal und blaß geworden. Sie sollten einmal sür ein paar Wochen aus der Stadt heraus und aufs Land gehen." Ueber Idas Gesicht flog eine Helle Röte. „Es reicht nicht dazu", sagte sie. Und dann erschrak sie über ihre eigenen Worte. Lotte konnte sie ihr übel nehmen. Goldmann erzählte, daß seine Mutter in Blankenburg am Harz ein Landhaus habe, in welchem sie leider ganz allein lebe. Sie wäre dankbar für Gesellschaft. „Was ist, hätten Sie nicht Lust, meine Mutter für ein paar Wochen zu besuchen?" Oh, Lust hätte sie schon, aber... Er ließ kein Aber aufkommen. „Ich schreibe meiner Mutter, daß sie Sie elnladen soll." Während Jakob Geyer mit Goldmann die geschäft lichen Dinge besprach, war Lotte zu ihrer Mutter ge gangen, und dort hatte sie Hans getroffen. „Lotte, darf ich eine Frage an dich richten, die mich lange quält?" Sie hob den Blick zu ihm. „Frage, Hans." Er sah auf sie nieder. In seinem Gesicht stand ein tiefer Ernst. „Lotte, sag' mir, ob du glücklich bist?" Er nahm ihre Hände, die zaghaft die seinen suchten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Sag'S mir, Lotte", bat er leise. Sie schüttelte k«um merklich den Kopf. Von ihrem Leid konnte sie auch zu ihm nicht sprechen, den sie liebte. Er neigte sich zu ihr herab und ihren Kopf an seine Schultern pressend, hielt er sie fest. „Lotte, Herrgott, Lotte, ich ertrage das nicht mehr — ich gehe daran zugrunde! Ich liebe dich so über alles und soll dich einem Manne lassen, den du ja nicht lieben kannst. — Sag' es mir, Lotte, daß du ihn nicht liebst." Sie brachte es nicht über ihre Lippen. Ihre Hände krampften sich fest um die seinen. „Ich bin so einsam, Hans." Wie ein leises Schluchzen entrang eS sich ihr. Sie hätte ihm auch das nicht zu sagen brauchen, er hatte eS auS ihren Augen gelesen. Er hielt sie im Arm, sah " ihr Gesicht. Unter ihren geschloffenen Lidern hervor rollten Tränen; er küßte sie weg. Er küßte ihren leicht-zuckenden Mund. „Nun können wir so nicht welterleben", hatte er ihr später beim Abschied gesagt, „wir würden daran zugrunde gehen." Ihr gingen die Worte nicht auS dem Ohr. In den langen schlaflosen Nachtstunden hörte sie sie. Sie hörte sie während des folgenden Tages. Sie hörte sie, wenn sie mit ihrem Manne sprach — sie tönten ihr im Ohr, wenn sie ihr Kind im Arme hielt. „Wir würden daran zugrunde gehen!"