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Beilage zur Wetfleriy Zeitung Nr. 174 Montag, am 29. Juli 1929 95. Jahrgang Chronik des Tages. — Der französische Staatspräsident hat den Rücktritt der Regierung PoincarSs angenommen. — Im Zusammenhang mit dem Ulitzprozeß dürft« Deutschland Vorstellungen in Warschau erheben. — Die Staatsanwaltschaft wird gegen das Urteil im Stinnesprozeß im vollen Umfange Berufung einlegen. — Die „Bremen" befindet sich auf der Rückreise nach Deutschland. — Das Luftschiff „Graf Zeppelin" hat nach fast zwei monatiger Unterbrechung seine Probefahrten wieder arts genommen. — In der Nähe von Horst am Ostseestrand sind zwei Todesopfer des Koserower SegelbootungkückeS geborgen worden. — Die Explosion an Bord des englischen Kreuzers „Devonshire" hat 13 Todesopfer gefordert. Abschied von PoincarL. — Paris, 29. Juli. Wenige Tage vor dem Beginn der großen poli tischen Konferenz im Haag wurde Frankreich in eins akute Krise versetzt: PoincarS ist zurückgetre ten, das Kabinett folgte seinem Beispiel, der Staats präsident nahm die Demission an, und dann verhan delte man über die Bildung einer neuen Regierung. Das französische Parlament war wenige Stunden ! vor dem Ausbruch der Krise durch ein Regierungs- j dekret zwangsweise in die Ferien geschickt worden. ; Nach dem Bekanntwerden der Ereignisse herrschte ! in Paris Bestürzung. Es begann eine Wanderung : nach der Rue Marbeau, in der PoincarS ein kleines > Landhaus bewohnt. Amtliche Würdenträger und dis ? Freunde des Ministerpräsidenten fuhren vor, gaben « ihre Karten ah und erkundigten sich nach dem Befinden ! Poincares. Schließlich kamen auch Briand und Bar- - thou, um PoincarS zum Verbleiben im Amte zu be- - wegen; ihre Mission blieb jedoch erfolglos. Die erste Gewißheit, die man erlangte, war die, > daß PoincarS als Chef eines neuen Kabinetts nicht ! mehr in Frage kam! Der Gesundheitszustand PoincarSs ist in der Tat schlecht. Ter Ohnmachtsanfall, der den Ministerpräsi denten vor einigen Tagen betraf, war nicht aus Ueber- ! anstrengungen zurückzuführen, sondern er war die Folge eines schweren organischen Leidens. Die Aerzte halten eine Operation für notwendig und wollen am Dienstag den Tag bestimmen, an dem der operative Eingriff vorgenommen werden soll. Ob es aber ausschließlich gesundheitliche Erwä gungen sind, die PoincarS zum Rücktritt bewogen haben, Vas ist denn doch nicht so ohne weiteres zu sagen. PoincarS selbst hatte nach dem Unfall die Wiederauf nahme der Amtsgeschäfte für den heutigen Montag , angekündigt. Hat sich sein Zustand in der Zwischenzeit > bedeutend verschlimmert, oder haben die letzten Poli- ! tischen Ereignisse — z. B. die Zusammenschrumpfung ! seiner Mehrheit auf acht Stimmen — mit zum Rück tritt beigetragen? Darüber, daß der Kabinettswechsel in Frankreich im gegenwärtigen Augenblick von erheblicher Bedeu- ; tung für die internationale Politik ist, gibt es wohl nirgends eine Meinungsverschiedenheit! PoincarS war der starke Mann Frankreichs. Am Kriege war er einer der schärfsten Vertreter der Richtung, dre Elsaß-Lothringen vom Reiche los- reißen wollte und die durch ihre Außenpolitik ganz . erheblich zum Ausbruch des Krieges beigetragen hat. ! NvH Hein Kriege war PoincarS der Repräsentant der Politik der Unerbittlichkeit gegenüber Deutschland. Sein Werk waren nicht nur die unzähligen Nadelstiche und Schikanen, die Deutschland in den Jahren der Vergan genheit erdulden mußte, sein Werk war auch der Ein bruch der französischen Regimenter in das Ruhrgebiet. Tas Urteil des französischen Volles Wer die Ge waltpolitik PoincarSs hat wiederholt geschwankt, mit einem Schlage aber gewann PoincarS seine Autorität zurück, als ihm das Werk gelang, an dem eine ganze Reihe Politiker vor ihm gescheitert waren: die Stabili sierung der französischen Währung, die Stillegung der Jnflationsmaschine! Jetzt steht Frankreich in der Frage der Repa rationen und der Rheinlandräumung aber mals vor schweren Entscheidungen. Der Umstand, daß PoincarS am Ruder saß, veranlaßte die deutsche Po litik, sich auf einen schweren Kampf vorzubereiten. Umgekehrt gab uns die Ministerpräsidentschaft Poin carSs aber auch die Gewißheit, daß die Entscheidung der französischen Regierung vom französischen Kabinett nicht mehr umgestoßen werden würde. Wird jetzt der Regierungswechsel den Kamps etwas erleichtern und die Durchführung der Regierungsbeschlüsse erschweren? Tie Stellung der neuen französischen Regierung ist aus alle Fälle nicht leicht. Sie wird Mühe haben, .ohne Rückendeckung durch PoincarS den Aouna-Vlan und die Vorlage über die Räumung des Rheinlandes in der Kammer durchzubringen. Dazu besteht die Ge fahr, daß die neuen Männer, um der Agitation der Rechtsparteien zu begegnen, sich versucht fühlen können, der öffentlichen Meinung Frankreichs Zugeständnisse zu machen, die die Stellung des Kabinetts erleichtern sollen, die aber gleichzeitig den Erfolg der Regierungs konferenz und die Befriedung Europas aufs schwerste gefährden müssen. Deutschland hat PoincarS als einen hartnäcki gen und unbequemen Sachverwalter der vermeint lichen Interessen Frankreichs kennengelernt, der Rück tritt PoincarSs erleichtert unsere Lage jedoch nicht, sondern schwört neue Gefahren heraus, deren Abwen dung die Ginsetzung aller Kräfte bedingt. Kabinettswechsel in Paris. Tie Gesamtdemission des Kabinetts PoincarS. — Par- teifiihrerempfang. Der französische Ministerpräsident PoincarS hat an den Staatspräsidenten Doumergue ein Schreiben gerichtet, in dem er dem Staatspräsidenten den Vor schlag unterbreitete, angesichts seiner Erkrankung und einer notwendig werdenden Operation, die ihn für einige Monate arbeitsunfähig mache, ihn seines Amtes zu entheben und einen Nachfolger zu benennen. Nach Bekanntgabe des Abschiedsgesuchs PoincarSs unternahm Briand den Versuch, PoincarS zum Ver bleiben im Amte zu bewegen. PoincarS erwiderte ihm jedoch: „Bei meinem Temperament könnte nichts mich hin dern, den Gang der internationalen Regierungskonferenz aufs genaueste zu verfolgen, mir Gedanken zu machen, mich zu beunruhigen. Das ist aber nichts für einen Kranken, der wieder gesund werden will. Ich muß un bedingt vollkommen ausspannen. Ich glaube, daß niemand mir das Recht verwehren kann, wenn ich jetzt etwas an mich selbst denke, denn es handelt sich doch schließlich um mein Leben." Darauf fand ein neuer Ministerrat statt, in ver die Gesamtbemission des Kabinetts beschlossen wurde. Der Staatspräsident nahm den Rücktritt an. - Nach dem Rücktritt der Reaieruna emvttna Staatspräsident Doumergue dle Vorsitzenden der Kam» mer und des Senats und nahm mit einer Reihe be, deutender Politiker über die Bildung eines neuen Kabinettes Fühlung. Raymond PoincarS wurde am 20. August 186ü In Bar-lc-Duc« geboren. Mit 18 Jahren begann er, sich politisch zu betätigen. Zn den 90er Jahren macht« sich PoincarS als Schriftsteller und Advokat einen Nan«nr 34 jährig war er bereits Minister! Der entscheidend« Auf stieg PoincarSs erfolgte 1912, als er nach Caillaux Rück tritt sein erstes Kabinett bildete. Im Januar 1913 wurde er mit 483 von 870 Stimmen zum Präsidenten Frankreichs gewählt. In den Jahren vor dem Kriege sah man Poin carS häufig Begegnungen mit deutschfeindlichen Staats männern suchen. Kurz nach der Rückkehr von einer Reise nach Petersburg brach dann 1914 der Weltkrieg aus. 1922, als Briand zum Rücktritt genötigt wurde, übernahm PoincarS abermals di« Kabinettsbildung. 1923 ließ «r die Franzosen in das Ruhrgebiet marschieren. Sein letztes Kabinett hatte er im November 1928 gebildet; es war eine ausgesprochene Rechtsregierung. * . Das Echo des Kabinettswechfels in Berlin Der Rücktritt der Regierung PoincarSs wui^e in Berlin sehr zurückhaltend beurteilt. Man wollte erst die weitere Entwicklung der Krise abwarten. AM Nachfolger PoincarSs wurde von Anfang an Briand genannt. Im übrigen legt man an zuständiger deut scher Stelle nach wie vor den größten Wert darauf, daß die geplante Regierungskonferenz bei einer schnellen Beilegung der Krise in Frankreich auch jetzt noch am 6. August beginnen kann. nerpcherurtgsreform-Vorschlage Ein Kompromiß ver Sachverständigen. — Erhöhung ver Beiträge um einhalb Prozent. Der parlamentarische Sachvevständigenausschuß für ore Reform der Arbeitslosenversicherung hat nunmehr jeine Arbeiten beendet. Lie Kommission einigte sich vahin, baß die Sai- sonarbeiter auch weiterhin von ver Versicherung zu betreuen sind. Lie Höhe ver Arbeitslosenunterstützung soll jevoch in Zukunft allgemein zu ver Dauer ver vor. anfgegangenen Beschäftigung in Beziehung gerächt werden. Daneben sollen die Saisonarbeiter nur die Unterstützungssätze ver Krisenfürsorge erhalten, unv zwar nach einer Wartezeit von zwei Wochen. Bon den anderen VerhandlungSergebnissen ist her vorzuheben, daß der Begriff der Arbeitslosigkeit im Ge setz bestimmt und damit mit einer Reihe von Unzuträg lichkeiten aufgeräumt werden soll. Für die unständig Beschäftigten, für die nebenberuflich Tätigen und die Heimarbeiter, sollen besondere Regelungen getroffen werden. Weiter schlägt die Kommission vor, die Warte zeit für alleinstehende Arbeitslose allgemein auf zwei Wochen zu verlängern, für Arbeitslose mit großer Familie die Wartezeit auf drei Tage abzukürzen. In den Fällen, in denen das Lohnniveau am Unter stützungsort geringer ist als am Arbeitsort, soll die Unterstützung der Lohnhöhe am Unterstützungsort an gepaßt werden. Boit veu Auswirkungen dieser Maßnahmen wird eme jährliche Ersparnis von ISO Millionen Mark erwartet. Da diese Summe nicht ansreicht, um Vie Anstalt zu entlasten, befürwortete Vie Mehrheit ver Kommission eine befristete Beitragserhöhung um ein- halb v. H. ..... Das Reichsarbeitsministerium will nunmehr nack» Arnold Merten B Modell Roman von Anna Fink >/ ^'opviiglit bx Lov» Nok, DressM-I^ndeeLst, Lrainsrstr. LI " ' X lös. Fortsetzung) Er mußlv -n Gertrud denken. Er hatte im Umgang mit Frauen und Mädchen sicher noch viele Mängel. Aber den Gedanken an Gertrud gab er nicht gern nach. Er hatte nichts wieder von ihr gehört. Er wußte selbst nicht, ob ihm das lieb war oder nicht. So war in ihm ein Gefühl entstanden, Las halb Arger, /alb Bedauern darüber war, daß Gertrud sich so sehr als „spießig", wie er es bei sich bezeichnete, erwiesen hatte. Zu weilen wollte sich der Gedanke bemerkbar machen, ob er wohl etwas zu hart und ungerecht gegen sie gewesen sei. Aber -ann schnitt er diese Erwägungen damit ab, daß er meinte, sie könne auch mal etwas von sich hören lassen. Und im übrigen hatte er überhaupt keine Lust, sich gründlich mit Liesen Untersuchungen aufzuhalten. Er stand wie in einem Wirbel. Lauter neue und unerwartete Aussichten zeigten sich ihm. Die Gräfin hatte recht, man mußte das Glück am Schopfe fassen, wenn es einem überhaupt nur lächelte. Und Lie Frauen, mußte man -te auch am Schopfe fassen? Ge hörten die auch zum Glücke mit Lazu? Das wollte er nicht in diesem Augenblick entscheiden. Jedenfalls wollte er ihnen im Prinzip nicht mehr so ab lehnend gegenüberstehen. Sie liefen einem immer über den Weg. Man mußte auch mit ihnen fertig werden. „Haben Sie nun die Gegend genug studiert", klang eine lachende Stimme an sein Ohr. „Man möchte darauf schwören, daß Sie ein Maler seien, der sich mit einer Winter» abendstimmung zu einem neuen Bilde inspirieren möchte. Sind Sie noch nicht festgefroren? Ich habe mein Pferd schon in Len Stall bringen lasten unö nachgesehen, ob es auch ordentlich besorgt wird. Und nun stehen Sie immer noch da wie ein vergessener Regenschirm. Man muß Ihnen die Träumerei etwas austreiben!" „O", sagte Merten ganz verdutzt, „das habe ich gar nicht bemerkt. Ich war gerade dabet, die besten Vorsätze zu fasten. Nehme» Sie mich nur mit hinein./ * * * > Bet Thorwaldts war alles in Heller Aufregung. Gertrud war am Morgen nicht Sagewesen. Erst glaubte man, Laß Sie vielleicht ein paar Besorgungen gemacht Hätte. Seitdem sie künstlerisch arbeitete, war sie viel freier und selbständiger geworden. Man wußte oft nicht genau, wo sie war. Aber die Mahlzeiten hielt sie immer genau ein, um Sie Mutter nicht zu sehr zu kränken. In ihrem Arbeitszimmer war sie auch nicht. Frau Thorwaldt lief jedesmal zur Korrtdortüre, wenn es klingelte. Ihr war so ängstlich zu Mute. Tante Amalie, Lie gerade gekommen war, suchte sie mit vielen Worten zu trösten. „Das Mädel ist zu selbständig geworden. Sie kommt und geht, wie es ihr beliebt. Ich würde mir -aS als Mutter nicht gefallen lassen." „Ja", sagt« Frau Thorwaldt kläglich, „was soll ich Labet tun? Der Vater ist eben zu nachsichtig. Sie erreicht von ihm alles, was sie will." Seit Gertrud Bildhauerin geworden war, vertrugen sich die beiden Damen etwas Vesser. Sie waren sich beide einig, -aß das Heller Wahnsinn sei. . Aber Herr Thorwaldt hatte nichts zu lachen. Mit stoischer Ruhe ertrug er alle Borwürfe und diesbezüglichen An- »apfungen. Er wollte nun mal gern, Saß sein Mädel etwas Ganzes würde und sah es als seine Aufgabe an, ihr Vie Wege z» ebne». Als Ler Mittag heranrückte und Gertrud immer noch ver- schwunden blieb, wurde auch Tante Amalie unruhig. „Rufe doch lieber Kurt an", meinte sie. „Er wird immer so ärgerlich, wenn ich ihn bei seiner Arbeit störe", sagte Frau Thorwaldt ganz verschüchtert. „Dann tue ich es eben", erklärte Lte Tante energisch. Aber Sa hörten sie, wie der Korridortüre aufgemacht und wieder geschlossen wurde. Thorwaldt war hetmgekommeN. Beide Frauen stürzten hinaus. „Was gibt es denn?" fragte Herr Thorwaldt erstaunt., „Gertrud ist seit heute früh verschwunden", sagten beide wie aus einem Munde. „Nun macht doch keine Witze!" fuhr Herr Thorwaldt auf. Darauf ließ er sich berichten. Auch ihm kam die Sache etwas eigenartig vor. „Weiß Eduard nichts?" fragte er. Nein, Eduard war noch gar nicht aus der Schule zurück und Ler hatte Gertrud morgens auch nicht gesehen. „Das kommt von der schrecklichen Selbständigkeit", weinte Frau Thorwaldt verzweifelt. „O, ich unglückliche Mutter!" „Nun, es wir- sich schon alles zum Guten wen-en", sagte Herr« Thorwaldt trösten-. Aber ihm war merkwürdig be drückt zu Mute, so, als ob das nicht alles harmlos verlaufen würde. Sie standen alle drei im Korridor und machten hilflose Gesichter. Plötzlich klingelte eS. Herr Thorwaldt riß die Türe auf. Da stand ein Dtenstmann und übergab ihm einen Brief. Er warf eine« flüchtigen Blick darauf. Kein Zwetfel, es war Gertruds Handschrift. „Wer gab Ihnen Sen Brief?" fragte er den Man«. „Eine junge Dame in der Stadt. Ich sollte ih«M Mittag Herdringen, hat sie mir eingeschärst." . ^ 7 . 7 .^ ltzortsetMtg folgt)