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lösen Kleide zu zeigen. Aber eS schien doch so zu sein; denn er gewahrte, daß Lotte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhielt. »Kommen Sie bitte mit mir in mein Kontor; ich mutz mal ein vernünftiges Wort mit Ihnen reden.* Lotte folgte ihm schweigend. Nachdem sie sein elegantes Privatkonto! betreten hatte, sagte er lächelnd: «Ich hoffe, Sie wollen uns nur einen Schreck einjagen. Der Posten ist doch gut und einträglich. Was haben Sie gegen ihn einzuwenden?* Als Lotte nicht antwortete, fuhr er fort: „Unsere jungen Damen, die auf dem gleichen Bosten »eben, sind alle hochachtbar.* ' .Das Weitz ich*, sagte Lotte. „Ra also!* Sie sollte Platz nehmen. Er schob ihr einen Sessel in die Nähe seines Schreibtisches. „Fräulein Menlin, überlegen Sie es sich sehr reiflich, ehe Sie die gute Stelle so glatt von der Hand weisen; ich mutz Sie darauf aufmerksam machen, datz jetzt eine große Flaute in der Konfektton ist. Wir haben stets im Hoch sommer die sogenannte Saure-Gurken-Zeit — die floht uns jetzt kurz bevor. Wir müssen uns bei Aufträgen von Lager arbeiten Zurückhaltung auferlegen, also ich kann meine Arbeiterinnen, und angenommen: sie arbeiteten schon fünfzig Jahre für mich, nicht mehr voll beschäftigen. Es werden alle bis zum Herbst, bis neue Aufträge herein- kommen, schwere Zeiten zu bestehen haben. Ich habe schon mit großer Sorge an Ihre Mutter gedacht — ich Weitz, datz sie Witwe ist und drei Kinder hat, also die kommende Arbeitslosigkeit doppelt schwer empfinden wird.* Lotte sah ihn nachdenklich an. Geyer redete zu: „Nehmen Sie Vernunft an, Fräulein Menkin, weisen Sie diese gute Stelle nicht von der Hand. Denken Sie, wie gut es ist, wenn Sie der Mutter helfen können, sorgenlos durch die schwere Zett, die ihr noch bevorsteht, hindurch zukommen.* Sie erhob sich. „Bleiben Sie doch! Ihr Eigensinn macht mir Spaß* „Ich bin nicht hier, um Ihnen Spaß zu machen. Auf Wiedersehen, Herr Geyer!* Er erfaßte ihre Hand, und sie einen Augenblick fest« haltend, fragte er: „Warum kamen Sie neulich nicht selbst, um mir das Geld zu bringen? Ich hatte darauf gerechnet.* „Meine Mutter hat eS Ihnen doch richtig abgeliefert?* „Ja doch, natürlich * Sie hatte ihm ihre Hand entzogen. „Na, was ist. Fräulein Menkin; noch ist Zeit, sich die Sache zu überlegen? Dreihundert Mark monatlich ist kein Pappenstiel* Lotte schüttelte den Kopf. „Und wenn Sie mir tausend Mark geben wollten, ich müßte sie auSfchlagen.* Er zog die Augenbrauen hoch. — „Schade!* Mutter Menkin und Ida waren erstaunt, Lotte so schnell wiederzusehen. „Nun, wo kommst du denn schon her? Nu is doch wohl nichts mtt der guten Stelle?* fragte die Mutter. Lotte verneinte. Sie ging ohne Gruß durch die lange Berliner Stube, in der einige Arbeiterinnen, die die Mutter beschäftigte, über ihre Näherei gebeugt saßen. Sie sahen ihr erstaunt nach. Die war doch sonst nicht so. Was fiel der denn ein? » Stube angekommen, legte sie nur Hut und Jacke ab, setzte sich dann in den alten Rohrsessel, dem ein« -igen, der sich in dem primitiven Raume befand, und die Hände vor ihr Gesicht. Der Schmerz über die «roße Täuschung' die sie erlebt - durch Hans' Schuld errett EAe sich in ekrem lautlosen Weinen Luft. Bon der nächsten Lieferung, die Mutter Menkin be sorgte, kam sie ohne neue Arbeit nach Hause. Sie warf die Liesertücher auf den Zuschneidetisch, und sagte: „Daß de Flaute schon so schnell kommen würde, hält' ich nich jedacht. Nu müssen wir zusehen, Privatarbeit zu kriegen.* Man horchte bei allen Bekannten herum. Es kamen auch kleine Aufträge; aber was man dafür einnahm, reichte nicht zum Leben. Lotte holte fünfzig Mark aus ihrer Kom- mode, die sie sich zusammengespart hatte. Mutter Menkin wollte sie nicht nehmen. Sie hatte nie von ihren Kindern Geld genommen. Lotte redete ihr zu: „Du gibst sie mir wieder, wenn du wieder verdienst. Es ist ja nur, daß du über die schwere Zeit hinwegkommst. Für zwei, Wochen helfen die fünfzig Mark.* Man schleppte sich mühsam durch die nächsten sechs Wochen. „Im Geschäft muß doch längst gemustert werden*, sagte Mutter Menkin. „Warum benachrichtigt man uns nich?* Sie entschloß sich, selbst hinzugehen und nach den Aus sichten zu fragen, die die nächste Saison bot. Fräulein Krogel war sehr verschlossen. „Die Mustersachen sind alle ausgegeben. Sie hätten sich früher herbemühen sollen. Und wer nicht mitmustert, hat auch wenig Aussicht auf Arbeit.* Mutter Menkins Bitten, ihr jetzt noch Musteraufträge zu geben, blieben unbeachtet. Sie verlangte den Ches zu sprechen. „Herr Geyer ist auf einer Geschäftsreise.* „Er reist jetzt selbst?* sragte Mutter Menkin erstaunt Fräulein Krögel nickte nur. „Jeht's denn nich, Fräulein Krögel, daß Sie mir wenigstens etwas Arbeit geben könnten?* Die Krögel schüttelte den Kopf. „Gar nicht daran zu denken. Wir haben schon zu Vie! Lagersachen liegen.' Mutter Menkin bat. Es half ihr nichts. Fräulein Krögels Miene wurde immer eisiger. Hier war nichts mehr zu machen. Als Mutter Menkin zu dieser Erkenntnis kam, verließ sie das Haus, für welches sie ein halbes Menschenalter gearbeitet hatte. Was sollte nun werden? * 4- * Ueber Mutter Menkins Nähmaschinen waren jetzt die Kästen gestülpt. Ihr Räderwerk stand still. An den eisernen Garderobestangen hingen die leeren Kleiderbügel. Die schwarzen Holzpuppen, deren starre Büsten einst unter weich-fließender Seide oder mollig-warmen Stoffen der Goldmannschen und Geyerschen Morgenröcke Leben zu be kommen schienen, standen jetzt kahl und leblos an den Wänden der Arbeitsstube. Leere gähnte aus jedem Winkel des Raumes, in welchem unermüdlich fleißige Frauen bünde Tag für Tag. Jahr für Jahr geschafft hatten. Mutter Menkin sah zu Lotte hin, die auf einer Ecke des Zuschneidetisches saß und die Zeitung aus Arbeits angebote durchiah. „Na. is was drin, Lotte?* „Unter Konfektion ist nichts, Mutter, außer ein paar Gesuchen nach Zuschneiderinnen, Zuarbeiterinnen — das ist alles. Also für uns ist nichts vorhanden.* „Na, da Hilst nu nischl, denn müssen wir jehen, uns Arbeit suchen.* Als ob man das nicht schon all die Zeit getan hätte! „In de janz trotzen Engroshäuser waren wir noch nie. Heute jeh ich se durch. Det wär' ja jelacht, wenn ich keine Arbeit finden sollte * Lotte gab ihr recht. Man vurfte den Mut nicht ver lieren. Ida kam aus der Küche, wo sie das Essen für Mittag angesetzt hatte. Als sie hörte, datz die Mutter und Lotte ausgehen wollten, sagte sie: „Ach, ibr versaim nur unnütz das Geld; es gibt euch keiner Arbeit Ihr habt ja keine Muster vorzulegen.« l^orlietzuna total.)