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„Also du hast Besuch?- erwiderte er mit grimmigem Hohn. „Da sitzt ihr und heult, wie die alten Juden an den Wassern von Babylon?" Thusnelda erhob sich, und ihr gelblicher Teint wurde noch gelber vor Aerger. „Es ist nicht schön von Ihnen, Herr Lienhart, wenn wir kommen, um mitleidig zu sein, daß Sie uns dann mit strafbarer Beleidigung überhäufen. Ich habe mich in Ihnen sehr getäuscht, Herr Lienhart. Wenn solche Sachen in einer Familie vorkommen, sollte man anständig und bescheiden sein, Herr Lienhart." Wie mit einem Schlage war das Klagen verstummt, und die Tränenbäche versiegten. Um so größer aber war jetzt die Zungenfertigkeit, mit der alle über den Meister herfielen. Am Ende wäre es ihm noch schlimm ergangen, wenn nicht ein heftiges Pochen an der Tür die Sachlage zu seinem Gunsten verändert hätte. Ein bärtiger Kopf mit einer Amtsmütze sah herein. Darauf zogen es die Frauen vor, abzuziehen, indem sie dem Sünder nur noch Blicke der Empörung und der Verachtung zuwarfen. In kürzester Zeit blieb das Ehepaar Lienhart allein auf dem Schlachtfeld, das heißt, der neue Ankömmling hatte sich inzwischen, ohne eine Einladung abzuwarten, durch die Tür geschoben, und der Meister erkannte zu seinem Erstaunen den unliebsamen Besuch von heute morgen wieder. Es war der Gerichtsbote. „Was wollen Sie denn schon wieder?" fragte er un willig. Der Bote war offensichtlich gekränkt. „Daß ich von Ihnen ein Trinkgeld bekomme, habe ich ja nicht gerade erwartet", sagte er mit großer Aufrichtigkeit. „Aber daß Sie mich noch beleidigen, das verbitte ich mir allen Ernstes, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich eine Amts person bin. Da gibt es Gefängnis, wenn Sie mich be leidigen." Lienhart hielt es nun doch für angemessen, einen anderen Ton anzuschlagen. „Aber Sie waren doch schon mal da", warf er besänftigend ein. „Was haben Sie denn schon wieder für ein verdächtiges Schreiben?" Der Amtsdiener bekam zusehends einen roten Kopf. „Hören Sie, Mann, verdächtige Briefe habe ich überhaupt nicht. Das verbitte ich mir zum zweiten und zum dritten Male. Und daß Sie es wissen, heute früh war ich in Zivil bei Ihnen und jetzt komme ich in Uniform. Ich denke, ein Mann, der Zustellungen von der Polizei bekommt, der sollte nicht mit verdächtigen Redensarten um sich werfen. Merken Sie sich das, Herr Lienhart!" Und während der eingeschüchterte Meister mit steigen dem Unbehagen seinem Gebarew zusah, machte er mit sichtlicher Freude die gleichen Notizen wie in der Frühe. Dann entfernte er sich, diesmal ohne Gruß. „Kommen Sie bald wieder", sagte Lienhart. Aber er sagte es lieber erst, als der Bote schon wieder stampfend die untere Treppe hinabging. Dann riß er das Amts kuvert auf, und sein mißvergnügtes Gesicht wurde noch schlimmer. Mutter Lienhart faltete die Hände, und ihre Lippen zitterten. Sie brachte die Worte, die Frage, die ihr aus der Zunge lag, nicht hervor. „Die Grete?" stöhnte sie endlich. „Dummes Zeug!" Seine Miene klärte sich plötzlich auf, und man hätte meinen können, tcwas wie Schadenfreude in seinen Augen zu lesen. „Es geht mich ja gar nichts an", sagte er. „Es geht ja dich an... Der Photograph verklagt dich." „Lienhart, mach' keine Witze!" „Fällt mir gar nicht ein. Er verklagt dich wegen Be leidigung." Mutter Lienhart riß ihm das ominöse Schriftstück ans der Hand. Sie vergaß die Brille aufzusctzen. Sie las cs, indem sie es mit ausgestrecktcn Armen vor sich hielt. Dann aber sanken die Arme schlaff herab. n „Auch das noch! Auch das noch! Das bringt mich nur. Wenn ich in Arrest muß, vergifte ich mich. Lienhart, du mußt zu ihm gehen. Er mutz die Klage zurücknehmen, sonst tue ich mir was an." Sie beruhigte sich erst etnigermatzen, als ihr der Meister versprach, den Photographen aufzusuchen und um Ver zeihung zu bitten. Es war neun Uhr vorüber. Unten ging es recht leb haft zu. Einmal um das andere Mal stürmte Hans, der Lehrjunge, oder der Geselle Friedrich herauf. „Meister, man bringt einen Spiegel, zwei Spiegel, drei Spiegel! Spiegel so hoch!" Das gab eine Aufregung. Mutter Lienhart schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, als sie alle die Kost barkeiten ansah, und sie vergatz beinahe ihren Kummer. Vollends dann, als die Peddigrohrmöbel für das Emp fangszimmer ankamen. Dazwischen gab es eine kleine Auseinandersetzung über die Art, wie man den schönsten Spiegel, der von der Decke bis zum Boden reichte, aufhängen wolle. Man probierte ihn an den verschiedensten Punkten der Wand aus und prüfte eingehend die Verschiedenheit des Effekts. Schließlich endete der Streit damit, daß der Meister glaubte, Mutter Lienhart halte den Spiegel, während diese sich umgekehrt auf den Meister verließ. Dieser verhängnis volle Irrtum hatte zur Folge, daß der Spiegel zu Boden fiel und in tausend Stücke zerbrach. „So", sagte der Meister, mit anscheinender Zufrieden heit, „der ist aufgehoben. Diese Frage wäre entschieden." Mutter Lienhart aber fand ihre Sprache erst wieder, als sie sich von ihrem Schreck erholt hatte. Dann aber war sie in der Auswahl von Ausdrücken nicht verlegen, die ihre ganze Empörung und Entrüstung zum Ausdruck brachten. „Lienhart", sagte sie, „gib ein für allemal die Hoffnung auf, daß du ein vornehmes Modegeschäft zustande bringst. Da bist du einfach zu dumm dazu!" Das war zu viel für den ehrlichen Meister. Seine Nerven versagten den Dienst. Er brach i« ein förmliches Wutgeheul aus. „Bring' mich noch ins Narrenhaus!" schrie er. „Du bringst es fertig! O du... du... Und wenn ich schon ein Narr bin — dal... Dal Und mit einem kräftigen Faustschlag zertrümmerte er den zweiten der schönen Spiegel. Das wirkte. Plötzlich trat Stille ein. Erst maßen sich die feindlichen Parteien mit Blicken der Wut und des Entsetzens, dann war der Kampf ent schieden. Mutter Lienhart war unterlegen. Wankend schlich sie in eine Ecke des Zimmers, und während wieder die Hellen Tränen über die Wangen rollten, setzte sie sich wie gebrochen auf einen alten Stuhl. In des Meisters Brust kämpfte die Freude über den errungenen Sieg mit dem Bedauern über den schönen Spiegel und dem Grauen vor seiner eigenen Missetat. Er öffnete die Tür zur Werkstatt, und rief den Gesellen herein. „Kehr' die Scherben zusammen!" Friedrich brach in ein unendliches Klagegeheul auS, als er die chaotische Verwirrung erblickte; doch zwei Worte oes Meisters brachten ihn zur Vernunft: „Schweig', oder...!" Nur noch leise stöhnend und unterstützt von dem Wim mern der Meisterin, beseitigte er einen Teil der Trümmer. Als er jetzt dem Zimmer den Rücken kehrte, erhob sich Mutter Lienhart. Sie wankte auf den Meister zu, und er griff seine Hand. „Lienhart, so was tust du nicht wieder!" bat sie fast zärtlich. Er machte scharfe Versuche, ihr seine Rechte zu ent ziehen. „Wer war schuld an dem Spiegel, ich oder du?" „Ich auch, Lienhart, ich auch, so gut wie du!"