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> Lienhari hob den Kopf noch höher. „Natürlich, aus eigener Kraft! Möchte wissen, wem wir's sonst verdanken sollten. Geschenkt hat uns niemand was, und geerbt haben Wir auch nicht. Ich bin jetzt ein sogenannter Selbst-Made- Mensch../ „Was ist das für ein Mensch?" fragte sie in Hellem Erstaunen. Lienhart legte fein Gesicht in würdevolle Falten. „Alte, nimm mir's nicht Übel, aber du mußt dir jetzt ein bißchen mehr Bildung zulegen. Ab und zu ein Fremdwort ein flechten! Selbst-Made-Mensch ist französisch und heißt so viel wie; Gentle-Mann." Der Vorwurf berührte Mutter Lienhart unangenehm. „Ha, weißt du, Lienhart, was Bildung und Erziehung anbelangt, so kann ich's immer noch mit dir aufnehmen. Du mußt nicht meinen, wenn du einst aus der Walze ein paar Brocken aufgeschnappt hast, verstehst du mehr als etye tüchtige deutsche Hausfrau. Ueberhaupt, wenn ich nicht gewesen wäre, wo wäre jetzt das viele Geld?" „Du?... Du?... Hab' ich das Los gehabt oder du?" „Aber wenn ich nicht gewesen wäre und hätte nicht im Traumbuch nachgelesen, und wenn die Grete nicht den Henkel an der Tasse zerbrochen hätte..." Diese Erinnerung an die verlorene Tochter kam zur rechten Zeit und dämpfte sogleich den drohenden Aus bruch des Streits. Lienhart schluckte eine böse Antwort, die ihm auf der Zunge lag, hinunter, und die Meisterin vergaß bei dem Gedanken an das Unglück mit der Grete den Anspruch, den sie aus die Urheberschaft des Reichtums machte. „Ach, wenn die Grete das fehen könnte!" sagte sie mit schwerem Herzen, und^streichelte den schönen Schrank. Auch der Meister wurde wieder weich. Darum nahm er jetzt den eigentümlich-geformten Doppelschlüssel, und mit einer gewissen Feierlichkeit probierte er, den Schrank zu öffnen. Siehe da, es gelang. Nun waren alle die un bequemen Zuschauer sort, und sie konnten so recht mit Muhe das Prunkstück mit seiner ganzen achtunggebieten den Einrichtung betrachten. „Da oben hinauf legen wir das Geld", sagte der Meister, „und in das große Fach legen wir die Papiere." „Oha", entgegnete Mutter Lienhart. „Da hinein kommt der Hut von Pollinskys. Die Papiere können wir woanders hineinschieben, aber den Hut nicht." Lienhart blieb vor Entsetzen der Mund offen. „Aber um Gottes willen, du wirst doch nicht den Hut in den Kassenschrank..." Die Stimme der Meisterin nahm jenen tiefen Klang an, den sie immer erhielt, wenn ihre Besitzerin etwas mit Stolz und Nachdruck betonte. „Selbstverständlich! Der Hut kommt in den Schrank. Der ist feuersicher. Wenn's mal brennt, will ich nicht den schlechtesten retten, sondern den besten." „Aber ich bitte dich!" „Da gibt's gar nichts anderes. Lienhart, das verstehst Lu wieder nicht. Siehst du, vorhin hast du was gesagt von BUdung, das ich hätte übelnehmen können, wenn ich nicht allzu gut wäre. Aber das weißt du nicht, Lienhart, wo du doch so gebildet bist, daß die feinen Leute ihre besten Sachen alle in den Kaffenschrank tun. Zum Geld allein braucht man doch nicht solch riesigen Kasten." Der Meister wurde nun doch wankend. „Meinst du? Aber einen Hut!" Er schüttelte bedenklich den Kopf. Schließlich einigten sie sich dahin, daß der Meister den Herrn Bankier Effinger darüber fragen wollte. Vom nächsten Turm schlug es elf Uhr. „Jetzt wollen wir einräumen", sagte Meister Lienhart. Draußen hatte sich der Himmel noch mehr überzogen, und es war so dunkel, daß man fast genötigt wurde, Licht zu machen. Auf einmal prasselte der Regen wieder in Strömen nieder und schlug an die Scheiben, daß sie tönten. . Dazu pfiff und heulte der Wind durch die Gassen, und ab Md zu vernahm man ein fernes dumpfes Donnergrollen. „Das ist ein Wetter!" jammerte Mutter Lienhart „Gerave recht für Diebe und Einbrecher." „Dummes Zeug!" knurrte der Meister. ' Er suchte in der Westentasche und zog den einfachen kleinen Schlüssel des Sekretärs hervor. Gewohnheits mäßig brachte er ihn vor die Lippen und blies den Staub aus der Höhlung. Mutter Lienhart beobachtete ihn unruhig. Auf einmal ergriff sie die ganze Beklemmung und Angst, die der un gewohnte Besitz verlieh. „Um Gottes willen! Schließ doch wenigstens die Tür! Wenn jemand "hereinkommt!" Das grauenhafte Wetter legte sich offenbar aus die Nerven. Lienhari lächelte verächtlich über die Schwäche seines Weibes. Aber er besann sich eines anderen. Weiber rat ist nicht viel wert; doch ist der ein Narr, der ihn nicht Hörl, mochte er denken, und er verriegelte vorsichtig die Tür nach der Werkstatt sowohl wie die nach dem Haus gange. In seinen Augen blitzte es aus, als er jetzt zu dem lieben alten Möbel mit seiner erblindeten Politur schritt, das ihm so viele Jahre treu gedient hatte. „Den Sekretär können wir jetzt verschenken", sagte er. Mutter Lienhari nickte beifällig. „Wir schenken ihn dem Stephan, wenn er mal heiratet." Der Meister warf ihr einen unwilligen Blick zu. „Mußt du mich immer aufs neue an die unglückselige Geschichte erinnern?" sagte er, während er den Schlüssel herumdrehte und das mittlere Schubfach, das als Schreibtischplatte diente, herunterklappte. Plötzlich ertönte ein schrecklicher, ein gellender Schrei. Leichenblaß taumelte Lienhart zurück. Die Lade war leer. Auch Mutter Lienhart erkannte mit einem Blick, was geschehen war. „Gestohlen!" kreischte sie mit überlauter Stimme, die Hände zusammenschlagend. „Gestohlen!" heulte Lienhart. „Räuber! Diebe! Mörder!" Und mit zitternden Händen tastete er in dem leeren Raume umher, als könne er seinen Augen nicht trauen. Einige Zeit hörte man ein Geschrei, das nichts Mensch liches mehr hatte. Es fand Widerhall in der benachbarten Werkstatt. Die beiden Jungen, die die Tür verschlossen fanden, hämmerten heulend mit den Fäusten gegen das Holz. Lienhart sah aus, als hätte er den Verstand verloren. Er war kreideweiß, die spärlichen Haare standen ihm wirr zu Berge und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Ein Wutschret entrang sich seiner Brust. „Fanutti!" Er ballte die Fällst „Fanutti! Die Lumpen!" Und mit rasender Hast sprang er zur Tür und schob den Niegel zurück. Er stürzte hinaus. Man hörte ihn polternd die Treppe hinaufspringen. Unten ertönte das Geschrei mit erneuter Heftigkeit; die beiden Jungen vereinigten ihre Stimmen mit der der Meisterin. Sie waren vor Angst außer sich geraten und hämmerten immer noch unaufhörlich an die trennende Tür. Sie dachten gar nicht daran, daß sie von außen durch den Hausgang b^—'nkommev könnten. Von allen Seiten kamen jetzt Leute gesprungen; man hörte ängstliche, fragende Rufe. In kürzester Zeit war Stube und Hausgang erfüllt von einer schreienden, ver wirrten, kopflosen Menge. „Was gibt es? Was ist los? Was ist passiert?" „Man hat den Lienhart umgebracht!" ertönte plötzlich aus dem chaotischen Wirrsal eine Helle Stimme. «Man hat den Lienhart umgcbracht! Mord! Mord!" „Schnell, schnell, hinauf!" Und hinauf wälzte sich der Strom der Leute, über die ächzende, stöhnende Treppe, die unter der Last zusammen- zubrecken drohte.