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Der Schutzmann schien Feuer zu schnauben. „Sofort verlassen Sie mit Ihrem Wagen den Platz!' befahl er dem Meister. .Das ist grober Unfug, verbunden mit Menschen auflaufl Haben Sie mich verstanden?' Lienhart versuchte mit verzweifelter Anstrengung, den Wagenschlag zu öfsnen, erst den linken, dann den rechten; aber vergebens. Sei es, daß die Patentmechanik Pluder- manns wirkte, oder daß das gewaltsame Aufschlagen des Daches nicht ohne Einfluß auf die Konstruktion des Wagens geblieben war: die Türen waren wie zugeleimt, und auch der Schutzmann rüttelte von außen vergebens an ihnen. Er wurde rot vor Aerger. .Kommen Sie mal 'raus!' kommandierte er. „Alle miteinander!... 'rauskommen sollen Sie!... Das ist der reinste Widerstand gegen die Staatsgewalt!... Herr, wollen Sie hören oder nicht?' Die Menge johlte, „'raus mit ihnen! 'raus mit ihnen!' heulte sie. „Aber Sie sehen doch, guter Mann.. / „Das verbitte ich mir! Ich bin kein guter Mann! Herr, ich mache Sie auf die Folgen des Widerstands auf merksam. Ich frage Sie noch einmal und zum letzten Male: Wollen Sie 'rauskommen, oder nicht?' Lienhart sah entsetzt um sich. Dann faßte er einen heroischen Entschluß. Im nächsten Augenblick zwängte sich ein Mann im Zylinderhut und einem schönen schwarzen Tuchrock mühevoll durch das enge Pförtchen des Wagen fensters. Seine Tat wurde von der Menge durch reichen Beifall geehrt. Nach ihm kam Friedrich, der Geselle. Bei ihm ging es schon bedeutend leichter. „Hurra!' rief die Menge. Vollends Hans, der Lehrjunge, gelangte ohne jede Schwierigkeit ins Freie. „Hurra, Hurra! Der Dritte!' ertönten begeisterte Rufe. Der Enthusiasmus der Leute kannte aber keine Grenzen, als sich jetzt der wallende Hut Pollinskys im Fenster zeigte; man brachte Ovationen dar. Die geängstigte Frau wußte kaum mehr, wo sie war. „Lienhart', rief sie, „ich will nach Hause! Augenblick lich will ich nach Hause!' Dann sank sie, halb ohnmächtig, auf ihren Polstersttz zurück. „Herr, wollen Sie den Wagen entfernen, oder nicht?' ertönte von der anderen Seite die Stimme des Polizei manns in das Ohr des unglücklichen Meisters. „Es ist verboten, einen Wagen auf dem Heringsmarkt auf zustellen!' Friedrich machte ein pfiffiges Gesicht. Er flüsterte seinem fassungslosen Meister etwas zu. „Es ist ja nicht weit, Meister', meinte er ermunternd. Ein rettender Gedanke! Ein Ertrinkender greift nach dem Strohhalm. „Ungefaßt!' kommandierte Lienhart, und im nächsten Augenblick begann er, unterstützt von seinen beiden Ge treuen, an der Deichsel des Wagens zu ziehen. „Angefatzt!' jubelte und heulte die Menge. Zehn, zwanzig bereitwillige Hände fingen an, den Wagen zu schieben. „Angefaßt! Ein Hoch aus den Meister Lienhart! Ein Hoch auf die Meisterin!' Und munter rollte der Wagen mit seiner Insassin über das rauhe Pflaster des Heringsmarkts, durch die Rabengasse, der Heimat zu. Die Zeiger gingen schon aus zwölf Uhr. Lienhart saß auj dem geblümten Sofa, und sah schwermütig vor sich hin. Erst allmählich begann er sich von der verunglückten Wagenfahrt zu erholen. Das Kopfweh vom heutigen Morgen begann sich merklich zu steigern, und auch der Magen deutete feine Verstimmung an. Merkwürdig» dachte er, alles, was ich anfange, schlägt fehl, seit ich das Geld habe. Bisher habe ich nur Aerger gehabt. Das muß anders werden. Aufmerksam lauschte er auf das fMgesetzie Pochen im Gange draußen, das nur unterbrochen wurde durch Mutter Lienharts bald sanft und bittend, bald heftig und drohend klingende Stimme. So oft sich das Klopfen wiederholte, zuckte der Meister schmerzlich zusammen. Die Geschichte mit der Grete ging ihm auch ein wenig an die Nerven. Was daS Mädel für einen Charakter hat, dachte er. Schwere, lappende Schritte näherten sich der Tür, Mutter Lienhart trat ein. Sie sah zum mindesten ebenso mißvergnügt aus, wie ihr Gemahl. Dieser wandte nur leicht den Kopf zur Seite. „Nun?' fragte er. „Sie macht nicht auf!' erklärte sie. „Nicht auf?... Was tut sie denn?' „Was sie tut? Heulen tut sie', erwiderte die Gattin verächtlich. In dem Gesicht des Schneidermeisters Lienhart zeigte sich eine wunderliche Mischung von Zorn und ängstlicher Sorge. Er verfolgte mit einem seltsamen Blick seine Frau, die sich schwerfällig und müde auf einem Stuhl niederließ. Es entstand eine unangenehme Pause. Endlich brach Lienhart das Schweigen. Die Sorge und die Liebe zu seiner Tochter schienen gesiegt zu haben. „Was meinst du?' fragte er zaghaft. Mutter Lienhart erkannte sofort, was die Frage be deutete. Sie wandte sich heftig an ihn. „Du willst natürlich wieder nachgeben? Und du wun derst dich, daß die Grete einen solchen Dickkopf aufsetzt? Was ich meine? Wenn du meinst, daß ich auch so eine Wetterfahne bin, kennst du mich falsch. Die Geschichte mit dem Stephan ist aus und vorbei, das meine ich. Das wäre noch schöner! Solch ein Vermögen, und einen Maler gesellen als Schwiegersohn! Der könnte sich freuen! Nööö! Für den ist die Grete nicht! Da habe ich was anderes im Hintergründe. Die Grete ist jetzt eine gute Partie, Lien hart. Ich hoffe, daß du das niemals aus den Augen läßt.!' Lienhart schien zu überlegen, und er seufzte tief und schwer. „Eigentlich hast du recht', sagte er kleinlaut. „Was, eigentlich? Selbstverständlich hab'ich recht! Ich halte die Sache für abgetan. Jetzt heult sie ein bißchen, und in ein paar Tagen ist alles wieder in Ordnung. Und wenn dann ein feiner, hübscher Herr kommt, wirst du sehen, wie die Grete einlenkt! Wenn sie in ein paar Jahren eine feine, vornehme Frau ist, lacht sie über den Maler gesellen von damals. Potz Kreuz! Wenn man immer nach geben müßte, wenn ein Mädel Tränen in den Augen hat! Das ist eine saubere Erziehung. So war eS nicht in meiner Jugend, das kann ich dir versichern. Ich hätte den Buckel voll gekriegt, wenn ich mich so aufgeführt hätte... Oder ist das auch eine Art, der Mutter die Tür vor der Nase zu zuschlagen und abzuschließen?' Lienhart war heute in einer merkwürdig-wechselnden Stimmung. „Das ist gewiß wahr! Die Tür muß auf gemacht werden. Augenblicklich gehe ich hinüber. Und wenn sie nicht aufmacht, hole ich den Schlosser.' Sofort stand er auf, um seinen Entschluß auszuführen. Aber Mutter Lienhart hielt ihn unwillig zurück. „Bleib da! Das würde ein schöner Skandal. Wie sich die Küch leins freuen würden, und unten Madame Hellborn! Nein! Die Grete soll drinnen bleiben in ihrer Kammer, solange sie will. Wenn sie Hunger hat, wird sie schon kommen. Und jetzt', setzte sie energisch hinzu, „wollen wir zu etwas Reellerem übergehen.' Aber sie kam nicht zu dem Reelleren. Draußen ertönten Schritte. Meister Lienhart horchte ärgerlich. „Hat man denn seine leibliche Ruhe nicht mehr? Himmel! Türken! So oft es ans Essen geht, kommt wer... Wenn aber wieder einer ,um Betteln kommt, der wird Augen machen!... Herein!*