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er ein Papier in der schmutzigen Hand. „Das große Los!- „Meister", schrie auch der Geselle, „wir haben's, wir haben's!" Hans aber, der sich endlich aus der fürchterlichen Enge herausgewunden hatte, sank mit hochrotem Gesicht er schöpft und nach Atem ringend auf den Stuhl. „Meister, sagte er noch mit schwacher Stimme, Num mer 111202 hat das große Los gewonnen!" Lienhart war erblaßt. Seine Augen zeigten eher den Ausdruck des Schreckens als der Freude. „Herrgott im Himmel", stammelte er, „ist's möglich!" Mutter Lienhart saß wie eine indische Pagode und be gann zu schluchzen, und schließlich heulte sie gerade hinaus. Grete aber, die blonde, hübsche Grete, sprang an das Fenster, und in der ersten ungestümen Aufwallung ihrer Freude nahm sie das weiße Taschentuch und winkte und winkte immer wieder hinüber zu dem einen Fenster, das ihr Herz und Sinne gefangen hielt. „Stephan, Stephan!" rief sie mit Heller froher Stimme, und winkte und winkte, unbekümmert um all die vielen müßigen, neugierigen, schwatzenden, lachenden und jubeln den Menschen, die mit Staunen und Neid heraufsahen an dem Hause, in welches das Glück eingekehrt war, ein un erhörtes und unermeßliches Glück, wenigstens in den Augen all dieser Leute, für welche Glück und Reichtum ein einziger, untrennbarer Begriff war. Herr August Essinger war ein kleiner, sehr korpulenter Mann mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und einem Paar listiger kleiner, schwarzer Augen, die meist über die Gläser des mitten auf der Nase sitzenden Kneifers weg sahen. Er lag behaglich in einem rohrgeflochtenen Schaukelstuhl und vertiefte sich in eine dicke Zeitung größten Formats, während ein paar ausgelesene Blätter nachlässig zusammengefaltet in störender Unordnung zu seinen Füßen lagen. Von Zett zu Zejt nahm Herr Effinger, ohne von seiner Zeitung aufzusehen, mit den nicht übermäßig reinen, dafür aber mit schönen Ringen geschmückten Fingern von einem zur Rechten stehenden zierlichen Prunktischchen einige Stücke eines belegten Brotes zu sich. Je nach dem Stand der Kurse gingen die Kauwerkzeuge bald schneller, bald langsamer. Im allgemeinen mußte aber der heutige Stand nicht übel sein, denn durchschnittlich war der Appetit ein recht guter zu nennen. Schon einige Male hatte Herr Effinger vergebens tastend nach rechts gegriffen, als er endlich aufschaute und bemerkte, daß der Teller leer war. „Ach Gott", sagte er verwundert. Auf diesen Ausruf rührte sich etwas in der entgegen gesetzten Ecke des Zimmers, etwas Umfangreiches, Ver schwommenes. „Was hast du?" fragte eine matte Stimme. Herr August Essinger war tatsächlich guter Laune, denn im allgemeinen pflegte er aus solche Ansragen keine Ant wort zu geben, heute aber war er gesprächig. „Nun habe ich das ganze Brot aufgegessen und habe es gar nicht gemerkt." Frau Thusnelda freute sich, dies zu hören. „Stehen sie so gut?" „Ich will nicht sagen, sie stehen gut, weil sie morgen anders stehen können. Ich sage lieber, sie stehen nicht schlecht, Thusnelda. Nur die Parlonger sind gefallen. Sind schlechte Papiere! Werden noch ganz bedeutend fallen!" Die Stimme aus der Ecke wurde etwas lebhafter. „Mach' mir nicht Angst, August!" „Angst? Wozu Angst? Hältst du mich für einen Dumm kopf? Brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich habe sie gestern meinem Freund Julius Steffensteiner abgetreten, die Barlonger. Also können sie fallen, so viel sie wollen, was kümmert's den August Effinger?" Frau Thusnelda lachte herzlich. „Du bist ein gescheiter Mann, August, und hast immer eine gute Nase gehabt!" Der so Belobte rieb sich die dicken, fettigen Hände. „Der Julius Steffe^teiner wird sich heute die Haare raufen, wird jammern und sagen: Der Effinger ist ein niederträchtiger Kerl, niemals werde ich wieder mit ihm Geschäfte machen! Und nach ein paar Tagen wird er wiederkommen und wird sagen: Meinen Respekt vor dem Effinger! Und wird sich meinen Rat erbitten." Im Gefühl der eigenen Hochachtung lehnte er sich noch behaglicher in seinen Stuhl zurück; dann zündete er sich eine große dicke Havannazigarre an, deren feiner durch dringender Geruch sofort das ganze Zimmer erfüllte. Kurze Zeit stockte die Unterhaltung, als Herr Effinger plötzlich die Ohren spitzte. „Gott, was laufen für viele Menschen auf der Straße!' Auch seine Gemahlin reckte sich etwas empor und lauschte. „Man könnte meinen, es wäre ein Umzug oder eine Demonstration! Gerade, wie wenn's der erste Mai wäre! Sie werden doch nicht streiken bei Berkhammer oder in der Fabrik von Sillering und Compagnie?" Effinger zürnte. „Wie kannst du immer solche auf regenden Sachen sagen. So was können die Kurse nicht vertragen! Es wird wohl etwas zu sehen geben, eine Hochzeit oder einen Flieger oder was weiß ich, daß die Leute so töricht springen!" Beide lauschten mit sichtlicher Unruhe, aber nicht lange. Frau Thusnelda hatte sich immer mehr aufgerichtet, und auch Effinger hatte seine bequeme Lage aufgegeben. „August, findest du nicht, daß die Leute alle vor un serem Hause stehen?" Sie erhob sich, um an das Fenster zu treten. Der dicke kleine Mann sprang auf. „Bleib'- vom Fenster weg, Thusnelda", rief er er schrocken. Er war sichtlich blasser geworden und sein Gesicht sah gar nicht mehr so rund und zufrieden aus wie zuvor. „Wo ist der Joseph? Er soll das Bureau schließen. Gott, sie stehen wahrhaftig vor unserem Hause! Sie haben Revolution gemacht, gewiß und wahrhaftig! Thusnelda, packe deine Brillanten zusammen!" Er stieß alles in kurzen Sätzen hervor. „Horch, sie dringen schon ins Haus ein! August, schließ die Tür ab!" zeterte Frau Thusnelda, bis auf den Tod er schrocken. Effinger hatte rasch den Riegel vorgeschoben und lauschte zitternd an der Tür auf den Lärm und das Ge polter. „Sie springen hinauf", sagte er halb erleichtert, „eine Treppe, zwei Treppen, drei Treppen, vier Treppen. Sie springen hinauf zu Küchleins oder zum Schneider! Himmel, es wird doch nicht was ausgebrochen sein?" Und er eilte nun selbst trotz seines vorherigen Ver bots an das Fenster und sah, allerdings mit der nötigen Vorsicht, hinunter. „Lieber Gott!" sagte er dann ver wundert. Was sich seinen Blicken bot, war allerdings sehr ver wunderlich. Drunten vor dem Hause stand eine ganz an sehnliche Menge Menschen. Aber zu seiner großen Be ruhigung erkannte er sofort, daß sie nicht gerade drohend aussah, sie setzte sich zu einem beträchtlichen Teil aus halbwüchsigen Jungen zusammen. Alle sahen staunend hinauf zu dem oberen Teil des Hauses, wo Lienhart wohnte. Da sich oie Menge um ihn, Herrn August Effinger, absolut nicht zu bekümmern schien, obgleich er sich, mutiger geworden, mit seiner ganzen Persönlichkeit am Fenster zeigte, wagte er es, ein Fenster zu öffnen. Er beugte sich hinaus und sah hinauf nach dem oberen Teil seines Hauses, aber es war nichts, such rein gar nichts Verdäch tiges zu entdecken. Auch im Hause selbst war wieder völlige Ruhe eingetreten. Effinger schloß das Fenster.