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6 Er wollte anfangen zu zanken, aber diese Reihe von Zufällen machte ihn doch stutzig. Was man gern hofft, glaubt man gern. Er nahm das zerlesene Büchlein, das Mutter Lienhart im Vollgefühl ihres Triumphs gar nicht mehr zu verbergen suchte, um -sich selbst zu überzeugen. Da stand es wahrhaftig gedruckt, und was gedruckt stand, mußte doch auch wahr sein. Wenn man nicht die Er fahrung gemacht hätte mit solchen Sachen, würde man es doch nicht drucken! So etwa war sein Gedankengang. Nun saß die ganze Familie um den Tisch herum und starrte das breit daraufliegende Los an mit der guten und glückverheißenden Zahl. Die fettgedruckten Ziffern stachen Äar und deutlich von dem hübsch gemusterten Untergrund ab. Je mehr sie aber diese Zahl ansahen, von der ein ge wisser Zauber auszugehe» schien, um so stärker wurde schließlich ihre Zuversicht, ihre Ueberzeugung, „Willst du nicht auch hingehen, Vater?" Lienhart wurde sehr schwankend, er gab seiner Frau nicht sogleich Antwort. In seinem Innern regte sich etwas wie Scham, daß er den Frauen gegenüber so schwach war. Endlich fand er einen Mittelweg. „Hans soll hinüber. Er ist ein gescheiter Bursche und es macht sich doch besser, als wenn ich selbst gehe. Wenn's nichts ist, lacht die ganze Nachbarschaft." Der Vorschlag wurde im Familienrat angenommen und der kleine Hans sauste davon, ganz glücklich über den interessanten Auftrag und das geschenkte Zutrauen. In der geballten Faust trug er das kleine Zettelchen, das ihm der Meister mit der ominösen Nummer beschrieben hatte. „Das du's aber niemand sehen läßt, oder ich reiße dir die Ohren 'raus und nähe dir'L linke fürs rechte an", gab ihm der Meister auf den Weg. Oben in der freundlichen kleinen Stube harrte nun die friedliche Familie mit Spannung auf die nächsten Stunden. Auch der Schneidermeister blieb oben. Die Frauenzimmer hatten sein Innerstes derart in Aufregung gebracht, daß es mit -er Arbeit doch nichts mehr war. Der schöne schwarze Tuchrock, welcher gerade in Behandlung war, erforderte ein Genie, wie sich Lienhart auszudrücken Pflegte, der konnte nicht nur so zusammengeslickt werden. Trübselig saß der Geselle Friedrich ganz allein unten auf seinem Arbeitstisch und machte Faxen zum Fenster hinaus und schnitt Grimassen, wenn einmal ein hübsches Mädchen vorüberging. „Wenn wir so unmenschlich viel Geld ins Haus be kämen", sagte Mutter Lienhart mit einem Seuszer, „dann müßte mir ein neuer Hut her von Pollinsky, der im linken Auslagefenster, mit den vier Straußenfedern." „In dem würdest du gediegen aussehen", meinte Lien hart trocken. Darauf wurde sie spitz. „So gut wie andere, zum Bei spiel wie Frau Bankier Effinger. Es kommt nur daraus an, was man für einen Hut auf Hai, ver macht alles. Die feine Madame Hellborn, die hochnäsige Hungerleiderin, hat auch immer zwei Federn darauf, lang wie ein Ellen- maß, folglich kann ich viere tragen." „Wenn du den Hut auf hast, geh' ich nimmer mit dir", sagte Lienhart. „Meinst, ich laß mich von allen Leuten auslachen?" „Sei so gut, Mann, und sprich mir nicht drein in die Mode, davon verstehst du so viel, als eine Nachtigall von einem Bügeleisen." Grete unterbrach wieder den Disput. „Und ich kriege das neue Kleid, das Kostüm von Wallbach. Statt der Borten laß ich mir Stickereien hineinmachen. Ich glaube, es wird mir famos sitzen. Modeblau steht mir gut zum Gesicht." In unschuldiger Koketterie bog sie sich zur Seite und betrachtete ihr hübsches drolliges Jungengesicht im Spiegel, während sie anmutig die Arme hob und die kleinen Hände hinter dem vollen Haar kreuzte. Lienhart schmunzelte. „Das Kleid sollst du haben, du istacker. Mußt ein pikfeines Fräulein geben!" Nun erst kam Mutter Lienhart. „Was? Dummes Zeug! Du wirst natürlich den alten Ladenhüter kaufen, Grete, wo doch Modeblau gar nicht mehr modern ist. Kirschrot ist das Neueste, sage ich. Du kriegst ein neues Kleid, das mit dem Perlenkollier und den handbreiten Spitzen an den Aermctn. Wenn du zu mir passen willst in meinem Hut, möchte ich dich auch elegant haben, Grete. Zusammen stimmen mutz es." Grete lieh die Unterlippe hängen, das verstand sie vor züglich, wenn ihr etwas nicht patzte. „Rot? Wo mir das gar nicht steht? Und noch dazu Spitzen?" „Du nimmst das rote!" sagte Frau Lienhart ge bieterisch. Grete setzte nun auch ihren Trotzkopf auf. „Lieber will ich das neue gar nicht. Ich weiß ganz gut, was mir steht und was mir nicht steht. Datz es überall heißt: Sieh das nette Mädel! Schade, daß es so einen scheußlichen Ge schmack hat!" „Ist das ein eitler Fratz!" sagte Mutter Lienhart em- pört. „Wer hat dir eigentlich in den Kopf gesetzt, datz du nett bist? Sei blotz nicht gar so eitel. Ich Weitz nicht, von wem das Mädel so was geerbt hat." Lienhart ergötzte sich sichtlich. „Ihr seid gut! Ihr sprecht, als hättet ihr das Geld schon in der Kommoden schublade. Wenn wir gewinnen, will ich das Geld gut aufheben, drunten im Sekretär hat's viel Platz." „So? Einschlieben willst du das ganze Geld?" meinte Mutter Lienhart etwas kleinlaut. „Und was willst du denn damit anfangen, wenn man fragen darf? Lienhart überlegte. „Zuerst kaufe ich das Haus, dann werde ich unten das Geschäft bedeutend vergrößern und ein schönes Atelier bauen mit großen Spiegeln vom Boden bis an die Decke. Und ein vergoldeter Fingerhut und eine vergoldete Nähnadel muß mir auch her. Natürlich blotz für den Meister selbst. Die Gesellen bekommen silberne, und bloß, wenn feine Kunden kommen. Und im Atelier müssen ein paar grotze Blätter aufliegen und illustrierte Zeitungen, daß die Leute was zum Lesen haben während des Anprobierens. Und Sonntags bleibt das Geschäft geschlossen, das wird überall eingerückt. Am Sonntag fahren wir nämlich spazieren, alle miteinander, die Lehr jungen aus dem Bock, durch die Lütticher Straße, die Rabengasse und über den Heringsmarkt..." Die beiden Frauen schlugen die Hände zusammen, Grete vor Vergnügen, Mutter Lienhart vor Aerger. „Du meinst doch nicht gar, daß du ein Schneidermeister bleiben willst mit so viel Geld? Das wäre das Richtige! Wenn wir das Geld haben, bin ich zum letzten Male Frau Schneidermeister Lienhart gewesen, dann werde ich Frau Privatier! Das wäre noch schöner!" Lienhart hörte gar nicht mehr aus seine Frau; er horchte aufmerksam aus ein sonderbares, fernes, immer mehr an schwellendes Geräusch. Es war ein eigentümliches Brausen und Summen, wie wenn sich auf einmal viele, viele Men schen durch die einsame Lütticher Straße wälzten. Und näher und näher kam es. „Horch", sagte Lienhart, „woher kommt die Masse Leute? Ich sage nur, da ist etwas passiert!" Und er stand schnell aus, nm an das Fenster zu treten. Aber er kam nicht so weit, denn ein neuer starker Lärm, ein unerhörter Spektakel erhob sich im Innern des stillen Hauses, ein Springen, ein Poltern, Rufen und Schreien. Wie gelähmt vor Schrecken saßen die beiden Frauen auf ihren Stühlen, während Lienhart in der Erwartung von etwas Grotzem. Ungeheuerlichem voll Unruhe un schlüssig am Fenster stehcnblicb. Tie Tür wurde gewalt sam aufgerissen und gleichzeitig zwängten sich Friedrich, der Geselle, und Hans, der Lehrjunge, durch die Tür pfosten, indem sie sich Püffe versetzten, in dem Bestreben, zuerst einzudringcn. „Meister. Meister", heulte der Junge, und es gelang ihm, den rechten Arm freizubekommen; siegreich schwenkte