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Chronik des Tages. — Der sozialdemokratische Parteitag in Magdeburg yat bei der Abstimmung über den Antrag, der auch di» Minister der FraktionSdisziplin in der Panzerkreuzerfraga unterstellen will, mit 258 gegen 138 Stimmen Ueoergang zur Tagesordnung beschlossen. — Oberleutnant Schulz ist aus Gesundheitsgründen aus dem Essener Untersuchungsgefängnis in das Kranken haus des Moabiter Untersuchungsgefängnisses verbracht worden. - > — Der Reichsarbeitsminister hat die GebaltSvereln- barung im Bankgewerbe und die Verlängerung des Reichs- tarifes bis zum 31. Dezember 1S30 für allgemein ver bindlich erklärt. — Die Kommunisten haben die sofortige Einberufung des Auswärtigen Ausschusses gefordert, um zu der Repa- rationskonferenz in Paris und ferner zur Haltung der deutschen Abordnung bei der Abrüstungskonferenz Stellung zu nchmen. , — Aman Ullah ist aus seiner Flucht aus Afghani stan in der indischen Hafenstadt Bombay etngetroffen. — Das chinesische Kriegsgericht hat den General Feng wegen Landesverrats zur höchsten Strafe verurteilt und für seinen Kopf eine Belohnung von 30 000 Dollar aus geschrieben. — Auf der Weltausstellung Barcelona ist die „Deutsche Abteilung" in Gegenwart der spanischen Königsfamilie er öffnet worden. — Die Inhaber sämtlicher VergnügungSunternehmun- igen in Berlin haben beschlossen, wegen der Höhe der Ver gnügungssteuer am 1. Juli ihr« Betriebe stillzulegen. Den Angestellten ist zum 30. Juni gekündigt worden. — In Hamburg wurde eine 76 jährige Greisin er mordet. — Der neue Kreuzer „Königsberg" machte von Wil helmshaven seine erste Probefahrt in die Helgoländer Bucht und zurück. Der 30. Mai in England. Die Neuwahlen zum Unterhaus. — London, 28. Mat. Rach dem belgischen Wähler muß nun am 30. Mai auch der englische Staatsbürger zur Wahlurne schreiten. Ebenso wie das Brüsseler Parlament war auch das englische Unterhaus eines „natürlichen To des gestorben". Dem Wahlkampf fehlt infolgedessen das belebende Moment. Erst in den letzten Tagen ist es etwas lebhafter geworden. Ueber 1700 Kan didaten sprechen täglich zwei- bis dreimal zu ihren Wählern, das sind 5000 Wahlreden pro Tag. Ob diese Propaganda den Parteien den ersehnten Erfolg am Wahltage einbringen wird, steht dahin, da der schlechte Besuch der Wahlversammlungen überall auf eine gewisse Wahlträghett schließen läßt. Allerdings ist die Zahl der Wahlberechtigten an sich durch die Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts aus Ange hörige beider Geschlechter bis herab zum vollende ten 21. Lebensjahr im Vergleich zu früheren Wahlen außexordentlich gestiegen. Der Wahleifer dieser jun gen Leute, insbesondere der 5 Millionen Mädchen, die jetzt zum ersten Male wahlberechtigt sind, ist jedoch nicht hoch anzuschlagen. Bei den letztenWahlenim Jahre 1924 waren rund 21,7 Millionen Wahlberechtigte vorhanden, von denen 16 640 000 ihr Stimmrecht ausübten, was einer Wahlbeteiligung von 76 Prozent entspricht. In Wirk lichkeit war sie höher, da 31 Bezirke mit 1 070 000 Wählern wegen der Aufstellung nur eines Kandi daten nicht abstimmten, so daß die Zahl der Stimm berechtigten in den übrigen Wahlkreisen mit 20,65 Millionen eine Beteiligung von 85 Prozent ergibt. Ob sie diesmal annähernd so hoch svin wird, ist, wie gesagt, fraglich. Von den 16 640 000 Stimmen ent fielen auf: Konservative 8112 811, Arbeiterpartei 5 470 685, Liberale 2 909122, Kommunisten 41072, Unabhängige 106 589 Stimmen, was zu folgender Mandatsverteilung führt«. Konservative 420, Arbeiterpartei 150, Liberale 39, Unabhängige 4, Irische Nationalisten 1, Sprecher 1. Durch die Nachwahlen während der 4V-jährigen Lebensdauer des letzten Parlaments sind nicht unerhebliche Ver änderungen eingetreten, so daß bei Auflösung des Parlaments 1929 der Stand der Parteien folgen der war: Konservative 396, Arbeiterpartei 160, Li berale 46, Unabhängige 7, unbesetzte Sitze 6 (4 Kon servative, 2 Arbeiterpartei). Für die 615 Sitze bewarben sich im Jahre 1924 1425 Kandidaten, von denen 32 ohne Gegen kandidatur blieben und damit kampflos ins Parla ment einzogen. Diesmal sind es bei 1728 Kandidaten nur noch sieben Abgeordnete, die bereits heute als ge wählt gelten können. Von diesen 1728 Kandidaten entfallen auf: Konservative 588 (1924: 536), Liberale 510 (344), Arbeiterpartei 570 (514), Kommunisten 25 (8), Unabhängige 31 (26). Die Erhöhung der Wahlkosten — für jeden Kandidaten müssen 3000 M. hinterlegt werden, die als verloren gelten, wenn er nicht die für die Rückzahlung erforderlichen Stimmen aufbringt — hat also die Parlamentsfreudigkeit nicht beeinträchtigt. Die Rekordsucher konnten bereits drei neue Spitzenerscheinungen verzeichnen: 1. Die Zahl der Kandidaten ist mit 1728 die höchste aller bis her zu verzeichnenden. 2. Die Zahl der ohne Wider stand ins Parlament etnziehenden Abgeordneten ist mit 7 die niedrigste der englischen Parlamentsge schichte. Die Zahl der weiblichen Kandidaten ist mit 68 um 27 höher als bet der letzten Wahl. Von den 68 weiblichen Kandidaten entfallen auf die Konser vativen 10, die Arbeiterpartei 30, die Liberalen 25, die Kommunisten 3. Die ständige Vermehrung der Kandidaten und Hand in Hand damit die fast völlige Ausrottung der ohne Opposition ins Parlament einziehenden Ab geordneten zeigt deutlich die Verschärfung des Wahl kampfes. Abgesehen von der nicht sehr grüßen Zähl ider Bezirke, die mehr als ein Mitglied ins Parlament entsenden, sind diesmal nur 102 direkte Kämpfe, d. h. zwischen Kandidaten von nur zwei Parteien zu verzeichnen. In nicht weniger als 444 Bezirken gibt es sogenannte dreieckige Wahlkämpfe, in denen sich vrei Kandidaten um die Gunst der Wähler bemühen. In 26 Wahlkreisen sind mehr als drei Kandidaten aufgestellt. Die weitaus größte Zahl der; bisherigen Unterhausmttglieder — 511 von 615 — bewirbt sich, allen gegenteiligen Voraussagen zum Troß ^wieder um die Neuwahl. Was Nun die Aussichten der einzelnen Par- I teien anbetrifft, so läßt sich hier schwer etwas Genaues Voraussagen, zumal die Aussichten bei den mehr als 400 dreieckigen Wahlkämpfen von vielen Zufälligkei- I ten abhängen. Man nimmt an, daß die Arbeiter partei in Schottland und im Norden Englands Fort schritte machen wird, ohne jedoch dadurch die Konser vativen aus ihrer Vormachtstellung verdrängen zu kön nen. Den Liberalen räumt man nur geringe Chancen ein, obwohl Lloyd George auch diesmal die Werbe trommel sehr kräftig gerührt hat. Seine laute Pro paganda für den Bau von Autostraßen kann die. Wäh lermassen ebensowenig begeistern, wie der konservative Modernisierungsplan für die Eisenbahn und die voll Macdonald propagierte Verstaatlichung der Versiche rungsgesellschaften und der Autoindustrie. Ueber- Haupt fehlt es allen Parteien an einer zugkräf tigen Wahlparole, wie sie z. B. bei den letzten Wahlen der Sinowjew-Brief' bildete. Die großen po litischen Fragen sind vollkommen unter den Tisch ge fallen, jeder interessiert sich — wie man treffend ge sagt hat, — nur wr seinen eigenen Kochtopf, sein eigenes wirtschaftliches Wohlergehen. Angesichts dieser , Zersplitterung der Interessen ist daher auch der Aus - ' gang der Wahl höchst ungewiß. Kanzlerrede in Magdeburg. , Die Panzerkreuzerfrage vor dem sozialdemokratischen Parteitag. — Die Opposition gegen di« Koalitions politik. — Magdeburg, 28. Mai. Im Mittelpunkt der Aussprache über den Be richt des sozialdemokratischen Parteivorstandes stan den die Panzerkreuzerfrage und die Koali tionspolitik. In beiden Fragen wurde die Hal tung der Partei von der Opposition aufs schärfste kritisiert. Die Vertreter der sächsischen Sozial demokratie, die von jeher auf dem linken Flügel der Partei steht, bemängelten vor allem, daß die sozial demokratischen Reichsminister nach dem Panzer- kveuzerbeschluß des Reichstags nicht mit der Koalitions- Politik gebrochen hätten und aus der Regierung aus getreten wären. Die Haltung der Minister in der Panzerkreuzerfrage werde im Lande draußen als schwerer Verstoß gegen die Parteidisziplin angesehen. Ein Antrag der Opposition fordert, daß auch die Minister die zweite Rate für den Panzerkreuzer ab lehnen und sich der Fraktionsdisziplin zu fügen haben. Für diesen Antrag wird gleichzeitig nament- ' liche Abstimmung verlangt. Ein zweiter Antrag ds- Opposition fordert sogar di« Zurückziehung der Minister. Im Gegensatz dazu betonten die ehemaligen Reichs minister Soll mann und David, daß man den Ministern eine gewisse Beweglichkeit in der Taktik zu gestehen müsse. Die Minister hätten nach der Ver fassung den Willen der Retchstagsmehrkeit, die zwei- > mal den Bau des Panzerkreuzers beschlossen habe, , auszuführen, auch die sozialdemokratischen Minister, > wenn sie nicht den Weg der Diktatur beschreiten woll- ' ten. Der Redner warnte davor, den Weg der Anträge " der Opposition zu gehen. .Am Dienstag vormittag griff auch ! Reichskanzler Müller , in die Aussprache ein, um seine Politik gegen die , Angriffe der Opposition zu verteidigen. Der Kanzler ! erklärte, die sozialdemokratischen Minister seien viel zu gute Sozialisten, um Freude an der Koalitions politik zu haben. Sie sei aber eine politische Not wendigkeit. Daß nichts erreicht worden sei, sei falsch. Der Kanzler erinnerte dabei an die Beilegung der Aussperrung in der Metallindustrie Nord-West und wandte sich dann gegen die Beschuldigung, er habe seine j im Wahlkampf gemachten Versprechungen über die Ver hinderung des Panzerkreuzerbaues nicht gehalten. Er habe nur gesagt, daß er den Bau des Panzerkreuzers bekämpfe. Man habe ja damals noch gar nicht ge wußt, wie sich der neue Reichstag zusammensetzen würde. Nach den Verhandlungen, die im Juli über die Regierungsbildung gepflogen wurden, sei klar ge worden, daß der Panzerkreuzer gebaut würde. Im übrigen hätten wir, wenn er nicht gebaut worden wäre, angesichts der Lage in der Werftindustrie für die Er werbslosigkeit einen großen Teil der Mittel für den Panzerkreuzer aufwenden müssen. Der Kanzler erinnerte an den folgenden erneu ten ReichStagSbeschlntz für den «an des Panzerkreu zers. „Ich habe damals," so erklärte er, „auf drin gendes verlangen der Araktionsmehrheit mit der Frak tion gegen de» Panzerkreuzerbau gestimmt, obwohl es eigentlich gegen den Sinn und Geist der Weimarer Verfassung ging. Der Kanzler kann in einer Frage von so großer politischer Bedeutung nicht gegen seine eigene Vorlage stimmen. Solche Experimente dür- > fen nicht zu oft wiederholt werden. Es ist ganz z unmöglich, nachdem die Abmachungen für die Große i Koalition getroffen find, davon abzugehen. Bon FraktisnS- «nd Parteidisziplin ist dabei nicht die Rede. Ach bin jederzeit bereit, die Konseauenzen »u zicken. 1 wenn «S verlangt wird. Fch bin aber begannt aK ei» Man», der zu seinem Wort steht. Um die Mi« »istersefsel hat es sich bei u»S nie gehandelt. Da» Maß von Verantwortung eines Ministers ist außer ordentlich groß, «nd ich bi» jederzeit bereit, von diese« Rosenbett herunterzugehen." „Im übrigen" — so schloß der Kanzler — „wenn Sie eine Ministerkrise haben wollen, dann möchte ich Sie dringend im Interesse der Partei bitten, sich einen anderen Punkt auszusuchen. Der Panzerkreuzer lebt heute nicht mehr in der Größenordnung, daß man des halb eine Krise heraufbeschwören könnte. Die Ju gend steht ebenso wie wir auf dem Standpunkt: Nie wieder Krieg! Ein Krieg entsteht aber nicht von heute auf morgen, einen Krieg zu verhindern, ist die Auf gabe der Politik (Zustimmung). Einen Krieg ver hindert man nicht dadurch, daß man die bürger lichen Regierungen allein regieren läßt, sondern man muß versuchen, möglichst starken Einfluß auf die Frie denspolitik zu erhalten." , Uebergang zur Tagesordnung beschlossen. Nach Abschluß der Aussprache wurde der AN» trag, über die Anträge zur Panzerkreuzerfrage uM zur Koalitionsfrage zur Tagesordnung überzugehen, in namentlicher Abstimmung mit 256 gegen 138 StirH, men angenommen. Damit sind die Anträge der OPfW sition, die sozialdemokratischen Minister in der PaA zerkreuzerfrage der Fraktionsdisziplin zu unterstellen I bezw. aus dör Regierung zurückzuziehen, erledigt Industrie und Sachverständige. Erklärungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. Auf Grund von Presseäußerungen über eine an gebliche Abhängigkeit der deutschen Sachverständigen von der Schwerindustrie sieht sich der Reichsverband der Deutschen Industrie veranlaßt, zu erklären, daß die beiden ihm nahestehenden Sachverständigen aus drücklich als unabhängig« Sachverständige — Dr. Bög ler und Dr. Kastl — mit eigener Verantwortung und voller Freiheit der Entschließung von der Reichsregie rung bestellt worden sind und daß di« Organ« de» Reichsverbaudcs der Deutschen Industrie seit Vegi»« der Pariser Verhandlungen niemals de» versuch un ternommen haben, irgendeinen Einfluß auf den Gang der Berhandlangen oder ans die Haltung der Sach verständigen z« nehmen. Es hätten auch keinerlei Aus sprachen unter Hinzuziehung von behördlichen Ber- tvetern stattgefunven. Der Reichsverband der Deutschen Industrie könne und werde zu den Pariser Sachverständigen-Beratun- gen erst dann Stellung nehmen, wenn das Ergebnis endgültig feststeht und die für eine Beurteilung erfor derlichen Unterlagen bekannt geworden seien. Die Pariser Verhandlungen erneut vergebens. Die Sachverständigenkonferenz befindet sich aber mals in der Sackgasse, nachdem ^tch SonNtag und Montag gewisse Einigungsmöglichkeiten abgezeichnet hatten, insbesondere durch die Vorlage eines ameri kanischen Vorschlages. Dolitische Rundschau. — Berlin, den 29. Mai 1929. - Der Reichsminister des Innern hat die Einberufung ver Lurch die Länderkonferenz eingesetzten Unter ausschüsse für Verfassungs- und Verwaltungsreform für den 5. und 6. Juli in Aussicht genommen. — Die 42 Vertreter der Reichspresse, die an der Studienfahrt nach dem deutschen Osten teilnehmen, haben auch der Stadt Memel einen Besuch abaestattet, wo sie von dem Oberbürgermeister und dem litauischen Gouverneur begrüßt wurden. « Dl« Minister lehnen Meißens Einladung ab. Wie verlautet, wird die sächsische Regierung an der Jahrtausendfeier in Meißen nicht teilnehmen. Ebenso haben ihre Zusagen der Reichskanzler und der ReichS- wirtschastsminister zurückgezogen. — Der Grund da für soll darin zu suchen sein, daß die Stadt Meißen kürzlich die beantragte Verleihung des Ehrenbürger rechts an den Reichspräsidenten von Hindenburg ab gelehnt hat. Rundschau im Auslande. k Der Präsident von Lettland hat der schlvedl« schen Regierung in Stockholm einen offiziellen Besuch ab gestattet. k Die Nationalratswahl in Monaco endete mit einem Siege der Liste des Bürgermeisters von Monaco über die des Fürsten. * Der Letter des griechischen LuftvcrteidigungswesenS, General Papathanasiu, verübte anscheinend infolge starker Nervosität Selbstmord durch Erschießen. Neuaufstcllnng Ricklins und RosstS. k Wie aus Kolmar gemeldet wird, wird Dr. Ricklin von neuem bei den ergänzenden Bezirkswahlen in Dam- merkirch, die am nächsten Sonntag stattfinden, kandidieren. Ricklin wurde bekanntlich nach seiner Verurteilung im Kal marer Prozeß als unwählbar und seine Wahl vom Staats- rat für nichtig erklärt. Auch Rossi, dessen Wahl gleichfalls für nichtig erklärt wurde, wird von neuem in Kolmar aufgestellt werden. Unterzeichnung der Lateranverträge. Z Ter König von Italien hat am Montaa die La-