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3 dem die Einbanddecke fehlte und dessen Blätter einen recht mangelhaften Zusammenhang aufwiesen. „Muß doch mal sehen!' Mutter Lienhart gab sich vor sich selbst den Anschein, als ob sie nur höchst selten ihre Zuflucht zu dem Büchlein nehme. In Wirklichkeit war es ihre ständige Gewohnheit, nach der offiziellen Beendigung des Morgenkaffees die mysteriösen Wahrheiten des Büchleins zu erforschen und sich in den Inhalt der schmutzigen Blätter zu vertiefen. Denn jeden Morgen gab es einen Anlaß, wenn auch nicht gerade immer ein solch gravierender Fall vorlag, wie heute. Das mangelhafte Titelblatt war gerade noch zur No» zu lesen. Aegyptifches Traumbuch. DaS allein richtige, untrügliche Traumbuch. Gedruckt von einem der Weisen des Morgenlandes und mit dem Siegel Salomonis versehen. Man lasse sich durch wertlose, falsche und trügerische Traumbücher nicht irreführen! — Allein echt! Wahr! Richtig! Nie versagend! Zuerst schlug Mutter Lienhart unter „Henkel' nach, dann unter „Kaffeetasse', dann unter „Tasse' allein. Da sie aber auch dort nichts fand, runzelte sie leicht die glatte Stirn. Endlich fand sie das Gewünschte. Wie dumm! Natür lich „Zerbrechen'... Zerbrochenes Geschirr... siehe Scher ben... Natürlich kommt es, es mußte ja kommen!... Schafe sehen... Schakale... von Schakalen gefressen wer den... Schatten... im Schatten sitzen... Scherben, Scher ben geben... bedeutet Glück!' „Oh', sagte Mutter Lienhart, „was da noch alles kommen wird! Das ist fein!... Vielleicht heiratet die Grete bald... oder findet einer von uns was unterwegs?' Dann sann sie, und sann, aber ihr fiel um alle Welt nicht ein, was sie heute nacht geträumt hatte. Schließlich vertiefte sie sich aber trotz alledem weiter in das glückverheißende Büchlein. Die Nadel des Gesellen ging allmählich langsamer, und wie wenn die Zunge mit dem Faden im Zusammenhang stände, verstummte auch seine Rede. Von Zeit zu Zett warf er bedeutungsvolle, fragende Blicke nach dem Meister. „Was gibt'S?' fragte Lienhart kurz, als er es bemerkte. „Meister, eS ist neun Uhr.' „So... ? Geht deine Uhr so genau?' „Auf die Minute, Meister.' „Wo hast du sie denn?' sagte er trocken. Aber der Geselle geriet nicht in Verlegenheit, wenn er auch sein tombakenes Chronometer beim nächsten Pfand leiher hatte. Er strich sich mit fünfter Andeutung den Magen und machte ein unschuldiges Gesicht. „Meister, d t e Uhr geht niemals nach. Sie ist ein Erbstück. Von meinem seligen Großvater. Die versetz' ich auch niemals. Und ge nügen tut sie vollständig; denn sie zeig« neun Uhr, zwöls Uhr, vier Uhr und sieben Uhr abends an. Wenn s nicht in der nächsten halben Minute neun Uhr schlägt, oder schon dreißig Sekunden darüber sind, will ich Hans heißen, wie der Lehrbub'.' Lienhart verzog keine Miene. „Wirst wohl noch aus halten.' Aber entweder hatte er selbst eine Uhr im Magen, wie Friedrich, oder vertraute er doch der Genauigkeit in der Zeitberechnung seines Gesellen, kurz, er erhob sich von der unbequemen Holzpritsche, auf der er nach alter und ehr barer Schneidersitte mit gekreuzten Beinen saß, betrachtete liebevoll den schwarzen Tuchrock, dem er gerade den Aermel einsetzte, bügelte ihn sanft mit dem eigenen Aermel glatt und hing ihn faltenlos über einen Kleiderhaken. Während er sich anschickte, die Werkstatt zu verlassen, um droben in der Wohnung sein Vesperbrot zu verzehren, öffnete sich die Tür, und die blonde Grete trat ein. Sie trug zwei Gläser mit schäumendem Bier, ein große- für den Gesellen, ein kleines für den Lehrjungen, und einen Teller mit einem gesunden Stück Schwarzbrot und zwei mächtigen, malerisch ausseheuden Rettichen. „Höchste Bierzeit!' sagte Friedrich, und er nahm die beiden Rettiche an den Schwänzen, während HanS mit hungrigen, verlangenden Augen seinem Beginnen zu- schaute. Grete nahm das nicht weiter übel... „Wer fleißig ist, denkt nicht immer ans Essen!' „Oha! Fehlgeschoflen! Arbeit macht Appetit. Die beiden kommen mir gerade recht.' Und er legte den einen Rettich sorgfältig neben sich, während er den anderen kunstgerecht mit dem Messer bearbeitete. Der kleine HanS machte ein weinerliches Gesicht. Er war erst ein Vierteljahr im Hause, und wagte, dem großen Gesellen gegenüber, nicht den Mund zu öffnen. „Machen Sie keine Dummheiten, Friedrich!' sagte Grete, und nahm ihm energisch den einen Rettich wieder ab. „Da, Hans!' Sie setzte jedem das Bier neben den Platz und den Teller mit dem Brot zwischen beide. Als sie sich umdrehte, gewahrte sie, wie ihr Friedrich schmachtende Blicke zu- wars. „Fehlt Ihnen was? Haben Sie Leibfchmerzen?' fragte sie mit Teilnahme. „Am Ende ist's besser, ich nehme da- Bier wieder mit!' Der Geselle verdrehte schwärmerisch die Augen, und legte die Hand in die Gegend seines Herzens. „Oh, Fräu lein Grete, nicht der Magen schmerzt, es sitzt ein Stückchen weiter oben.' DaS hübsche Mädchen nahm die Erklärung ohne be sondere Freude auf. „Warten Sie, ich bringe einen Spiegel, sonst glauben Sie nicht, wie dumm Sie aussehen!' Damit ging sie zur Werkstatt hinaus, dem Vater nach. Hinter sich hörte sie noch das laute, meckernde Gelächter des Gesellen. — Das war so das tägliche Geplänkel. Als Lienhart langsam und bedächtig die drei ersten der sechs Treppenabsätze zu seiner Wohnung hinaufgesttegen war, vernahm er schon ein gleichmäßiges, andauernde- Murmeln gleich dem eines mäßigen Wasserfalls, das sich steigerte und vernehmlicher wurde, je höher er kam. Miß billigend blieb er einen Augenblick stehen, um zu horchen. Frau Küchlein war eine Meisterin in der Kunst, fließend und doch mit großem Nachdruck und eindringlicher Leb haftigkeit zu erzählen. Das Bächlein ihrer Rede wurde durch nichts unterbrochen, als durch Mutter Lienharts staunende Zwischenrufe. „Tratschen sie wieder. O Weiber! Weiber sind und bleiben Weiber!' Nach diesem weisen Ausspruch setzte der Meister feine Kletterübung fort, und erblickte auf dem letzten Treppen absatz Mutter Lienhart in emsigem Gespräch mit der Nach barin. Mit einem mürrischen Kopfnicken wollte er stch vorbeidrücken zu seiner Wohnung; aber ein letztes Wort der Erzählerin klang ihm in den Ohren nach, so daß er Wider Willen stehenblieb und zuhörte. „Nein, solch eine Menschenmenge vor dem Hause! So was haben Sie noch nie gesehen. Gerade drücken mußt« man sich, um durchzukommen. Sie stehen alle Kopf an Kopf, Männer und Frauen. Man sollte gar nicht glauben, daß es so viel Menschen gibt in der Stadt.' Lienhart trat ein paar Schritte näher. „Ist waS passiert?' fragte er. „Bis jetzt noch nicht, Herr Nachbar. Aber in den nächsten Stunden könnte was passieren, oder schon in der nächsten Viertelstunde, vielleicht ist eL auch schon passiert, was nicht alle Tage vorkommt.' Lienhart ärgerte stch, daß er seine Neugier verraten hatte. Sogleich machte er wieder eine Schwenkung nach links. „Wird was Gediegenes sein ft