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Beilage zur Weitzeritz-Jeitung Mittwoch, am 8. Mai 1929 95. Jahrgang Nr. 196 Der Abrüstungsbankerott. Die Genfer Abrüstungstagung hat einen ziemlich plötzlichen Abschluß gefunden.- Ursprünglich sollte der vorbereitende Abrüstungsausschuß bis zum heutigen Mittwoch tagen, um seine Arbeit wenigstens einiger maßen programmäßig zu erledigen. Anstatt dessen ist man bereits am Montag Hals über Kopf auseinander gegangen, weil der große Wirtschaftsrat des Völker bundes den Ratssaal dringend benötigte, in dem der Abrüstungsausschuß seit Mitte April über die verschie denen Abrüstungsfragen herumdebattierte, ohne jedoch auch nur in einem Punkte zu einem greifbaren Er gebnis zu kommen und an die Lösung des Abrüstungs- Problems ernsthaft heranzugehen. Fürwahr, ein un würdiger Abschluß dieser Tagung, der ganz mit ihren Leistungen im besten Einklang steht. Tatsächlich hat selten eine internationale Körper schaft einen derartigen Bankerott zu verzeichnen ge habt, wie die Abrüstungskommission des Völkerbundes. Darüber können auch alle Verschleierungsversuche nicht hinwegtäuschen, die man in Genf bis zum letzten Tage in Szene gesetzt hat. Die Aufgabe der Abrüstungs kommission sollte bekanntlich in der Vorbereitung eines Abrüstungsplanes bestehen, auf Grund dessen die Ab rüstungskonferenz dann die Beschränkung der Land- und Seerüstungen in Angriff nehmen würde. Das Maß der Abrüstung sollte die Konferenz selbst be schließen, während der Ausschuß die Wege zu einer Herabsetzung der Rüstungen auszuzetgen hatte. Zur Erreichung dieses Zieles hatte Deutschland seine Mit arbeit in weitestem Umfang zur Verfügung gestellt und dem Ausschuß ein fest umrissenes Programm vorgelegt. Im Namen der deutschen Regierung hatte Gras Bern storff in den bisherigen Verhandlungen die Forde rung vertreten, daß folgende vier Kategorien der Land rüstungen in einem Abrüstungsabkommen herabgesetzt werden müßten: 1. Effektive Truppende stände, 2. die gesamten ausgebildeten Reserven, 3. das im aktiven Dienst verwandte Kriegsmaterial, 4. das gesamte lagernde ergänzungsfähige Kriegsmaterial. Der Abrüstungsausschuß hat nun in dem Konven- tivnscntwurf, dessen zweite Lesung zum größten Teil abgeschlossen wurde und die die Grundlage für die Arbeiten der kommenden Abrüstungskonferenz bilden soll, lediglich die Festsetzung von Höchstziffern für die unter den Fahnen stehenden Truppenbestände in Aus sicht genommen. Dagegen sind in dem Abkommen überhaupt nicht berücksichtigt worden die ge samten militärisch ausgebildeten' jederzeit mobilisier baren Reserven, die Festsetzung der jährlich ein zuberufenden Kontingente, die jährliche Dienstdauer, ferner das gesamte lagernde Kriegsmaterial. Da mit sind die Voraussetzungen für einen Angriffskrieg unverändert bestehen gelassen worden. Ebenso hat der Ausschuß die Unterscheidung zwischen ziviler und mili tärischer Luftschiffahrt abgelehnt und damit auch die Luftwaffe als Hauptangriffsmittel unbeschränkt gelas sen. Der Ausschuß hat sich als wesentliches Ergebnis der dreiwöchigen Verhandlungen darauf beschränkt, eine Abrüstung des gesamten Kriegsmaterials lediglich durch Veröffentlichung der Rüstungsausgaben vorzu- ztehen, wobei unerfindlich bleibt, in welcher Weise eine Veröffentlichung der Ausgaben zu einer Herab setzung der militärischen Rüstungen führen soll. Er hat es werter abgelehnt die Vorbereitungen für den chemischen und den bakteriologischen Krieg zu verbieten, während der Gaskrieg als solcher durch das Genfer Protokoll von 1925 verboten wird. Der Ausschuß hat somit gegen die Stimmen Deutschlands, Sowjetrußlands und Chinas einen Kon- ventionsentwurs ausgearbettet, der alle Möglich keiten moderner Rüstungen offen läßt und die moderne Kriegsmaschine zugleich mit den Millionen ausgebildeter Reservisten als die beiden entscheidenden Faktoren Der Rüstungen unbeschränkt läßt. Es be steht nicht der geringste Zweifel mehr, daß die gro ßen und kleinen schwer gerüsteten europäischen Mächte Vie kommende .Abrüstungskonferenz lediglich als ein Mittel für eine offizielle und internationale An- Chronik des Tages. — Der ehemalige rumänische Außenminister Titulescu wurde vom Reichspräsidenten empfangen. — Die Reichsregierung will durch einen Sachverständi- gen-Ausschuß Richtlinien für eine Umgestaltung des Ar- beitslosenversicherungsgesetzes ausarbeiten lassen. — Die neue -thüringische Negierung mit den beiden Ministern Dr. Paulßen und Dr. Riedel sowie fünf Staats räten ist vom Landtag mit drei Stimmen Mehrheit ge wählt worden. — Der Hamburger Senat hat den Rotfrontkämpfer bund für das Hamburger Staatsgebiet verboten. — Das Magdeburger Kommunistenblatt „Die Tri büne" ist auf drer Wochen verboten worden. Ein Demon strationszug gegen das Rotfrontverbot wurde von der Poli zei aufgelöst, wobei infolge Widerstandes der Demonstranten vom Gummiknüppel Gebrauch gemacht werden mußte. — Die Leiche des verstorbenen Obersten Bauer soll in Schanghai etngeäschert werden. Die Äsche wird nach Deutschland gebracht. — Am Dienstag, dem 79. Geburtstage des Wirklichen Geheimrats Dr. Harnack wurde in Berlin-Dahlem durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das Harnack-HauS feierlich einaeweikt. — In Glatz wurde der 26 Jahre alte Schmiedege selle Tietze wegen Raubmordes zum Tode verurteilt. — In Brüssel ist im Krankenhause von Saint Jean ein Pockenfall festgestellt worden. Alle Vorbeugungsmaß nahmen sind getroffen. Das ganze Personal ist geimpft worden. — Beim Absturz eines französischen Bombenflugzeuges in der Nähe von Bourges kamen 5 Personen ums Leben. erkennung ihres gegenwärtigen Rüstungs- i st an des erblicken. Der vorbereitende Abrüstungsausschuß wird zu ! seiner Schlußtagung entweder November dieses oder März des nächsten Jahres zusammentreten. Die wei- , tere Entwicklung der Abrüstungsfrage hängt heute in erster Linie von den großen Seemächten ab. Die Zwi schenzeit bis zur nächsten Tagung wird mit fortlaufen den streng geheimen diplomatischen Verhandlungen zwi schen den großen Seemächten angefüllt sein. Die Grundlagen dieser Verhandlungen werden die neuen amerikanischen Vorschläge bilden. Ob ein Ausgleich i zwischen den großen Seemächten in dieser für sie macht- ! politisch entscheidenden Frage Möglich ist, muß ab- f gewartet werden. Sollte eine Einigung zustande kom- f men, so könnte mit dem Zusammentritt der ersten Abrüstungskonferenz im Laufe des Jahres 1930 ge rechnet werden. Mit der Verwirklichung der Abrüstung hat es also noch gute Weile. Nach dem Verlauf der bishe rigen Verhandlungen darf man überdies auch von der Konferenz herzlich wenig erwarten, vielmehr muß man befürchten, daß die ganze Arbeit der Abrüstungskon ferenz letzten Endes darauf hinauslaufen wird, das gegenwärtige Rüstungsverhältnis in der Welt und im Völkerbund und unter dessen Garantie festzulegen. Diesen Weg wird aber Deutschland niemals mitmachen und, wie Gras Bernstorff in Gens deutlich erklärt hat, die Verantwortung für diese Wendung den anderen Mächten überlassen. Attentat auf Woldemaras. Nach einer ergänzenden Meldung handelt es sich nicht um einen, sondern um drei Attentäter, die auf Woldemaras und seine Begleiter.insgesamt 7 Schüsse abgaben. Der Adjutant des Ministerpräsi denten hatte sich mit ausgebreiteten Armen vor Wolde maras gestellt, als die ersten Schüsse fielen. Die Klei der der Frau des Ministerpräsidenten wurden von zwei Kugeln durchbohrt. Der Adjutant des Kriegs ministers, Hauptmann Virbickas, ist so schwer verletzt worden, daß an seinem Auskommen gezweifelt wird. Er hat das Bewußtsein bis jetzt noch nicht wieder erlangt. Nach einem anderen Bericht dagegen, soll er bereits außer Lebensgefahr sein. Als er von den Schüssen getroffen zusammenbrach, rief er aus: „Die haben Polnisch gesprochen!" Der kleine Nesse des Ministerpräsidenten, der drei Bauchschüsse und einen Beinschuß erhielt, wurde in der Nacht einer Operation unterzogen, die erfolgreich ver laufen ist. Man hofft ihn am Leben zu erhalten. Die Täter sind in der allgemeinen Panik, die in dem stark belebten Park vor dem Staatstheater ausbrach, unerkannt entkommen. Die Polizei sperrte sofort den Platz vor dem Theater ab und nahm eine Durch suchung des angrenzenden Geländes vor. Hierbei wur den noch zwei scharfgemachte Handgranaten und Mu nition gefunden, die allem Anschein nach von den Attentätern herrühren. Die angesetzte Theatervorstel lung wurde abgesagt. Bis in die späten Abendstunden hinein durchrasten Autos mit Offizieren und Polizei besetzt, die Stadt. Wie verlautet, sind alle nach Kowno führenden Straßen abgesperrtt Die Leibwache in der Wohnung des Ministerpräsidenten ist erheblich ver stärkt worden. Im Laufe der Nacht wurden etwa 15 Personen verhaftet, doch scheinen sie mit der Tat nicht im Zusammenhang zu stehen. Auch eine Reihe Haus suchungen wurde vorgenommen. In der Presse wird die Vermutung ausgespro chen, daß bei diesem Anschlag Angehörige der Emi grantenkreise ihre Hand im Spiele hatten. Im Zu sammenhang mit dem Attentat weisen die Blätter in Riga daraus hin, daß erst kürzlich in Schaulen ein aus dem Wilnagebiet eingetroffenes Automobil au gehalten wurde, in dem die litauische Polizei Hand granaten und Revolver fand. Die Insassen erwiesen sich als Pletsch kaitis-Anhänger, die offensicht lich beabsichtigten, in Litauen Terror Handlungen zu begehen. Die Blätter weisen auf die Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart Woldemaras' hin, der seinen schwerverletzten siebenjährigen Neffen selbst in das Theaterfoyer trug. Scharfe Ueberwachung der Grenze Ein Vertreter der deutschen Gesandtschaft hat sich f noch im Laufe der Nacht zu Woldemaras begeben und ihm die Teilnahme der deutschen Regierung aus- gesprochen. Woldemaras hat, wie verlautet, die Ver- j mutung ausgesprochen, daß bei dem Attentat Litauer i wie auch Wilnaer Terroristen die Hand im Spiele hätten. Da mit der Möglichkeit gerechnet wird, daß die Attentäter über die deutsche Grenze zu entkommen suchen, ist noch in der Nacht die deutsche Grenzpolizei > verständigt worden, die alle Vorkehrungen zur scharfen Ueberwachung der Grenze getroffen hat. Reform der Arbeitslosenversicherung. ! Aufstellung eines Sofortprogramms. ! Halbamtlich wird mitgeteilt: „Das Reichskabinett beschäftigte sich in seiner Montagssitzung mit der Frage der Einführung von Reformen aus dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung. Es wurde dabei die Abstel lung der Uebelständ« ins Auge gefaßt, welche sich in . der Praxis seit Inkrafttreten der Arbeitslose nversi- i cherung lierausgestellt haben. Hierbei wurde jedoch fest- ! gestellt, daß es mit der Beseitigung dieser Unzuträg- ! lichkeiten allein nicht sein Bewenden haben kann. > Die Finanzlage des «eiche» ist so ernst, daß di« Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln im bi». yertgen Ausmaß vollkommen unmöglich ist «std ssiß über die schon im Haushalt bereügestelttcr» Mittel hinaus nur im Falle ganz außergewöhnlicher «reis« nlsse rechtfertigen läßt. Da» Reichskabinett mar dachet der Meinung, daß eine Aendcrung der Arbeitslosen» Versicherung auch auf die Finanzlage des Reiche» «st« sicht nehmen nmß. Die Reichsregierung wird in Form eines Gesotz« entwurfes ein Sofortprogramm über di« Ab« stellung von Mißständen ass dem Gebiete der Air« beitslosenversicherung aufstelleu und außerdem einen Ausschuß von SachverftSndtgeu einsehen, mit dem in größter Beschleunigung Richtlinien für eine Umgestaltung des Arbeitslosenversicherungs« gesetzes erörtert werden sollen." Die deutschen Vorbehalte. Völlige Beseitigung der Sonderpfäuder. Angesichts der bevorstehenden Entscheidung in Pa» ris wird in Berliner politischen Kreisen nochmals dar« aus hingewiesen, daß der Schwerpunkt der deutschen Vorbehalte zu dem Youngschen Lösungsvorschlag auf der Frage der völligen Befreiung von der finanzpoli tischen Fesselung liegt. Mit dieser Fesselung ist vor« nehmlich die Beseitigung der Sonderpfänder gemeint, nämlich der industriellen Belastung, der Reichsbahn« Pfänder, der Branntweinsteuer usw. Falls die alli ierten Sachverständig» in ihrer Gesamtheit aus diese deutschen Forderungen eingehen werden, dürften alle Aussichten bestehen, daß die Konferenz noch zu einem positiven Ende führen wird. Nach Pariser Pressemeldungen sollen sich die deuta schen Vorbehalte außerdem noch auf folgende Punkt» beziehen: 1. Aushebung der Kontrollkommissionen: 2. Abschaffung -es Reeoverh-Acts, wonach di« Alli ierten von der deutschen Einfuhr eine 26prozentlge Ein fuhrabgabe erheben können; 3. die Möglichkeit für das Reich, die Revision de» Zahlungsplanes zu verlangen; 4. Anrechnung der Schuldenermätziaung, di-e die Vereinigten Staaten unter Umstanden den Alliierten zu Gunsten des Reiches zugestehen sollten; 5. die Möglichkeit, bei dem größten Lell der Jahres zahlungen den Transferschutz in Anwendung zu bringen. Die Bilanz des 1. Mai. 24 Todesopfer der Maiunruhen. — Bisher 48 Haft befehle wegen Aufruhrs. — Haussuchungen in ganz Preußen. Nach einer amtlichen Zusammenstellung sind bei )en durch die Demonstrationen der Kommunisten ver ursachten Unruhen in Berlin insgesamt 23 Personen, and zwar 18 Männer und 5 Frauen, durch Schüsse ums Leben gekommen. Dazu kommt noch ein Todesfall nährend eines Tumultes aus dem Alexanderplatz, wo rin Passant unter ein Polizeiauto geriet. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft fand die Obduktion der Leichen von acht Opfern der Mai- unruhkn statt. Die Leichen wurden nach der Sektton >ur Beerdigung freigegeoen. Bet einigen der Leichen sand man Kugeln im Körper, die einem Schießsach- serständigen zur Klärung der Frage übergeben mor sen sind, von welcher Seite die Schüsse abgegeben wurden. Der Untersuchungsrichter hat bisher gegen 45 Personen, die unter dem Verdacht der Beteiligung rn den Maiunruhen vorgeführt wurden, Haftbe- fehle wegen Verdachts des Aufruhrs, Landfriedens- Bruchs und Widerstandes gegen die Staatsgewalt er- lassen. Im Verfolg des gegen den Rotfrontkämpfer- Sund gerichteten Auflösungserlasses wurden in ganz Severing über Notfront. Der NeichSinnenminister verteidigt das Berbo». Im Haushaltsausschuß des Reichstags beschäftigte sich Reichsinnenminister Severing eingehend mit den Maiunruhen in Berlin und dem damit zusammen hängenden Verbot des RotfronMmpferbundes. Der Minister erklärte, je näher der 1. Mai herangekommen sei, desto deutlicher sei zu erkennen gewesen, daß die Kommunistische Partei eS darauf anlegt«, zu einer Kraftprobe zwischen sich und dem Staate zu gelangen. In Flugblättern sei dazu aufgefordert worden, auf dem Alexanderplatz und auf dem Potsdamer Platz für ein Rätedeutschland und für die Welt-Dik tatur des Proletariats zu demonstrieren. Wir leben, so fuhr der Minister fort, doch «och nicht in« Rätedeutschland, und wenn die Kommunisten gegen ein verbot im heutigen Deutschland demonstrieren, so hat der Staat nicht nur da» Recht, sondern auch di« Pflicht, sich dagegen zu wehren. Ich bi« erfreut darüber, daß die Polizei sich auch als eine wirksame Waffe gegen de« Bürger krieg erwiesen hat. Wen« heut« von einem „Arbeitermord ver Trabanten Zörgiebels" gesprochen wird, so stehe Ich nicht an, zu erklär««, daß wir die Tätigkeit der Ber liner Pollgei hoch anerkenne« «nd es bedauern, wen« ihre Tätigkeit nachträglich herabgesetzt wird. Dari« Ist natürlich niK ein« bttnde Entschuldigung stir etwaige Mißgriffe eingeschlossen. Die Schuld stir etwaige Entgleisun gen trifft die intellektuellen Urheber dieser Vorgänge, trifft die Kommunistische Partei. * Rotfront-Verbot auch in Hamburg. Der Hamburger Senat hat sich dem Vorgehen Preußens angeschlossen und den Roten Frontkämpfer- Bund sowie die Rote Jungfront und die Rote Marine für das hamburgische Staatsgebiet aufgelöst und ver boten.